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Küsse für Butzemännchen
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eBook342 Seiten5 Stunden

Küsse für Butzemännchen

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Über dieses E-Book

Burkards Susanne, der bunte Hund im sächsischen Euba, angeblich auf der Kirchenschwelle abgelegt, will Kindern wie Erwachsenen beweisen: Sie ist trotzdem wer. Augen hat sie zu sehen, Ohren zu hören. So bekommt das Kind Grausames und Komisches mit, das sich in den Kriegs- und Nachkriegsjahren zuträgt. Susanne wird selbst tief in das Geschehen verwickelt, erbeutet Munition und Nahrung. Ich bring dir schon!, sagt sie zur Mutter. Der Vater ist im Krieg und wird danach in ein sowjetisches Lager abtransportiert. Als man 1990 ein Massengrab im Mecklenburgischen Fünfeichen entdeckt, wird die jetzt 52-Jährige zutiefst erschüttert.
Die Kindheit, in der sie voller Sehnsucht nach dem Vater lebte, bricht auf. In den Feldpostbriefen vergaß er nie: Viele Küsse für mein Butzemännchen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Feb. 2015
ISBN9783738013740
Küsse für Butzemännchen

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    Buchvorschau

    Küsse für Butzemännchen - Beate Morgenstern

    1

    Ein Schlag wie ein Stromstoß, ausgelöst von einem Namen, in der Aktuellen Kamera genannt, den Halb-acht-Uhr-Nachrichten des Fernsehens der DDR. Fünfeichen, hatte der Gutsbesitzer Dressel damals gesagt, hatte - den eigenen nahen Tod vor Augen - nicht geschwiegen, Nachricht gegeben vom Weg, den er gemeinsam mit dem Vater von Anfang an gegangen war, Bautzen, eine polnische Domäne, Graudentz, zuletzt Fünfeichen, ein kleines Lager des NKWD und das nördlichste der dreizehn in der sowjetischen Besatzungszone. Die Mutter und Susanne wussten von nun an, wann der Vater an Hunger und Entkräftung gestorben war und wo. 43 Jahre tot. An einem Märzabend 1990 wiedererstanden: Kameraschwenks über ein Waldstück. Eichen, noch nicht so kräftig, ein Anemonenfeld. Gräben durch dieses Feld gezogen, menschliche Skelette freigelegt. Bekannt die Bilder, mit denen war man aufgewachsen. Sie hatten das Volk der DDR warnen sollen: Nie wieder! Die Bilder betrafen Konzentrationslager der Nazis, Massengräber der von ihnen Hingerichteten. Es durfte nicht laut werden, dass in denselben Lagern auch nach 45 gestorben wurde. Leute, die abgeholt worden waren. Nazigrößen weniger, die waren in der Regel westwärts geflohen. Über Schuld mehr oder minder befand kein Gericht. Ein Hinweis genügte, von einem missgünstigen Nachbarn zum Beispiel, von einem, der seine eigene Haut retten wollte. Das war bis 45 so, das war danach nicht anders. Ein Leben lang Schweigen. Andeutungen nur zu Freunden. Dann Rechtfertigungszwang. In der NSDAP sei er wohl gewesen. Doch von der Verwandtschaft gedrängt wegen des Geschäfts. Alle Inhaber großer Geschäfte im Ort waren eingetreten. Und nur vier Wochen Zellenleiter. Obwohl schon 38 Jahre alt und ohne militärischen Rang, wurde er gleich am Anfang des Krieges einberufen, als habe man ihn weg haben wollen, als hätte er Feinde im Ort gehabt, wie die Mutter vermutete. Übrigens sei er trotz eines für eine Offizierslaufbahn ausreichenden Bildungsgrades bis zuletzt Gefreiter geblieben. Schreibstubenhengst. Und hätte ein Nazi wohl ein Mädchen jüdischen Namens adoptiert? Genaues über ihre Herkunft könne sie nicht nachweisen. Die Mutter hätte dem Vater alles überlassen oder absichtlich vergessen. Sie sagte nur, er habe unbedingt Susanne haben wollen, die damals noch klangvoll Susanna hieß. Auch die Frau, die Susanne zur Adoption freigegeben hatte, wollte oder konnte nicht sprechen. Vielleicht funktionierten noch alte Verdrängungsmechanismen. Sie verwies auf ihren 1926 nach Amerika ausgewanderten Bruder Georg, der hätte mit Susannes Vater verhandelt, war eigens wegen ihrer Geburt und Adoption noch einmal nach Nazi-Deutschland zurückgekehrt. Im Übrigen hätten sich die drei Männer der Familie - Susannes Großvater und die beiden Brüder - vor Georgs Auswanderung um die eventuelle Bereinigung der Dokumente gekümmert. Ein einziges kleines Zeichen ließ Susanne glauben, dass ihre jüdische Herkunft mehr als eine Vermutung war: ein kleiner Davidsstern, den der amerikanische Onkel Susanne in einem winzigen Päckchen zuschickte, als sie erwachsen geworden war. Er bekräftigte des Vaters Unschuld. Die Freunde hörten Susanne zu, schienen zu glauben. Einmal sprach jemand aus, was andere möglicherweise auch dachten: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Susanne hatte verdrängt, mühsam die Erinnerung weggeschlossen. Nun war sie nicht mehr zu kontrollieren, brach heraus. Die Hände krampften, die Zähne schlugen aufeinander. Sie hörte sich laut schreien. Es war ihr, als risse es sie auseinander. Tränen stürzten, flossen unaufhörlich. Sie hustete. Die Luft blieb ihr weg. Viele Jahre diese Träume: Unter Leichenbergen wacht sie auf, kann sich nicht von den auf ihr liegenden Toten befreien, bekommt kaum Atem. Susanne setzte die Flasche an. Der Rum würgte sie, sie röchelte, schnappte nach Luft, fiel über den Tisch, rutschte zu Boden.

