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Villa am Griebnitzsee
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eBook331 Seiten4 Stunden

Villa am Griebnitzsee

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Über dieses E-Book

Als der "Zivi" Georg bei Susanne Burkard auftaucht, ein Geiger, der im nächsten Jahr an der Weimarer Musikhochschule studieren wird, steigen in der, inzwischen 54-Jährigen Bilder auf, wie sie einst jung war und für die Kunst brannte. Vom sächsischen Euba unternahm sie Fahrten in die Westberliner Kinos, lernte den Produzenten Atze Brauner kennen und wurde endlich 1959 an der damals noch jungen, heute legendären Babelsberger Filmhochschule aufgenommen. Dozenten wie Studenten waren in Villen bekannter Ufa-Schauspieler und Industrieller untergebracht, Die Villa am Griebnitzsee, in der 1945 Stalin während des Viermächtetreffens gewohnt hatte, ein Zentrum der Hochschule. Trotz aller Zwiespältigkeit erlebte Susanne in Babelsberg vier wundervolle Jahre. Die "Ankunft" im Alltag der Ernüchterung, ließ nicht auf sich warten, Susanne erzählt dem jungen Mann, zunehmend auch sich selbst. Beim Abschied Georgs am Ende seines Zivildienstjahres ist Susanne, als sei sie selbst noch einmal auf dem Weg.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. März 2015
ISBN9783738020656
Villa am Griebnitzsee

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    Buchvorschau

    Villa am Griebnitzsee - Beate Morgenstern

    Widmung

    Für Sibylle Hentschel und Studenten aus ihrem Seminar Szenaristik

    an der Filmhochschule von Babelsberg 1959/63

    Thies Engelmann

    Werner Mühle

    Ulrich Plenzdorf (†)

    Thea Richter (†)

    und weitere Kommilitonen:

    Carmen-Maja Antoni, Hilmar Baumann, Celino Bleiweiß,

    Barbara Dittus (†), Elke Gericke, Gerd Gericke, Renate Heymer,

    Günther Junghans, Hartmut Lange, Rolf Liebmann. Carlos Mundt,

    Inge Ristock, Helga Schütz, Katja und Christian Steinke, Ilse Stroh,

    Jutta Wachowiak, Lothar Warnecke (†), Karin Waterstraat, Peter Wuss

    und Mitglieder des Lehrkörpers:

    Hans Lohmann

    Rolf Richter

    I

    Schritte die Treppe hinauf. Jemand, der sich darauf eingerichtet hatte, nirgendwo anzuhalten, bis zur Dachwohnung hinaufzusteigen. Susanne immer das Ohr am Hausflur. Die Liege an der Wand zum Flur. Da verbrachte sie viel Zeit am Tag. Susanne richtete sich auf, langsam, ließ die Beine zu Boden gleiten. Ging zur Tür. Zimmer- und Flurtür dicht nebeneinander.

    Sie erwartete ihren Besuch meist in der offenen Tür. Überraschend für die Besucher, wenn sie um die Hauswandecke bogen und Susanne sahen. Das nächste Mal wird Georg kommen, hatte Marco gesagt. Ingo, Ulf, Marco ... Nun Georg. Hinter der Hauswand tauchte er nun auf: Nicht groß, schwarze Jeans, knöchelhohe Lederschuhe. Trotz seines jungenhaft vollwangigen Gesichts schneidig, wie man früher gesagt hätte. Die mittel blonden Haare kurzgeschnitten, hochstehend. Er sah aus wie die jungen Burschen, die vor fünfzig Jahren in den Krieg gezogen waren mit eben diesen kurzgeschnittenen Haaren. Manche hatten runde Brillen getragen wie er. Nie würden junge Männer wieder so aussehen, hatte sie gedacht, so deutsch, so schneidig. Nun war es wieder Mode geworden, sich die Haare bis über die Ohren abzurasieren. Auch Deutsch war wieder in Mode gekommen. Susanne konstatierte emotionslos. Er sah aus wie einer, der wusste, was er wollte. Sah jedenfalls so aus. Sie sind also der Georg!, sagte Susanne, reichte ihm die Hand. Susanne ging ihm voran in die Wohnung, zeigte ihm, wo er alles fände.

    Ein E-Piano!, sagte Georg verwundert, als er das Zimmer betrat, in dem sie sich am meisten aufhielt. Neben breiter Liege, kleinem alten Sofa, Sesseln, zugehörigem ovalen Tisch und Glasschränkchen hatte am Fenster gerade noch ein E-Piano Platz gefunden.

    Ich hab's gegen mein Klavier eingetauscht, antwortete Susanne, schaute Georg an, um sich an sein Aussehen zu gewöhnen. Keiner der Jungen bisher hatte sich für ihr kleines Piano interessiert. Am liebsten suche ich mir nach Gehör Filmmusiken zusammen, sagte sie.

