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Hüben und drüben Davor und danach: Erzählungen
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Hüben und drüben Davor und danach: Erzählungen
eBook382 Seiten5 Stunden

Hüben und drüben Davor und danach: Erzählungen

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Über dieses E-Book

Eine Ostberlinerin besucht 1987 ihre Verwandten "drüben". Ohne Vorurteile beobachtet sie die andere Welt, in der sie als Kind einmal lebte. "Bei uns in Deutschland," sagt man hier. (Aber wo lebt sie dann?) Ein jugendlicher Straftäter erhofft sich von "Drüben" die absolute Freiheit und scheitert nach der Wende. Eine alte Frau, nahe am Tod, zieht aus dem tiefsten Westen zu ihrem Sohn im Prenzlauer Berg. Sie lebt auf und feiert mit ihrer gesamten großen Familie und neuen Freunden. Eine Randberlinerin besucht wieder einmal Agas Reich in Lichterfelde–West und ist von fasziniert. Freundinnen entfremden sich, als die eine Arbeit im Westen findet und sich dort einfügt. Ein Philologe, Jahrgang 44, träumt ein Leben lang davon, seinen indischen Vater und dessen neue Familie in Indien kennenzulernen. Als die Grenzen offen sind, hindert eine Krankheit ihn an der Erfüllung seines Lebenstraums. Das Heute wird vom Gestern durchschienen. Hüben muss man sich mit dem Drüben, dem einst gelobten Land, auseinandersetzen. Kleine, fast dokumentarische Geschichten erzählen aus östlicher Sicht vom Leben im geeinten Deutschland.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Okt. 2018
ISBN9783742719744
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    Buchvorschau

    Hüben und drüben Davor und danach - Beate Morgenstern

    Drüben

    I. Urbanstraße 104 A

    Der Zug näherte sich der Grenze im Thüringisch-Fränkischen. Die Berge rückten aneinander. Kaum Platz zwischen ihnen für einen Weg, ein Schienenbett. Man konnte nur noch hinaufschauen. Seit ihrer Kindheit hatte sie nicht mehr auf so hohe Tannen gesehen.

    Lange hielt der Zug. Dann waren die Dörfer noch beinahe genauso, wenn die Häuser auch in besserem Zustand. Und man sprach wahrscheinlich noch immer denselben Dialekt.

    Besuchsgrund? Die Aussprache nur dieses einen Worts verriet den jungen Grenzbeamten als aus dieser Gegend stammend.

    Beruf?

    Und warum tragen Sie die schwarze Armbinde?, fragte sie zurück.

    Für unsere in Frankfurt erschossenen Kollegen.

    Sie hatte in den Nachrichten davon gehört, dass es bei einer Demonstration gegen den Flughafenausbau, den Bau der Startbahn West, zu Tumulten und diesem Unglück gekommen war.

    Sie war wieder allein, schaute wieder in die Landschaft, grübelte. Nichts anregender für sie, als weite Strecken allein mit dem Zug zu fahren. Da kam sie zu Gesprächen mit sich selbst. Worauf es mir ankommt, dachte sie, während sie immer weiter hinausschaute auf Wege, Brücken, Felder, Wiesen, als erhielte sie von dort Antwort. Zusammenhänge sind mir wichtig, sagte sie langsam in sich hinein und fand nach einigem Nachdenken, dass man wohl so bezeichnen konnte, was ihr Inneres im tiefsten bewegte. Alles hat einen Sinn. Es existieren geheime Zusammenhänge zwischen allem Leben und scheinbar toter Materie. Sie war offenbar nicht weit davon entfernt, an Fügung zu glauben. Dass sich etwas zueinander fand aus geheimer Anziehung. Auch das wie zufällige Aufeinandertreffen macht einen Sinn. Wenigstens dem im Nachhinein hinterherzuspüren!, dachte sie.

    Sie döste, schlief ein in bequemster Lage. Der Schaffner hatte ihr gezeigt, wie sie die gegenüberliegenden Sitze zusammenschieben konnte. Einmal schaute sie auf. Hier wollte die Kollegin mit ihrem Mann, einem emeritierten Professor, aussteigen. Nach der Zollkontrolle auf dem Bahnhof war sie geradewegs in die Arme der auf ihren Mann wartenden Kollegin geraten. Sie hatten sich für den Speisewagen verabredet, dort auch lange gesessen. Die Kollegin zu einer Lesereise unterwegs.

    Das erste Mal?, hatte sie mit unverhohlener Neugier gefragt. Sie hatte gleichmütig geantwortet, war dann aufgeklärt worden, dass die Männer auf der anderen Seite so viel höflicher und so weiter seien. Und ihr eigener Mann, der ja aus dem Osten stammt wie sie?, hatte sie gedacht. Sie öffnete das Fenster, suchte in der Menschenmenge vergeblich nach dem Paar.

    Der Zug hielt nun oft. Die Ortschaften so viel aneinander und wie ganz neu. Sie war die Menschenleere zwischen Siedlungen aus kleinem Land gewohnt und Alterung der Ortschaften. Dann fuhr der Zug in den Kopfbahnhof ein. Sie nahm ihre Tasche, stieg aus.