    Das Licht tat weh. Werkstattgeräusche vom Hof her, Hämmern gegen Metall. Ein Hund schlug an. Mittag war es wohl. Morgens hatte sie sich aufs Rad gesetzt, lieber einen Sturz in Kauf nehmend, als die Allee an den S-Bahngleisen hinunter zu laufen zum Kiosk am Bahnhof. Sehen wollte sie, ob sie sich vielleicht getäuscht hatte, und die Bilder abends zuvor in der Aktuellen Kamera waren in Wirklichkeit nur durch die Erinnerung vorverlegte Albträume der Nacht. Doch sie hatte sich nicht getäuscht. Die Zeitungen waren voll von Fotos der Art wie in der Nachrichtensendung. Dieselben Zeitungen, dieselbe Nachrichtensendung berichteten von dem, was sie immer verschwiegen hatten. Das allein war schon ungeheuerlich, nicht zu glauben, zeigte eine Zeitenwende an, die sie nur in den Endvierzigerjahren, allenfalls in den Fünfzigern, für möglich gehalten hatte. Mit Staunen, mit Angst reagierte sie. Umbruchzeiten erforderten Kraft. Sie hatte keine mehr, schon lange nicht. Lebte gerade so. Medikamente ermöglichten ihr eine erträgliche Situation. Nach Gleichmaß, Sicherheit verlangte es sie. Stattdessen beunruhigten sie Wahrheiten. Was kam alles ans Tageslicht, was man nicht gewusst, was man gewusst hatte! Nun wurde auch das Grab geöffnet, das Massengrab, in dem sie nächtelang statt des Vaters oder mit ihm begraben gelegen hatte. Oder sie lag unter jüdischen Häftlingen, hatte sich ein Was-wäre-wenn-Schicksal ausgeträumt. Irgendwie war sie zurück in ihre Wohnung gekommen, war nicht über die von Wurzeln der alten Linden angehobenen Gehwegplatten gestürzt. Sie hatte die Zeitungen auf dem Tisch ausgebreitet, wieder zur Flasche gegriffen, trotz ihres Bluthochdrucks. Das konnte ihr Ende sein. Egal. Susanne versuchte, sich auf die Beine zu stellen. Wie zwei Stelzen, wie zwei Dinger aus Holz, dachte sie, als es ihr gelang. Sie tappte zum Fenster, öffnete es. Die saubere Märzluft schlug sie zurück ins Zimmer. Sie fand sich auf dem Boden heulend, an allen Gliedern schlotternd. Taumelnd richtete sie sich wieder auf, wusste nichts Besseres als die Flasche. Die würde ihr zu weiterer Bewusstlosigkeit verhelfen. Eine Erinnerungsflut setzte ein, überschwemmte sie, riss sie mit sich fort in eine vergessene Zeit, in eine vergessene Geschichte. Was ging sie diese Geschichte an, was gingen sie die Geschichten an! Der Vater lange tot, die Mutter seit drei Jahren. Was war mit ihr los, dass die Gegenwart entschwand, sich auf einfache Mechanismen wie Essen, Trinken und so weiter reduzierte? Als wäre die Erwachsene nur Mantel, nur Hülle für das Kind, als das sie sich nun erlebte. Wenigstens war sie dem Schicksal nicht so ausgeliefert wie einst, erhielt von dem Kind etwas Vorauswissen, was jedoch die Intensität des Erlebens nicht minderte:

    Die Ladenglocke bimmelt. Frau Boehm & Burkard, ruft es, auf und zu geht die Küchentür. Am Fenster klopft es. Rosie öffnet. Jaja, ich frach mal, sagt sie, ruft: Frau Boehm & Burkard! Schon steht die Mutter wieder in der Küche. Das kenntn Se aber wissn, im zweeten Laacher ganz hindn!, erklärt sie zum Fenster hinaus dem Hofarbeiter. Machs Fenster zu, is kalt, Rosie, sagt sie. Und dass de Suppe nich anbrennt und dass mir das Nannchen keene Dummheitn nich macht! Vor Rosie war ein anderes Mädchen da. Kornblumenblau!, sang sie immer. Ssss, macht die Stubenfliege Monika, kreist am Fenster. Fliege, wenn ich dich kriege, reiß ich dir die Beine aus, dann kommst du in ein Krankenhaus, singen die Kinder. Der Stubenfliege wird kein Bein ausgerissen. Den ganzen Winter hat sie mit Zuckerwasser überlebt, wird im Haushalt respektiert, denn sie ist Susannes Freundin, die einzige. Von ihrem hohen Kinderstuhl in der Fensterecke unter dem schwarzen Radio, der Goebbelsharfe, hat Susanne den Überblick. Mittags wird der Kinderstuhl an den Tisch gerollt. Essen gibt es für Susanne, für die Mutter, Rosie, Frau Landmann und die zweite Verkäuferin, für die beiden Hofarbeiter und eine Tochter vom ehemaligen Hofarbeiter Mikoleit, den man entlassen musste. Doch was können die Kinder für den Vater. Deswegen sitzt eine Tochter Mikoleit mit am Tisch. Die einen werden in Susannes Geschichten etwas mehr zu tun kriegen, die anderen weniger. Der Mikoleit-Vater bekommt eine Rolle im Hintergrund. Doch bis er seine Rolle in Susannes Leben spielt, vergehen noch Jahre.

    Die frühesten Erinnerungen hängen mit dem Essen zusammen. Mit Susannes Ungeschick, sie stößt die Tasse Kakao an, die fällt um, der Kakao ergießt sich über die Wachstuchdecke der breiten Spielfläche ihres heruntergeklappten Kinderstuhls. Kopfnüsse setzt es. Und weil das gar nichts nützt und Susanne nun auch noch mit der falschen Hand zuzugreifen beginnt, geht die Mutter ins Lager. Susanne hört etwas rasseln, hört, die Mutter nimmt etwas Schweres vom Haken.

    Es ist ein Ochsenziemer, eine Peitsche mit vielen dünnen Lederriemchen. So, damitte weeßt, was in Zukunft passiert, das is kee Spaß, denke das nich! Die Mutter hebt den Arm. Die Lederriemen fallen auf Susanne herunter, erst mal nur sacht.