    Man hat mir schon erzählt, dass Sie was mit Film zu tun hatten.

    Susanne lächelte. Sie hatte sich gedacht, dass die Jungen von ihr sprachen. Deren Alltag sicher eintönig, Susanne fiel aus dem Kreis von Menschen heraus, die die Jungen sonst betreuten. Ich schneide Tag und Nacht Filme mit, erklärte sie. Vor allem Komödien. Und Filmklassiker. Als ich nach der Wende Geld geschenkt bekam, habe ich mir als Erstes einen Videorecorder angeschafft. Stummfilme kommen natürlich kaum im Fernsehen. Auch selten die sowjetischen Filme. Iwan Grosny fehlt mir zum Beispiel und Tschuchrais Klarer Himmel.

    Tschistoje nebo, sagte Georg mit unbeweglichem Gesicht.

    Ulf hatte Susanne gefallen, Marco ebenfalls, selbst Ingo. Zu jedem hatte sie eine Beziehung aufgebaut. Ganz gewiss würde sie sich auch gut mit Georg verstehen. Sie gehören noch der Generation an, die etwas Russisch können, sagte sie.

    Mehr als etwas. Georg griente hinter seiner runden Goldrandbrille. Sein Jungengesicht nun noch voller. Wir haben in der SU gelebt. Und dann war ich hier auf der Russisch-Spezialschule.

    Ihre Familie war in der Sowjetunion?

    Meine Eltern haben dort gearbeitet. Mein Vater als Kernphysiker, meine Mutter als Informatikerin.

    Ich war nie in der SU. Ich habe russische, sowjetische Literatur gelesen, herrliche Filme gesehen. Aber ich war nie dort.

    Da war doch jeder, sagte Georg.

    Wie gesagt, ich kenne das Land nur durch Bücher und Filme. Herrliche Filme. Dowshenko Die Erde, Die Ballade vom Soldaten, Die Kraniche ziehen. Habe ich neulich im ORB mitgeschnitten. In Susanne begann das Lied, das sie seit Wochen hörte:

    Die Kraniche hoch droben ziehn am Himmel ihre Bahn. Schau einmal hin, schau zweimal hin und schau mich wieder an. Veronika tanzt und singt, während sich Boris auf einem Stuhl weiter bemüht, eine Verdunklung am Fenster anzubringen. Sehr inhaltsreich bemerkt er. Veronika zieht ihn vom Fenster hinunter auf den Boden, setzt den Fuß auf ihn. Du hast mich besiegt, sagt er. Du bist besiegt, du bist besiegt. Veronika springt durch das Zimmer, sieht dann aus dem Fenster. Sag mal, können sie dich nicht einberufen?, fragt sie. - Natürlich! - Aber freiwillig gehst du nicht. Wenn's sein muss, gehe ich.

    Langes Sitzen strengte Susanne an. Sie legte sich hin, schob sich ein Kissen unter den Kopf, bat Georg, auf einem Sessel in ihrem Blickfeld Platz zu nehmen. Immer versuchte sie, mit den jungen Männern zu reden, wenn sich nur irgendein Ansatzpunkt ergab.

    Veronika schleicht sich durch die elterliche Wohnung. Die Mutter dreht sich im Bett, wendet sich an den Vater: Er hat ihr den Kopf verdreht. - Und sie ihm, entgegnet der Vater. Liebe, meine Teure, ist ein gegenseitiges Kopfverdrehen.

    Susanne begann von dem Film zu erzählen, dessen Musik ihr nicht aus dem Kopf ging und infolgedessen auch die Bilder nicht. Es war der Erste, verstehen Sie, der allererste, in dem der große Bruder nicht von Helden berichtete, sondern von dem Elend, das der Krieg über die einfachen Menschen brachte. Ein Ereignis, als er Ende der 50er Jahre in den Kinos lief. Eine Liebesgeschichte. Dann kommt der Krieg. Eine Geschichte auch von Verrat. Bisweilen gibt es sarkastische Momente.

    Boris hat seinen Einberufungsbefehl erhalten. Der Junge, sein Vater, die Schwester, die Großmutter sitzen um einen Tisch und warten auf Veronika. Zwei Komsomolzinnen platzen in die Abschiedsrunde, um patriotische Grüße von der Komsomolorganisation auszurichten. Boris' Vater, Arzt, rundes, doch nicht volles Gesicht, Brille, Schnurrbart, hohe Wangenknochen. Vor Gram um seinen jüngsten Sohn außer sich, fällt er in die Rede der beiden Mädchen ein: Halten Sie durch bis zum letzten Blutstropfen, sollen Sie sagen. Fast schreit der Vater. Schlagen Sie die verdammten Faschisten, während wir hier weit hinten die Pläne erfüllen und übererfüllen werden! Die Mädchen lassen sich von ihrem Geplapper nicht abhalten. Bei einem ist gerade Abschied vom Bruder gefeiert worden. Mutter hat so geweint, berichtet das Mädchen stolz. Und Sie?, fragt der Vater grimmig. "Ich auch." - Im Auftrag der Betriebsgewerkschaftsleitung oder von sich aus?