    Hertha am Ende des Bahnsteigs. Sie sah schon stehen in ihrem Cape, groß, leicht gebeugt mit den kurz geschnittenen grauen Haaren. Die Tante hatte sich ausgebeten, sie bloß Hertha anzureden. Auch ihre Söhne redeten sie so an. Hertha allen neuen Ideen aufgeschlossen, hatte sich sogar zeitweise tatkräftig für die damals linken Ideen ihres jüngeren Sohnes interessiert. So jedenfalls die Familiensaga. Wir nehmen ein Taxi, entschied Hertha. Sonscht kannsch zu Fuß laufen. Gradwägs durch den Park. Aber bei dem Regen!

    Ich kenn das hier, sagte sie, als sie aus dem Bahnhof trat. Ich muss hier gewesen sein. Mir ist, als hätte jemand hinunter auf die Stadt gewiesen und davon gesagt, sie liege im Kessel. Ich habe die Erinnerung, unten flimmerte es vor Hitze. Kann sein, das Wort Kessel hat diese Vorstellung hervorgerufen. Sie sprach viel und schnell. Wie aufgeregt sie nun doch war! Aber nicht wegen des Unbekannten, sondern der - vielleicht eingebildeten - bekannten Bilder.

    Wirst bei der Lis gewesen sein. Wir haben zu der Zeit noch in Waldorf gewohnt.

    Hertha gab dem Fahrer eine geringe Summe und nichts darüber. Der Fahrer hatte wegen Umleitungen Nerven bewahren und Entschlossenheit zeigen müssen. Er kam nicht auf sein Geld, sagte das auch. Wie sich seine Sprache anhörte. Schon Herthas Sprache war ihr immer wie ein Stück Heimat gewesen. (Wie viele Heimaten sie durch Kindheit an verschiedenen Orten hatte. Eine schwäbische gehörte auch dazu.)

    Der Regen hatte nachgelassen. Sie gingen an einem großen Haus vorbei in einen Hof. Überrascht sah sie einen efeubewachsenen Hang hinauf. Unten abgetragen. Eine Mauer hielt den Hang. Oben auf einer Terrasse ein Haus, nicht so groß, und ein schmaler langer Garten. Auf halber Höhe der steilen Treppe ein zweites, sehr kleines Haus. Sie musste erst einmal schauen, ehe sie weiterging. Keiner hat mir gesagt, wie schön ihr wohnt! Mitten in der Stadt!

    Das hab ich mir auch überlegt, dass ich nie davon erzählt hab und du gar nicht weißt, wie wir wohnen, sagte Hertha. S´ war ein Wahnsinnsglück damals. Niemand glaubte, dass wir hier im Osten der Stadt ein Haus kriegen. Das Geld haben wir natürlich auch nicht gehabt. Aber wir haben´s rischkiert. In Herthas Gesicht erschien das ihr eigentümliche Lächeln. Als wisse sie sehr viel, aber gäbe nur einen Bruchteil ihres Wissens preis.

    Vom Herrn Erleuchtete hatte sie so lächeln sehen. Doch Hertha nahm, soviel ihr bekannt war, nicht in Anspruch, erleuchtet zu sein.

    Ich halt nix vom Spare. Schulden haben wir unser Leben lang gemacht, fuhr Hertha fort. Übrigens, das ist amal ein Weinberg g´wesa. Nach dem Krieg, als das große Mietshaus davor in Trümmern lag, hat sich der Besitzer auf seinem Weinberg aus den Ziegeln des alten Hauses und was er sonst in der Gegend fand ein neues gebaut. Fantastisch!

    Hertha schien von ihrer Begeisterung befriedigt.

    Auf halber Höhe der langen Treppe setzte sie Hertha vor dem Gartenhaus ab. Das Fundament reichte bis hinunter zum Hof, war auf einem Gebäude errichtet, das vielleicht als Waschhaus oder Garage oder als Lager diente. Das Gartenhaus zum Domizil für Gäste ausgebaut, gasbeheizt. Sie betraten den einzigen Raum. Warmfarbige abstrakte Bilder aufgehängt. Originale selbstverständlich. Hertha und Heinrich sammelten. Im hinteren Teil das Bad.

    Komsch nachher zum Heinrich hoch, gell, sagte Hertha. Und morgens bringscht die Zeitungen mit rauf. Sie wies die Treppe hinunter in den Hof auf einen offenen runden Blechbehälter an der Mauer unterhalb des Gartens. Der Heinrich brauch zum Frühstück seine Zeitungen! Hertha ließ sie allein.