    Mit dem Essen hat auch die andere Erinnerung zu tun, und zwar mit Susannes Unvermögen aufzuessen. Ein Löffel für Vadi! Der Vati ist im Krieg, der soll bekommen. Ein Löffel für Oma. Die liegt immer im Bett, soll auch bekommen. Ein Löffel für Rosie! Soll auch die ihren Löffel abhaben. Ein Löffel für Frau Landmann. Der schönen Frau Landmann kann Susanne nichts abschlagen, obwohl der Grießbrei in ihrem Mund quillt, mehr wird statt weniger. Einen Löffel für Muddi! Susanne brüllt, will auch von der zweiten Verkäuferin nichts wissen und von den Hofarbeitern nicht und der Mikoleit-Tochter nicht. Susanne brüllt, die Mutter stopft. Was aufn Teller kommt, wird aufgegessen, wo gibs'n so was. Annere Leute hungern! Susanne wird gleich allen Brei wieder herausbringen. Sie ist ganz sicher, sie kann nicht mehr, schiebt den Teller mit Gewalt von sich. Wuch, unten liegt er, liegt auf dem Boden, wo er hingehört. Oho! Ich sperr dich innen Keller! Susanne denkt: abwarten! Lassen Sie doch das Kind! Frau Landmann mischt sich ein. Da wird die Mutter erst richtig wütend. Einfach den Teller runterschmeißn mitm gudn Essen? Das soll icher durchgehn lassn? Die Mutter zerrt sie am Kragen aus der Küche, die halbe Treppe hinunter. Susanne wehrt sich, klammert sich an jede Geländerstange. Die Mieter aus dem Haus schauen die Treppe hinunter. Die Mutter muss sich gegen zwei Parteien verteidigen, gegen das Kind und gegen die Hausbewohner. Sie hat was zu beweisen. Sie ist die Besitzerin. Bei jeder Gelegenheit demonstriert die Tochter eines Bauchwarenhändlers ihre Macht. Eine gute ist Burkard-Gerda nicht, ihre Mutter, jetzt bettlägerig, war erst recht keine gute, und selbst von Tante Else, der 17 Jahre älteren Schwester der Mutter, wird ihr später nichts von Gutherzigkeit berichtet. Dass de ja nich denkst, du kommst innen Lattenkeller, sagt die Mutter, innen Kohlenkeller kommste. Susanne zuckt zusammen. Im Kohlenkeller ist es mitten am Tag schwarzdunkle Nacht. Und schwarzdunkle Nacht hat man zu fürchten mehr als alles sonst. Geht die Mutter abends mit Susanne, sagt sie: Da langt ja gleich eener ausm Hinterhalt. Oder: Da denkt mer doch, glei kommt eener hinterm Boom vor! Die Mutter fürchtet sich und lehrt Susanne das Fürchten. Susanne hat eine Vorstellung von dem, der ihnen überall auflauert. Ein Mann ist es, zieht einen mit einem Würgegriff für immer hinein in die Dunkelheit, macht, dass man aufhört zu sehen, aufhört zu hören. Susanne will sich losreißen. Die Mutter packt sie, wirft sie von sich wie eine Katze, holt schnell die Tür heran, schließt sie ab. Susanne trommelt gegen die Bretter. Bald ist es aus mit ihr. Hörte sie ihre Stimme nicht, würde sich ihr Körper in der Nacht vielleicht auflösen. Kaum bekommt sie Luft. Aber schreien, schreien muss sie. Stimmen, miteinander streitende Stimmen, nähern sich. Susanne nimmt dies als Nebengeräusch zur Kenntnis, als sei Rettung nicht mehr möglich. Die Tür wird aufgeschlossen. Danke, danke! Susanne fällt vor der Mutter auf die Knie. Ich will mich bessern, ich will mich ja bessern, verspricht sie, streichelt ihre Erlöserin. Machste das noch mal? Nein! Immer wird Susanne alles aufessen! Hand in Hand gehen Mutter und Tochter zurück in die Wohnung. Alles ist gut, denkt Susanne. Den nächsten Teller Grießbrei am nächsten Tag oder zur nächsten Mahlzeit wird sie essen, wenn sie auch schon gar nicht mehr kann.

    Etwas geschieht, das Susanne außer Fassung bringt: Die Mutter setzt ihr gleich einen Teller mit Brei vor, begeht damit in Susannes Augen Verrat. Stumm sitzt Susanne vor ihrem Teller. Die Mutter räumt das Essen ab, geht ins Lager. Susanne hört, dass sie etwas Schweres vom Haken nimmt, hat sich das Geräusch eingeprägt. Aller Widerstand bricht zusammen. Nich beesen, nich beesen!, ruft sie. Noch einmal lässt es die Mutter bei einer Drohgebärde bewenden, lacht über das sich ängstigende Kind, wird es später immer wieder erzählen. Susanne braucht sie es nicht zu erzählen. Die erinnert sich gut, weiß, was sie in dieser Stunde entdeckte: In der ganzen Wohnung ist es unruhig, überall sind Menschen. Plötzlich fürchtet sie die Menschen, die hin und her durch die Wohnung laufen. Ein dauerhaftes Gefühl davon, nirgendwo ein Zuhause, eine Zuflucht zu haben, bemächtigt sich ihrer. Auf der Suche nach einer Zuflucht findet sie endlich eine Tür im Kontor, gerät in ein Zimmer, das sie noch nicht kennt: die Gute Stube. Stundenlang sitzt sie unter dem Schreibtisch, mucksmäuschenstill. Oder sie verkriecht sich im Lager, wo man sie kaum findet. Da hat es sie schon immer hingezogen. Sie steigt in die Kisten, Kasten, schläft manchmal in der dämmrigen Ruhe ein. Spätabends wundern sich die Erwachsenen, weil das Kind gar nicht wieder auftaucht. Sie gehen das Lager ab, die Regale, stoßen manchmal in großer Höhe auf das schlafende Mädchen. Wie isse da bloß naufgekommen?, wundern sich die Erwachsenen. Eine bemerkenswerte Leistung, meinen sie. Die Mutter ist stolz.