    Ein pazifistischer Film, sagte Susanne. Selbst vor der Darstellung einer Vergewaltigung schreckte man nicht zurück. In Bildern, Symbolen: Stiefelschritte, die auf Glasscherben gehen. Wenn man die Sprache des Stummfilms kennt, ganz eindeutig. An unserer Schule hat man's jedoch geleugnet.

    An Ihrer Schule?, fragte Georg.

    An der Filmhochschule. Nach dem Vorbild der WGIK geschaffen, der berühmten Hochschule in Moskau.

    In Babelsberg, ich weiß, sagte Georg.

    Er weiß, wie schön. Natürlich weiß er, dachte Susanne, versuchte mit einer Gegenfrage von dem Gesprächsthema abzukommen, das ihr immer das liebste von allen war. Und darf man fragen, was Sie nach dem Jahr als Zivi vorhaben?

    Ich werde Geiger, sagte Georg schlicht.

    Geiger? Violinist?

    Ich habe eine Zusage von der Weimarer Hochschule.

    Also darum die Frage nach meinem E-Piano!

    Vielleicht werde ich auch Tonmeister, schwächte Georg ab.

    Kunst oder Kommerz! Susanne riss ihren Mund weit zu einem Lachen auf, was sie sich leisten konnte. Obwohl Mitte 50, hatte sie ihr vollständiges Gebiss, starke regelmäßige Zähne. Auch ihr braun-schwarzes Haar zeigte kaum Graufäden. Wie zum Hohn hatte ihr die Natur äußerlich ewige Jugend gegeben. Von kräftiger Gestalt, sah sie immer blühend aus, wie das bei Hochdruck-Kranken überwiegend der Fall ist.

    Das erste Gespräch mit Georg war geführt. Susanne hätte sich auf jeden jungen Mann eingerichtet. Doch bei Georg handelte es sich wohl um einen Glücksfall. Musiker war er!

    Die Zivildienstleistenden hatten leichte Arbeit bei ihr. Sie holten ein, trugen Mülleimer hinunter, kehrten und wischten die Treppe, blieb Zeit genug, unterhielt sie sich mit den Jungen. Vor allem brauchte sie jemanden, mit dem sie reden konnte.

    Susanne verabschiedete Georg für diesen Tag.

    Die Familie von Boris am Frühstückstisch. Ein leerer Stuhl Unglaublich! - Er arbeitet so viel, entschuldigt die Großmutter. Diese Arbeit wird mit einer Hochzeit enden, spottet die Schwester. ... Man hört eine Meldung im Radio: Hier sind alle Sender der Sowjetunion und Radio Moskau. Achtung. Blick auf den schlafenden Boris. Der Bruder Mark kommt herein. Boris, es ist Krieg. - Lasst mich schlafen.

    Jeden Dienstag, jeden Donnerstag erschien Georg. Einmal war er länger krank. Ein anderer kam. Susanne wartete, dass Georg wieder gesund würde. Anfangs brachte er bei jedem Besuch etwas mit. Als Erstes eine Schallplatte, die Aufnahme von einem Konzert des ehemaligen Musikschulorchesters der DDR, nunmehr von Gesamtdeutschland, zur Einweihung des neuen Parlamentsgebäudes in Bonn im November 92. Georg hatte im Orchester mitgespielt.

    Georg erzählte von der Musik, die er mit einer Band machte, Geige, Mandoline, Banjo, Bass, E-Gitarre. An den Wochenenden zogen die jungen Männer über die Dörfer. Dann brachte er eine Tonbandkassette seiner Musik mit. Das ist Blue Grass, sagte er.

    Blaues Gras?

    Ja, nach dem Gras benannt, das in Kentucky wächst.

    Susanne fiel die blaue Blume der Romantik ein. Blau die Farbe der Treue, aber auch der Sehnsucht. Georg hatte einen Traum. Auch sie hatte geträumt. Sie träumte immer noch. Ihr Leben kannte keine Zukunft mehr. Doch die Welt der Illusion, des Films, war ihr geblieben.

    Susanne legte die Kassette ein. Die Musik rhythmisch, sehr melodiös, virtuos, die Geige fiedelte, unglaublich das Tempo, schon in den Jazz gehend. Es war genau die Art Musik, die Susanne mochte. Nun verstand sie, dass Georg Pullis mit aufgedruckten indianischen Mustern trug. Es geschah aus Verehrung zu diesem Land, in dem das blaue Gras wuchs, zu seiner Geschichte. Gefällt mir, Georg, gefällt mir sehr, sagte sie.