    Dann war es Abend, der Vorabend von Herthas siebzigsten Geburtstag. Sie mit Hertha und Heinrich allein in ihrem Haus. Dieses nicht so groß, aber großzügig durch den zweigeteilten hohen Raum, der den größten Teil der Fläche im Erdgeschoss einnahm. Heinrich deutlich älter als Hertha. Ein feiner, alter Herr, zierlich. Er ging etwas gebeugt mit kleinen Schritten. Seine Hände zitterten. Das ist die Krankheit, sagte Hertha leise. Doch seine Sinne vollkommen wach. Eine stille Freundlichkeit kam von ihm, die Frauen ganz sicher immer für ihn eingenommen hatte. Sie jedenfalls verstand, was Hertha über ihn und seine Verhältnisse zu Frauen gesagt hatte, lachte, als sie daran dachte, dass der Vater, auch die Mutter, verzweifelnd wegen ihres angeblichen Eigensinns ihr gedroht hatten: Du kriegst nie einen Mann. Und wenn, dann höchstens einen Prinzgemahl wie Tante Hertha! So wenig wussten die Eltern von der Beziehung zwischen Hertha und Heinrich! Ungewöhnlich, wie ruhig Hertha saß und - an einem Pullover trennend - zuhörte. Das Strickzeug zu Hertha nicht passend. Sie erklärte, das sei eine alternative Tätigkeit und für sie deshalb von Interesse.

    Am Geburtstagsmorgen Hertha zunächst in die oberen Gemächer verbannt, wo sie endlos telefonierte. Heinrich erklärte: Wegen ihrer Asylarbeit. Er setzte hinzu: Wenigstens heute könnte sie doch ...! Er sprach seine Kritik nicht bis zu Ende, schüttelte ärgerlich den Kopf. Heinrich in einem dunklen Anzug mit Weste, Schlips und weißem Hemd, volles weißes Haar, kleiner Schnurrbart, sehr blauäugig. Wie hübsch er aussah! Seine Nichte schon aus Tübingen angereist und tätig.

    Eine sehr ansehnliche, schlanke Frau Ende vierzig. In zwei Körben hatte sie alles Notwendige für ein außerordentliches Frühstück mitgebracht. Heinrichs Hände zitterten noch mehr als sonst. Offenbar war seine Anspannung groß, dass alles richtig gemacht wurde und der morgendliche Festakt ordentlich verlief. Dennoch beharrte er gegenüber der Nichte auf dem gewohnten Teil seiner Hausarbeit. Ihr war schon am Abend aufgefallen, wie Heinrich mithalf, den Tisch abdeckte, den Geschirrwagen in die Küche fuhr. Sehr langsam ging er, setzte Fuß vor Fuß. Geduld brauchte es, das mit anzusehen. Nie hätte sie Hertha Geduld zugetraut. Geradezu pädagogische Fähigkeiten bewies sie im Umgang mit Heinrich.

    Durch die geöffnete Glastür am Eingang des zweigeteilten großen Raums sah sie Hertha die Treppe herunterkommen. Als sie eintrat, blickten alle auf sie. Sonst in langen, weiten Gewändern, mit schwerem Silberschmuck behängt, erschien sie heute in einer Bluse aus sicher sehr edlem Material zu gut geschnittenem, langem Rock. Sie sah aus wie im Sonntagsstaat, bürgerlich. Aber auch im Sonntagsstaat beeindruckte sie. Und dass sie wegen eines Rückenschadens etwas gekrümmt und manchmal fast schwankend lief, minderte den Eindruck nicht.

    Hertha blickte auf die festlich gedeckte Tafel in dem zum schmalen Garten hin gelegenen Teil des Raums. Hübsch habt ihr´s gemacht. Ich dank euch!, sagte sie, ging zur Barockkommode, die den besten Platz im Raum hatte, an der Stirnseite neben der Glastür zum Garten. Die Barockkommode eine der beiden mobiliaren Kostbarkeiten. Vorn am Eingang ein großer, schwerer Schrank. Auf der Kommode Blumen und die ersten Geschenke. Ihres ein Bildband. Was konnte man einer Verwandten, auch für hiesige Verhältnisse wohlhabend, schon schenken, kam man von drüben!

    Sie sagten Hertha ihre Glückwünsche, die umarmte sie, was sie sich mit stiller Rührung gefallen ließ. Diese Gefühlsäußerung der sonst eher herrscherlichen Frau für sie neu.

    Es klingelte. Die Nichte stand auf.

    Paul!, sagte Hertha, erklärte Paul sei zum Frühstück eingeladen, brächte für nachmittags Kuchen mit. Seine Frau eine Schwester aus Herthas altem Krankenhaus.

    Paul begrüßte Hertha. Viel Glück und Gesundheit!, sagte er.

    An seiner Seite seine kleine finster blickende Tochter. Wie ein Bub!, meinte Hertha.