    Bald geschieht etwas noch Bemerkenswerteres. Warum die Dreijährige losgezogen ist, darum macht sich die Mutter keine Gedanken, da sie ja mit militärischen Ehren zurückgebracht wurde. Susanne erkundet zum ersten Mal Fluchtmöglichkeiten. Einen Plan hat sie nicht. Sie will sich lediglich der Mutter entziehen, geht zur Hoftür hinaus und immer weiter durch Euba hindurch. Langt an der Ortsgrenze der Kleinstadt an, was ein ganzes Stück Weg bedeutet für ein kleines Mädchen, das sich mit dem Laufenlernen viel Zeit nimmt. Ein Bauer fährt mit seinem Wagen an ihr vorbei. Wo willst'n hin?, fragt er. Mit einem Mal fällt Susanne ein, dass sie mit der Mutter hinüber in den anderen Ort gefahren ist. Die Mutter zeigte ihr das Haus, in dem sie früher mit der Oma gewohnt hatte. Zur Oma!, sagt Susanne schlau und glaubhaft. Der Bauer lässt das Kind auf den Kutschbock hinauf, liefert sie im Kilometer entfernten Dorf vor dem Haus der Oma ab. Susanne läuft hierhin, dahin, verkringelt sich, weiß nicht mehr, wo sie ist. Was sie nicht ängstigt. Ein großes Gut sieht sie, spaziert hinein, weiß nun, sie befindet sich im Rittergut. Dort ist Kavallerie einquartiert. Die Soldaten lachen. Einer erzählt es den anderen: Die Burkard-Nanne! Die Tochter von Boehm & Burkard. Susanne hat ihre Erwartungen. Manchmal kutschiert die Tochter vom Gutsbesitzer mit ihrem Kutschwägelchen nach Euba hinüber. Jungsschnitt und Jungssachen trägt sie, weil der Vater lieber einen Sohn gehabt hätte. Vielleicht bringt das Mädchen sie mit ihrem Wägelchen nach Hause. Der Herr Major erscheint. So klein Susanne ist, mit Rangabzeichen kennt sie sich aus. Der Herr Major lässt die Kavallerie antreten, Reiter samt Pferden. Susannes Begeisterung beginnt. Und keine Grenzen kennt diese mehr, als der Major aufsitzt und Susanne zu ihm aufs Pferd gehoben wird. Die Kavallerie reitet aus. An der Spitze der Major mit dem einzigen Schimmel, auf dem Sattel vor ihm Susanne. Hoch zu Ross hält sie mit dem Major Einzug in Euba. Man hat das Jahr 1941. In Euba herrschen quasi noch Friedenszeiten. Die Eubener staunen: Die Tochter vom Boehm & Burkard, die Burkard-Nanne, nei, so ein Mädel! Am Bahnhofsvorplatz im Laden der Mutter werden die Leute schließlich ebenfalls aufmerksam. Frau Beem un Purgert, guckn Se doch mal, wer da kommt! Die Mutter hat ihre Augen bei den Waren, bei den Kunden, kann weiß Gott nicht nach draußen schauen, obwohl die großen Schaufenster einen Blick bieten. Nun aber sieht sie auf. Ach de Kafallerie vom Rittergut, sagt sie. Dann erst bemerkt sie das kleine Mädchen hoch zu Ross, und noch einen Augenblick später erkennt sie in ihm ihre Tochter. Die Kavallerie hält auf dem Bahnhofsvorplatz an. Ein Soldat sitzt ab, hebt Susanne vom Schimmel. Mit der wern Se noch was erlehm, ei nee, son intelligendes Kind! Die Leute können sich nicht genug tun, Susanne zu bewundern und die Mutter zu beglückwünschen. Susannes Abenteuer hat ein Ende. Es wiederholt sich nicht, so sehr Susanne sich auch bemüht. Der Weg zum Rittergut bleibt unauffindbar.