    Das Frühstück konnte beginnen. Kaffee, Tee wurden ausgeschenkt. Die Kleine trank Milch. Kaum hatte Hertha einige Bisse getan, musste sie schon zur Barockkommode, um ein Spielzeug für das Mädchen zu holen, kramte, trug dann über der Hand, der Arm hochgereckt, eine hölzerne Schlange, deren Glieder sich durch ein stark haftendes Band endlos bewegte. Die Schlange machte die Runde, ehe es das Mädchen bekam, das sich auch durch diese Gabe zu keinem Lächeln verleiten ließ. Das Telefon läutete. Und noch einmal und immer wieder. Das Essen, für Hertha offenbar sowieso eher eine Nebensache, geriet ihr ganz aus dem Gedächtnis. Wieder endlose Gespräche. Heinrich leicht genervt. Er hielt es anscheinend für notwendig, dass Hertha aß und trank. Sie bediente sich von den Herrlichkeiten auf dem Tisch. Vergewisserte sich, dass man nicht nach ihr schaute. Allgemein aß man sehr mäßig, sie aber nun gar nicht bei einem solchen Angebot. Das war wohl hier so, dass man hatte, aber nicht ausgab. Wie die Großmutter von ihrer Kindheit erzählt hatte. Es sei in besseren Kreisen verpönt gewesen, viel zu essen. Sie nicht angepasst, so dass sie leicht ins Hungern kam und ins Frieren.

    (Die Gasheizung im Gartenhäuschen hatte sie trotz ihres Fröstelns nach langem Abend nicht höher zu stellen gewagt. Herthas Satz, so warm müsse man es ja nicht haben, hatte sie davon abgehalten.)

    Sie begann mit Paul ein Gespräch. Ist das Ihr richtiger Name?

    Ja. Paul sagte seinen Namen, er klang wie Paule oder Paulo.

    Wir wohnen in Kerala. Ganz im Süden. Dort leben Christen viele Jahrhunderte. Wenn Tochter in Schule kommt, wir gehen zuruck. Un Sie können nischt überallhin in Welt reisen?, fragte Paul mitleidig.

    In meinem Beruf noch eher, antwortete sie ausweichend. Sie war gegen Mitleid empfindlich. Aber wenn Sie im Süden wohnen, wie kommt es, dass Sie eine so helle Haut haben?

    Ja, das gibt es, sagte Paul. Helle Haut, dunkle Haut.

    Doch grüne Augen! Ein einziges Mal sah sie ganz unverhohlen in diese Augen.

    Paul lachte. Das ischt sehr, sehr selten. Mein Vater un mein Großvater hatten solsche Augen. Un isch. Aber nischt meine Tochter un nischt mein Sohn.

    Die Tafel wurde aufgehoben. Hertha hatte ihren kalten Kaffee dann doch getrunken, ihre Scheibe Brot gegessen.

    Paul nun ein weiterer hilfreicher Geist, um Speisen und Geschirr in die Küche zu bringen und zu verstauen. Er sowieso derjenige, der das Haus sauber hielt. Alles Geld, das seine Familie bekam, konnte helfen. Und Hertha und Heinrich machten aus jeder Beziehung eine Freundschaft. Eigentlich Hertha. Es war ihre besondere Fähigkeit, Menschen um sich zu sammeln. Heinrich tat mit.

    Die Türklingel schellte. Die Nichte brachte eine Dame herein. Hertha stellte vor: eine Angestellte der Filialbank, in der Hertha und Heinrich ihre Konten führten. Die Bankangestellte überreichte Hertha einen großen Strauß Blumen und gab das Geschenk der Bank des festlichen Anlasses wegen bekannt: Alle wegen eines kürzlich aufgenommenen Kredits anfallenden Arbeiten würden umsonst geleistet.

    Isch des nich nett, Heinrich!, sagte Herta, offenbar gewillt, sich an diesem Tag über jedes Geschenk zu freuen. Die Bankangestellte wurde zum Bleiben genötigt und mit dem besonderen Gast von drüben bekannt gemacht. Meine Cousine aus Ostberlin, sagte Hertha.

    Ach ja?... Kürzlich hatten wir Verwandte aus Halle in der DDR zu Besuch! Die Bankangestellte sagte es so, als wolle sie mit einer eigenen kleinen Errungenschaft auch nicht hinter dem Berg halten. Ach, wie wir mit ihne durch die Geschäfte gegange sin, un sie haben die Dinge gesehe, die man zum Baue braucht. Sie baue nämlich. Sie haben alte Möbel. Drüben in der DDR hat man das. Darum baue sie sich ein Haus. Aber an allem isch Mangel.

    Erwiderung war verlangt. Ja, das ist schon so, gab sie zu.

    (Als mache sie sich selbst klein, wenn sie einräumte, sie käme aus einem solch ärmlichen Land.)

    Un denke Sie: Meine Verwandte ware seit vierzig Jahre zum erschte Mal in Deutschland!

    Sie sah auf die Angestellte der Filialbank, sah dann auf Hertha, Heinrich, die Nichte. Offenbar hatte sie richtig gehört. Und alle schienen damit einverstanden, dass es nur dieses eine Deutschland gab, nämlich das, in dem sie lebten. Obwohl doch Hertha und Heinrich so aufgeklärt waren, tolerant, aufgeschlossen, eben das alles. Aber wo leben wir dann für sie?, dachte sie. Beginnen die russischen Weiten bis zur Taiga hin in der Vorstellung dieser Menschen schon gleich hinter dem Eisernen Vorhang?

    Etwas später machte der Verwaltungsdirektor des Krankenhauses, in dem Hertha gearbeitet hatte, seine Aufwartung. Auch ihm wurde die Cousine vorgestellt. Hertha vereinfachte die Verwandtschaftsbeziehung. Vielleicht war im Schwäbischen die Vereinfachung auch üblich. Der Verwaltungsdirektor von körperlichen Ausmaßen, die eine gebührende Stellung erwarten ließ, zeigte sich ebenfalls sehr wohlwollend. Zum Abschied bekam sie fest die Hände gedrückt.

    Und nutzen Sie jede Stunde, sagte er eindringlich. In Freiheit, ergänzte sie für sich. Sie befand sich wohl in der Lage eines Freigängers. Mach ich, sagte sie. Ja, sie hat sich sehr viel vorgenommen, bestätigte Hertha.

    Paul mit kleiner Tochter wieder gegangen. Hertha und Heinrich im Gespräch. Nein, nein, sagte Heinrich mit einem Mal lauter. Das geht nicht mit meinem Tatterich. Er streckte die Hände, um sein Händezittern zu imitieren. Es geriet ihm nur um weniges stärker als das, was man von ihm kannte.

    Ach richtig, dein Tatterich, den vergess ich immer!, sagte Hertha, lachte so frei, dass jeder denken konnte, sie vergäße den Tatterich tatsächlich.

    Am Nachmittag traf Heinrichs Schwester ein. Eine resolute Frau, eine Schlesierin, die Färbung ihrer Sprache ihr gut bekannt, der Typ auch. Du bist so dünn geworden!, sagte sie zu Heinrich.

    Er hat grad für den Tag gefastet! , erwiderte Hertha.

    Als Heinrich außer Hörweite war, sagte sie: Das gehört zum Krankheitsbild. Man muss doch erfinden!

    Hertha konnte grob werden, auch ohne erkennbaren Grund, brüskierte, sagte ihre Meinung möglichst so, dass andere sich an ihr stießen. Sie war radikal und rücksichtslos im Umgang mit Worten. So hatte sie Hertha kennengelernt. Erst als sie sich gesagt hatte, sie ließe sich von Hertha einfach nicht mehr beleidigen, kam sie in etwa mit ihr zurecht. Zu wie viel Zartgefühl Hertha fähig war, erlebte sie jetzt im Umgang mit Heinrich. Nachdem er seine Praxis mit achtzig Jahren endlich hatte aufgeben müssen, hatte sie ihn ganz für sich und genoss es. Offenbar war eine Altersliebe gewachsen. Durch wie viel Jahre, in denen sie sich gegenseitig wehgetan hatten, waren sie bis dahin gegangen! Hertha in den Aussagen über ihre Ehe, Heinrichs Zuwendung zu anderen Frauen so offen wie in allem, was sie redete.

    Zum Tee kam noch Pauls Frau, so schön, wie sie sich das vorher gedacht hatte.

    Sie sprach Heinrichs Nichte an, die sich neben sie gesetzt hatte. Wenn du mal nach Berlin kommst, könntest du mich besuchen!

    Bärbel schüttelte den Kopf. Noi, noi. Da sind so viele Bestimmungen zu bedenke. Was i hab alles beachte müsse, als mein Sohn mit der Klasse nach Frankfurt/Oder g´fahre ischt. Keine Aufkleber, keine Reklame an der Kleidung, nix, was provoziert. Meinem Sohn hat´s nix ausgemacht. Aber i bin ganz durchanander g´wesa im Kopf!

    Die Abfuhr freundlich wie verständlich. Herthas jüngere Schwester Gisel hatte sie vor wenigen Jahren in Berlin besucht. Mit geradezu panischem Schrecken hatte sie von dem Grenzübertritt gesprochen. Von den Hunden. Und wie sie später durch ein halbzerstörtes Gelände eines Chemiewerkes gefahren war. Das wolle sie nicht noch einmal auf sich nehmen, hatte sie gesagt. Die einen wagten sich in den Osten, die anderen ließen es. So war das nun mal.

    Der Abend brach an. Die Gäste mehrten sich. Unter ihnen die schwarzhaarige Kat, vielleicht Mitte fünfzig, hübsch anzusehen. Wenn ich nicht irre, sind wir verwandt, sagte Kat munter mit lauter Stimme. Ihre schwarzen Augen blitzten. Sie nannte ihren Nachnamen.

    Der Konteradmiral?

    Jawoll. Ja. Is mein Vater.

    Der Konteradmiral hatte in Familienerzählungen häufig eine Rolle gespielt, nicht nur seines Ranges wegen. Mein Vater war auch bei der Marine, sagte sie.

    Is ja interessant! Kat, sicher seit Jahrzehnten im Süddeutschen lebend, sprach immer noch mit norddeutschem Akzent.

    Aus dem Stoff seiner Uniformen hab ich meine Skihosen bekommen. Das war sehr festes Material.