    De Fallsucht hat se, seufzt die Mutter, meint die Hinfallsucht ihrer Tochter. Beschwerlich ist Susanne das Laufen. Am liebsten lässt sie sich deshalb fahren, das ist auch den jungen Mädchen, die sich mit Kinderhüten ein wenig Geld verdienen, bequem. Sie schieben Susanne mit ihrem eng gewordenen Sportwagen in die nahen Anlagen, die Grünanlagen des Bahnhofsvorplatzes. In den Zwanzigerjahren war hier noch freies Gelände. Dem Boehm-Otto, seinem Schwager, verdankt der Vater den billigen Grundstückskauf im heutigen Zentrum der Stadt. Boehm-Otto hatte seine Quellen im Schützenverein. Mit dem Bau des Bahnhofs wollten sich die Eubener nicht lumpen lassen. Baufreiheit war. Und so hat man als Bahnhofsvorplatz einen kleinen Park angelegt mit Trauerweiden, einer Allee Rotdorn, Pappeln, Linden, Eichen wachsen im Park sowie eine Rotbuche. Man hat Rondells geschaffen und um die Parkbänke Rabatten angelegt mit Primeln, Rosen, Tulpen. Auf den Rasenflächen Rhododendron. Der Bahnhofsvorplatz ist Schauplatz von Susannes Kinderleben. Froh ist sie, lässt die Beine aus dem Wagen baumeln, lauscht den Unterhaltungen der Mädchen, die sich hier treffen. Mit zu hütenden Kindern und ohne Kinder. Die Halbwüchsigen sitzen auf den Bänken, ruckeln die Kinderwagen, nehmen auch mal ein Kind auf den Schoß. Die Blätter rauschen. So gefällt es Susanne. Oder Tante Martha muss sich bequemen und Susanne herumfahren. Bei einer solchen Fahrt tut Susanne einen Ausspruch, der noch einmal ihre Umgebung meinen lässt, das Kind gäbe zu schönsten Hoffnungen Anlass. Er wird deshalb in die Familienlegende eingewebt. Tante Martha, eine feine, hübsche Person - ihr kleiner Buckel ist kaum zu merken -, hat Umgang mit besseren Herrschaften. Das Kind im Wagen wird sie an ihrer Gewohnheit, sich mit ihnen in längere Gespräche zu vertiefen, nicht hindern. Susanne drängt es vorwärts. Doch Tante Martha bleibt stehen, redet mit diesem, mit jenem. Nun lange, lange mit einem Herrn. Mitten in der Silberröhre, dem Tunnel, der unter den Gleisanlagen des Bahnhofs auf die andere Ortsseite hinüber führt. In der Silberröhre gibt es wahrhaftig nichts zu sehen, weshalb es Susanne langweilig wird. Tante Martha!, sagt Susanne. Ja, Kind!, antwortet Tante Martha und redet weiter. Tante Martha! Noch etwas nachdrücklicher Susannes Ermahnung. Ja, Kind, antwortet Tante Martha erneut. Der Herr redet weiter mit ihr und sie mit ihm. Die beiden können sich nicht losreißen. Ha!, denkt Susanne, lässt sich etwas einfallen. Tante Martha!, sagt Susanne zum dritten Mal. Ja, Kind, antwortet Tante Martha zum dritten Mal, setzt ihr Gespräch fort, bis es ein jähes Ende findet. Tante Martha, ich muss mal seeschen!, sagt Susanne im ordinärsten Sächsisch, wie sie es von den Mädchen aufgeschnappt hat. Tante Martha und der Herr fahren auseinander und Tante Martha eiligst mit Susanne nach Hause, wo sie berichtet, nun schon lachend. Die Frauen erfassen sofort, was Susanne zu dem sonst nicht gebrauchten Wort veranlasste. Die Freude der Verkäuferinnen und aller sonst anwesenden Personen ist groß: Die weeß sich zu helfn, Frau Purgert, um das Mädel brauchn Se sich keene Sorchn zu machn! Die Mutter teilt das Urteil der Frauen. In der harten Wirklichkeit muss man sich zu helfen, zu wehren wissen. Je zeitiger man es lernt, umso besser. Für ihre Bestimmung als Geschäftserbin hat Susanne somit alle Voraussetzungen. Warum nur verdirbt die arme Frau diese schönen Anlagen? Warum schlägt sie das Kind für Nichtigkeiten halbtot, obwohl sie Susanne liebt? Bei niemandem besteht daran ein Zweifel.