    Kindheitserinnerungen interessierten die schwarze Kat weniger.

    Wieder läutete es. Hertha ging nun immer selbst. Die Gäste, die kleine Feier mit ihnen, das eigentliche Geschenk dieses Tages. Sie kam mit einer Frau in den Sechzigern zurück. In Heinrichs Augen wieder ein Blinken. Jede Frau, ja jeder Mensch, den er kannte, konnte sich von ihm besonders geliebt fühlen.

    Frau Veschper!, stellte Hertha vor. Das also die langjährige Hausdame und Geliebte Heinrichs, wie sie von Hertha wusste.

    Hertha hatte ihren Facharzt der Anästhesie in der Schweiz gemacht. Familie und Beruf mussten immer zusammengehen.

    (Und Leben musste auch sein, so dass sie nachts einluden und zu Einladungen gingen.) Heinrich hatte das Alleinsein auf Dauer nicht ausgehalten. Frau Vesper inzwischen offenbar auch ein Mitglied der Familie. Vielleicht hatte Hertha auch aus anderem Grund als aus alter Verbundenheit nicht verzichten wollen. Frau Vesper die Tochter des bekannten Verlegers, Schwester eines Mannes, der mit einer bekannten Terroristin liiert gewesen war, die sich umgebracht hatte. Hertha hatte starke Neigung zum Sozialen, besaß aber auch eine Schwäche für Menschen, die sich durch irgendetwas vor anderen auszeichneten, sei es durch ihre Herkunft aus fremden Landen oder durch eigene oder ererbte Verdienste. Frau Vesper führte eine kleine Buchhandlung in einer kleinen nördlichen Universitätsstadt. Um diese am Leben zu erhalten, arbeitete sie außerdem als Vertreterin für einige Verlage. Die letzten Informationen hatte sie am Nachmittag von Hertha erhalten, die offenbar eine Freundschaft zwischen ihnen zu stiften hoffte - Hertha stiftete so gern Freundschaften!- oder sich wenigstens eine interessante Abendunterhaltung versprach.

    Frau Vesper musterte sie ganz und gar unbeeindruckt vom Herkommen aus östlichen Landen wie durch ihren verwandtem Beruf. Ihr Blick sagte, sie solle erst einmal beweisen, ob sie dauerhaft etwas zustande brächte!

    Mittag hatte es wegen des ausgedehnten Frühstücks nicht gegeben. Zum Kaffee hatte sie gerade mal ein Stück Kuchen zu sich genommen. Der Aufbau des Büfetts wurde immer noch verschoben. Götz muss noch kommen!, hieß es. Götz der jüngere der beiden Söhne. Mit Stefan, dem älteren, war nicht zu rechnen. Nicht mitten in der Woche, hatte Hertha gesagt. Er hätte ja eine Feier am Wochenende vorgeschlagen! Aber ob er am Wochenende noch käme, wenn jetzt gefeiert würde, sei fraglich. Er hatte die Mutter nachts halb eins angerufen. Stefan wohnte in Westberlin. Fuhr Hertha zu ihrem älteren Sohn, verbrachte sie immer einen Nachmittag/Abend in Ostberlin. Meist kamen dann Stefan und Freundin mit. Das ging schon fast zehn Jahre. Sie war Stefan schon auf ihrer ersten Fahrt in frühen Kindheitstagen begegnet. (Der Vetter, der Bananen aufaß, die ihr an der Grenze geschenkt wurden und die sie nicht mochte, der Vetter, mit dem sie ein Weihnachten mit einer leider dann doch vertrockneten Kokosnuss unter einem Tisch feierte. Die Tischdecke hing tief herunter, so dass sie sich wie in einer Höhle fühlten.) Stefan heute sehr zurückhaltend. Sie hatte die Mühe um ihn aufgegeben. Auf Götz war sie neugierig. Götz sollte ganz anders sein.

    Götz immer noch nicht da.

    Ob Hertha anrufen wolle, fragte man.

    Das sieht aus, als will ich ihn drängen, sagte sie, weigerte sich. Die Beziehungen in der Familie offenbar schwierig. Was sie bei Herthas harschem Wesen viel eher verstand als dass sie so zahlreiche Freunde an sich band. Einige Freunde hatte sie verloren, redete auch darüber, gab sich die Schuld. Ihre Mutter - in Jugendzeiten sehr mit ihr befreundet - hatte sich von Hertha abgewandt. Der hier in der Nähe lebende Bruder der Mutter, der lange Jahre gemeinsam mit ihr erzogen worden war, hatte sich, wie er sagte, fortwährenden Beleidigungen entzogen. Ihn vermisste Hertha, konnte seinen Rückzug nicht begreifen. In der Regel aber wohl die Anziehung, die Hertha ausübte, so stark, dass man gelegentliche Kränkungen vergaß.

    Das Büfett wurde dann doch aufgebaut und eröffnet, ohne dass Götz erschienen war. Sie stand vor den Speisen, Früchten. Manches kannte sie gar nicht. Nehmen Sie doch!, sagte Heinrichs Schwester. Am Nachmittag hatte Heinrichs Schwester erklärt, so (üppig) gehe es bei ihnen (im Westen) sonst nicht immer zu. Unter den Augen der Schwester hatte sie dann gerade mal ein Stück Kuchen genommen. Jetzt war es nicht nur Zurückhaltung, sie konnte sich auch nicht entscheiden. Ich bin doch ungeneußlich, sagte Heinrichs Schwester und lächelte. - Ungeneußlich? - Das ist schlesisch. Ungenießlich, gierig.

    Tja, was nehmen? Die schwarze Kat stand neben ihr. Woll auf alle Fälle Kaviar, mein ich. Übrigens, da gibt´s ne hübsche Geschichte. Ein Dötchen. Wie mein Vater nach zehn Jahren russischer Kriegsgefangenschaft zu uns heimkommt, bringt er vier Dosen Kaviar mit. Stelle man sich mal vor. Kommt mit vier Dosen Kaviar aus russischer Kriegsgefangenschaft! Als es nach Hause ging, haben die Russen sie mit Verpflegung überhäuft. Rucksackweise.

    Offiziere!, dachte sie. Wie streng noch in Gefangenschaft die Rangordnung eingehalten wurde, war ihr bekannt.

    Doch wie sie gehört haben, dass ein Speisewagen mitfährt, haben sie die Verpflegung dagelassen für die, die noch blieben.

    Nur den Kaviar haben sie mitgenommen. War ja nich lebensnotwendig, nich? Kaviar muss dort woll fast ne Art Volksnahrung sein, quasi zum Leben dazugehörend, oder?

    Kenn ich mich nicht aus.

    Ich ja auch nich. Wie soll ich auch, nich?

    Bei Tisch saßen sie dann auch nebeneinander. Kat redete weiter. Ich hab auch mal angefangen, meine Kindheit aufzuschreiben, aber denn hab ich schnell wieder aufgehört.

    Warum?

    Warum?, fragte auch Frau Vesper.

    War so schwarz, so negativ. Also, das wollt ich denn doch nich.

    Warum nicht?

    Nee, dat war mir nichts. Aber ich frag mich, warum ich mich nur an solche Sachen erinner. Immer nur, wo ich enttäuscht war, wo ich eins draufgekriegt hab, wo mir elend war. Dabei hat mir meine Mutter erzählt, jeden Morgen, wenn sie mich geweckt hätt, hätt ich gestrahlt und gesagt: Mutter, ich freu mich ja so. Kannst du dat verstehen?

    Nicht gleich.

    Nur reinwech negativ. Ich versteh nich, warum sich nur so was in mein Kopf festgesetzt hat. Das hab ich nich aufschreiben wolln, nee. Wozu soll dat gut sein, nich? Übrigens, nu sind wir schon beim du, nich wahr? Irgendwo sind wir ja woll auch Cousinen. Meine Großmutter war ne Krügerin. Und mein Großvater ein Krüger. Der Bruder von Herthas Mutter.

    Ach so seid ihr verwandt!

    Götz ist da, teilte Frau Vesper mit.

    Götz is da, na endlich!, sagte die schwarze Kat.

    Na endlich, sagte Heinrichs Schwester.

    Mit einem erlösten Lächeln stand Hertha auf, ging auf den Sohn zu.

    Götz nicht besonders groß. Der Schädel kräftig, die Augen klein, das Kinn stark ausgeprägt. Schräge die Stirn-Nasenpartie, kurzer Hinterkopf. In seinem Gesicht eine kampfbereite Offenheit. Der Körper erschien dagegen eher schmal, wenn auch nicht mager.

    Der Götz, des isch aber schön! Wir haben schon gefragt, wo du bleibsch, ob du überhaupt kommsch. Hertha legte ihren Kopf an den des Sohnes, ihre Hände umschlossen seine Schultern.

    Na sicher komm ich, was denkscht denn du, sagte Götz. Seine Stimme reich, melodiös. Und guck, ich hab mich rasiert, extra für dich. Er rieb mit der Hand seine Wange. Sein Mund zum Lachen geöffnet. Tadellose Zähne. Mit einem Blick, die Hand noch an der Wange, erfasste er die Gesellschaft im hinteren Raum. erklärte dann sein Geschenk, ein Buch von Umberto Ecco, Der Name der Rose.

    Wie schwierig es auch anderen war, Hertha etwas zu schenken, hatte sie am Tag erfahren, als sie das Haus besichtigt hatte. Alles vorhanden, das Notwendige und Praktische wie das Schöne überreichlich: alte Möbel, Bronzen, Bilder. Hertha und Heinrich ja Sammler. Am auffälligsten der Messingkopf einer Afrikanerin auf der Barockkommode. Der Kopf konnte ein historisches Stück sein. Und die schwarze, stark abstrahierte Büste einer Afrikanerin auf der anderen Seite der Tür zum Garten. Bücher, so hatte Hertha mehrmals am Tag verkündet, betrachte ich als einen Angriff auf meine Freiheit. Man muss sie dann lesen. Und was ich lese, das will ich mir selbst aussuchen!