    Alles kann Susanne von der Mutter haben. Wünscht sie eine Umkleidekabine im Freibad an der Euba, so wird die Mutter Susannes Wunsch respektieren und mit hineingehen in diese dunkle, nach nassem Holz riechende Zelle. Susanne und die Mutter treten aus der Kabine. Susanne trägt eine wunderbare rote Gummibademütze aus früheren Zeiten, schlappt in viel zu großen Badelatschen. Die Mutter in einem geblümten, modernen Badeanzug, sehr schick. Groß und schlank ist die Mutter. Die krausen dunklen Haare stecken jetzt unter einer Badekappe, sodass man erst recht sieht, was für ein niedliches, feines Gesicht sie hat. Wie eines in Modejournalen. Tante Else kommt aus ihrer Kabine. Susanne muss lachen, in welch komischen schwarzen Badeanzug sich ihr dicker Weiberkörper zwängt, weiß abgesetzt an den Rändern, vorn ein Schößchen, die Beinlinge reichen bis an die Knie heran. Und eine lange Nase hat sie. Tante Else ist nicht sehr alt, aber viel älter als die Mutter, fast eher schon die Mutter als ihre Schwester. Die beiden Frauen platzieren sich auf einer Decke unter dem von der Tante mitgebrachten japanischen Sonnenschirm, halten ein Picknick, essen Kartoffelsalat. Susanne zieht es ans Wasser. Sie stolpert mit ihren Badelatschen zum Becken für die Kleinen, lässt die Latschen am Rande stehen. Einen Gummiring von Tante Else um den Bauch statt der aufgeblasenen Schwimmbetteln sonst, strampelt von Pfahl zu Pfahl, ruht sich an einem vom Strand entfernten aus. Ein großer Junge erhebt sich neben ihr aus dem Wasser, ein Kerl, schon ausgewachsen, lässt sie nicht aus den Augen, feixt gemein. Drückt sie mit einer Hand durch den Gummiring hindurch ins Wasser hinein, auf die Holzbretter hinunter, mit denen das Planschbecken ausgelegt ist. Jedes Mal, wenn Susanne aufzustehen versucht, drückt der Junge sie auf die Bretter zurück. In ihrem Kopf verschwimmt es. Da reißt sie jemand nach oben. Geschrei gibt es. Die Mutter rennt ins Wasser. Jemand bringt den Ring an, den lebensrettenden, der schon ein Stück weit den Fluss hinunter getrieben war, der der Mutter signalisierte, die Tochter ist fort. Susanne hustet, spuckt aus, sieht trotz ihrer eigenen Angst die Angst der Mutter, wie sehr erschrocken sie ist, wie komische Augen sie hat. Bleich ist sie, zerrt und zieht an Susanne herum. Nie mehr gehmer hierher, nie mehr, hörschte, Nannchen! Auch mitn Mädels wirschte ni hierhergehn, haste verstandn? Susanne hat verstanden. Am Flussbad lauern Mörderbuben. Was denkt die Mutter? Denkt sie, man gönnt ihr die Tochter nicht, nicht diese Tochter? Oder glaubt sie an einen Zufall? Susanne hat bisher Feindschaft nicht gespürt. Nun aber bekommt sie Ohren, Augen. Wie die Leute sie anschauen, wie versteckt sie reden. Was ist an ihr. Warum sind die Leute wie fremd zu Mutter und ihr, als gehörten sie nicht dazu? Viel Gutes tut die Mutter, schreibt den Leuten an. Na, nächste Woche, Frau Sowieso, sagt sie. Gedankt wird ihr nicht. Auch dass sich der Laden von Boehm & Burkard im Zentrum von Handel und Wandel in der Stadt befindet, trägt ihr nicht die Achtung ein, die sie verlangen könnte. Warum nur?

    Schon immer gehen sie zu Schöllers. Das Grundstück liegt am Steilhang, an der Dresden-Chemnitzer Landstraße. Auf der unteren Hälfte sind Obstbäume gepflanzt. In Höhe des Hauses beginnt der Teil des Gartens, in dem Gemüse angebaut, Blumen gezogen werden, Sträucher wachsen. Dort, auf einem schmalen Streifen Wiese, die Laube. Setzt euch nur, setzt euch, sagt Oma Schöller, kocht Kaffee, bringt auch Saft für das Kind in die Laube, muss weiter schaffen, hackt, jätet, pflanzt, schleppt Eimer, arbeitet schwer am Hang, die hagere Frau, Brille auf der Nase, Kopfweh, Kittelschürze, anders kennt Susanne sie nicht. Susanne, Susannes Mutter und Schöller-Mariechen sitzen in schönstem Frieden, genießen den Blick von hier oben in die Flussauenlandschaft der Euba und der Zschopau, die nahe der Stadt zusammenfließen, schauen auf die Häuser im Tal und hinüber in die Wälder, zur Struth hin. Bei guter Sicht kann man die Augustusburg erkennen. Immer muss die Mutter schaffen. Wie Oma Schöller. Doch für einen schönen Ausblick hat sie einen Sinn. Susanne rupft Gras vom Hangrand, hält es einem der Schafe hin, die zwischen den Obstbäumen und weiter unten am Hang weiden, hört, wie Schöller-Mariechen: Ach, das Kind!, sagt und die Mutter, nicht unzufrieden, einschränkt: Wenn se nur nich so wilde war!

    Einmal war der Vater zum ersten Mal da gewesen. Sich an ihrem Kinderwagen festhaltend, war sie über den Hof gelaufen, dennoch hingefallen. Geschrien hatte sie nicht. Das Kind brüllt ja gar nich, sagte man. Hingefallen, aufgestanden, vorwärts und wieder hingefallen. Da hob ein Mann sie hoch, bis auf seine Schultern hinauf: der Vater. Er roch anders als die Mutter, seine Wangen kratzten. Er lief mit Susanne über den Hof, zum Garten, setzte sie ab, ließ sie laufen, schob mit ihr den Kinderwagen, der große Mann, beugte sich zu ihr, spazierte mit ihr herum, hockte sie sich wieder auf die Schultern, öffnete das Türchen zum kleinen Garten, ging zum Kirschbaum, hielt mit der einen Hand Susanne fest, mit der anderen holte er einen Zweig heran mit vielen Kirschen. Na, na, nimm nur, nimm mal!, sagte er. Es sind die ersten Worte ihres Vaters, an die sich Susanne erinnert. Na, na, nimm nur, nimm mal! Susanne pflückte die Herzkirschen, immer zwei, drei auf einmal, Zwillings-, Drillingskirschen. Na, na, nimm nur, nimm mal! Hoch oben saß Susanne, wohlbehütet von dem Arm des Vaters. Seitdem hört die Sehnsucht nicht mehr auf.

    Über Sahnebonbons hinaus gibt es für Susanne keinen Begriff an Köstlichem. Durch halb Euba muss Rosie, damit Susanne diese Sahnebonbons bekommt. Rosie schiebt Susanne im Korbwagen, das ist einfacher, als mit ihr zu laufen. Wie sie an der Drogerie anlangt, sieht Susanne hinter den Glasscheiben Frauen in weißen Kitteln. Ein Schrecken befällt Susanne, sie weiß nicht warum, brüllt los, als wolle man sie am Spieß rösten. Rosie lässt sich nicht abhalten, geht in den Laden. Susanne steigt aus dem Wagen, flieht vor den weißen Kitteln, läuft, den Wagen vor sich her rollend. Zu langsam geht das, sie stößt den Wagen von sich, soll der wegrollen, wenn sie selbst schon nicht schnell genug laufen kann. An der Tür eine Verkäuferin. Sie lockt Susanne. Doch die brüllt weiter. Brüllt auch, als das feine junge Fräulein Paris im Geschäft ihres Vaters plötzlich in weißem Kittel erscheint. Die Aussicht auf ein Kettchen vermag nichts gegen die Angst, die der weiße Kittel in ihr auslöst. Was se bloß hat?, fragt die Mutter, erinnert sich, dass Susanne schon immer empfindlich war. Die Schwester von der Fürsorge, die Susanne im ersten Jahr zu begutachten hatte, und der Arzt, hatten damals nachgegeben, ihre Kittel ausgezogen. Son Unsinn, Susanne, sagt die Mutter. Nu wirschte dir das aber mal abgewöhn. Susanne läuft aus dem Laden, als sei ein Gespenst hinter ihr her. Wer weiß! Tante Martha lässt sich von der Mutter berichten. Sie hat doch was, Gerda, sagt sie über Susanne wie über ein Tier, bei dem man auch nur vermuten kann, wo der Schmerz liegt. Susanne ist Tante Martha dankbar. Nichts mehr weiß sie von den Schwestern im Heim, die sie bis zur Adoption betreuten. Und weiß es doch.

    Ein Bild kehrt in Susannes Kindheitsträumen wieder, das sie sich ebenso wenig erklären kann wie die Furcht vor weißen Kitteln. Sie träumt von einem sandigen Weg, von Sonne beschienen. Birken stehen rechts und links des Wegs. Grün ist es und in der Nähe Wasser. Und dann findet sie dieses Traumbild in Wirklichkeit. Sie ist Studentin, hat die Adresse aufgesucht, die ihr die Mutter gesagt hat. Dresden, Moritzburger Straße. Eben lernte sie die Frau kennen, die ihre leibliche Mutter sein soll, war ein wenig enttäuscht. Denn sie kannte sie schon, ist ihr in Euba manchmal begegnet, in frühen Zeiten mit deren Mutter. Ein bebrilltes grünäugiges Fräulein, eine alte Frau, Haar genauso aussehend mit einer kleinen runden Brille, nur eben schon alt. Da hat Susanne mit der Burkard-Mutter mehr Ähnlichkeit! Die beiden Brüder der Mutter sind dunkel, kommen nach dem Vater. Da könnte man sich schon was denken. Aber auch Susannes Erzeuger ist dunkel und Susanne ihm nicht ganz unähnlich. Wenn Muttel und ich nach Augustusburg fuhren, hat die Frau gesagt, haben wir immer in Euba Station gemacht, um nach dir zu sehen. Sie hat erzählt, wie sie Susanne aufgespürt

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