    Un du bischt die Beate, sagte Götz, als sie wieder am Büfett stand, sah sie aufmerksam an mit fast zärtlichen Augen.

    Und du der Götz.

    Was zu erraten war. Götz lächelte. Übrigens, ich war schon öfter bei euch drüben. Ich war ziemlich links, musch du wissen, sogar DKP-nah.

    Ah ja.

    Was nimmt man denn hier?

    Sie nun kenntnisreicher, beriet.

    Götz tat sich auf. Ich besuch dich mal, wennsch dir recht is.

    Ja, sagte sie zögernd.

    Willsch net?

    Stefan kommt nicht mehr. Die Nanne auch nicht. Naja, Ille, wenn sie Nanne besucht. Sie sagte die Namen ihrer Westberliner Cousine und deren Schwester.

    Ach die Ille! Kennsch die Ille?

    Sie ist das Patenkind meiner Mutter. Und der Vater von Ille und Nanne ist der Bruder meiner Mutter.

    Ja so. Ich blick bei den Verwandtschaftsverhältnissen net so durch. Also willsch, dass ich dich besuch?

    Du sollst nur nicht sagen, du kommst und kommst dann nicht.

    Ich komm aber. Drum frag ich doch. Isch kompliziert, oder? Götz lachte. Er nahm nun von dem Kaviar, rosa und groß die Eier. Beiß drauf, mit den Schneidezähnen. Dann platzen sie wie eine Blase!

    Isch ja direkt unanständig!, sagte Götz.

    Heinrich fotografierte. Trotz seines Tatterichs. Fotografieren, wie sie inzwischen wusste, eine Leidenschaft. Heinrichs Vater war in Breslau Fotograf gewesen. Er richtete den Apparat auf sie und Götz. Sie wurde aufmerksam. Heinrich machte ein unschuldiges Gesicht, als wolle er alles Mögliche fotografieren, nur nicht Sohn und Nichte. Wie sie ihn mochte! Ihn und seinen Sohn Götz auch. Sie unterhielt sich weiter mit dem Cousin, der seinen Lebenslauf hersagte. Sie sprachen über Politik, verständigten sich schnell. Mal sah sie auf Heinrich. Seine Hände lagen ganz ruhig auf dem Tisch. Das also gab es auch.

    Sie dachte daran, was Hertha über die Krankheit geschrieben hatte. (Hertha eine große Briefschreiberin. Und sie bekam von ihr fast noch ausführlichere Antworten.).Das Krankheitsbild wird immer klarer. Wir leiden auch miteinander und versuchen, unserem Vorsatz - von der Heirat her - heiter sterben zu lernen, treu zu bleiben bzw. es zu lernen.

    Gisel war gekommen. Herthas jüngere Schwester. Sie stand im Raum, kleiner als Hertha, füllig, die grauen, dichten Haare halblang nach innen gewellt, ihr Gesicht hübsch, sah man von einer kleinen Asymmetrie ab. Die Eltern hatten sie als knapp Fünfjährige für eineinhalb Jahre zu Gisel in den Schwarzwald gegeben, wo sie im elterlichen Haus Kinder gegen Geld betreute.

    Und dann stand Hertha neben der Schwester, groß, schlank, etwas nach vorn gebeugt, herb das Gesicht, in milder Abwehr. Gisel reckte sich. Immer noch schien sie ihre Kraft an der älteren Schwester messen zu wollen.

    Fotografier doch die beiden, sagte sie zu Heinrich.

    Später, antwortete er ausweichend.

    Am Kamin im vorderen Teil des Raumes bildete sich um Frau Vesper und Götz eine Runde. Man lachte und erzählte dort. Sie blieb an der Tafel sitzen. Mit ihr Kat und Gisel. Vielleicht blieb Kat nur da, um sie nicht mit Gisel allein zu lassen. Deren Schweigen beunruhigte. Kat unterhielt. Die laute Stimme hatte sie ja und die Unbefangenheit.

    Spät am Abend erschien ein sehr korrekt gekleideter Herr. Schnauzbärtig, glattgesichtig. Hertha kam mit ihm an die Tafel, wo sie mit Gisel und Kat wie festgenagelt saß. Wir kennen uns von der Asylarbeit, sagte sie. Er möchte dich kennenlernen. Er ist an euch drüben so interessiert. Er bezeichnet sich selbst als konservativ. Als was er mich sieht, weiß ich nicht. Hertha lachte, starke Kehllaute ausstoßend. (Anmerkungen über ihre Person begleitete sie meist mit solchem Lachen.) Aber er engagiert sich stark bei den Asylanten. Übrigens spricht er immer noch von „Zone".

    Besuchen Sie mich, sagte sie. Meine Tante gibt Ihnen die Adresse. Ich wohne im Zentrum. Ist ganz einfach zu finden. Der Herr lächelte sehr sympathisch.

    Zeit war es für den Champagner. Götz schenkte ein. Ein Pommery!, sagte er. Den

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