    Ihren Ursprung hat die Musik bei den Schotten, den ersten Einwanderern, erklärte Georg. Übrigens haben Sie eine gute HiFi-Anlage.

    Ich hab sie mir Stück um Stück gekauft. Ich bin schon immer für gute Tontechnik zu haben gewesen. Und wenn ich deshalb nur trocken Brot essen müsste. Sie lachte.

    Georg verzog leicht den Mund, woran Susanne sah, ihr einfacher Scherz hatte Erfolg. Ihr war es immer darum zu tun, die Menschen um sie zum Lachen, zu guter Laune zu bringen.

    Na ja, Frau Burkard, was ich für Sie einkaufe, ist schon dürftig!

    Ich muss mein Gewicht halten. Fleisch darf ich wegen meiner Diät sowieso kaum essen. Also leiste ich mir CDs, einen guten Fernseher, eine HiFi-Anlage.

    Dieses Mal hatte Georg eine Kassette bei sich gehabt. Ein anderes Mal war es ein großer Apfel. Er bestand darauf, ihn in der Mitte durchzuschneiden und ihr die Hälfte zu geben.

    Immer mehr bezog Susanne Georg in ihre Gedanken ein. Die Nähe war leicht herstellbar. Georgs Großmutter lebte im selben Ort wie Susanne, ein Teil noch zu Berlin gehörig, er wohnte mit seiner Familie im Nachbarort, noch im S-Bahnbereich. Das Haus seiner Eltern offenbar von Rückübertragungsansprüchen nicht betroffen wie Häuser sehr vieler anderer hier. Raffe, raffe, Häusle klaue, nannte man im Volksmund den Entscheid Rückgabe vor Entschädigung. Man war in Deutschland angekommen. Und dieses Deutschland war kalt. Aber es gab diese jungen Männer, Ersatz für die Hauswirtschaftspfleger in DDR-Zeiten, damals Aussteiger zumeist, die Alten und Bedürftigen geholfen hatten.

    Georg hatte seinen Professor in Weimar besucht. Der Professor war mit ihm zufrieden gewesen. Georgs kindlich-schneidiges Gesicht nun nur noch kindlich, als er davon sprach. Dann wieder war er müde von den Auftritten seiner Band am Wochenende. Geld spielte eine große Rolle. Die Band brauchte Technik, Verstärker, Mikros. Die Jungen sparten. Blieb bei den Besuchen Zeit zum Reden, erzählte Susanne Georg von Filmen und Geschichten, die sie gehört oder selbst erlebt hatte.

    Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie laut mit Georg sprach, obwohl er nicht da war.

    Ich komme aus kleinen Verhältnissen, erklärte sie dem abwesenden Georg. Ich hab wohl das Klavier zu Hause traktiert, unheilbar verstimmt seit der Überschwemmung der Euba in den zwanziger Jahren, aber mehr war für mich nicht drin. Eines Tages hätte ich den Laden meiner Mutter übernehmen sollen.

    Von frühmorgens bis spätabends und oft noch am Wochenende das Läuten der Klingel. Die Mutter läuft in den Laden: Gudn Tach, Frau Sowieso, gudn Tach, Herr Sowieso, was darf'sn sein? Um Pfennige, um das Geld, Geschäft dreht sich alles. Schon als Vierjährige rennt Susanne ins Kino, hat bei Kino-Marquardt ihren Platz. Für eineinhalb Stunden schaut sie in eine andere Welt, in der Mut etwas gilt, und Ehrlichkeit und Gerechtigkeit sich durchsetzen. Oder die einfach schön ist, leicht, heiter:

    Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt, ein Freund bleibt immer Freund, selbst wenn die ganze Welt zusammenfällt ...

    Von nichts kommt nichts. Immer gibt es irgendeinen Anstoß, der den Stein ins Rollen bringt. Sonst liegt er da, rührt sich nicht. Es kann nicht sein, denkt der Mensch. Wie kann etwas sein, was nie war! Die Mauksch-Irmgard verdirbt dich!, barmt die Mutter. Sie setzt dir Flausen in den Kopf! Mitten in der Verwandtschaft von Händlern und Gastwirten Mauksch-Irmgard, eine Sängerin! Die bringt Susanne darauf, dass es beim bloßen Wünschen, Sehnen nicht bleiben muss. Mauksch-Irmgard nimmt Susanne in eine Premiere nach Dresden mit. Der Vorhang geht auf. Die Welt, die sie dort sieht, hat nichts mit der gemein, in der sie lebt. Von da an wird Susanne von Kino, Film, Theater nicht mehr lassen. Und wenn sie Platzanweiserin würde, wie Susannes leibliche Mutter, die sie wenige Jahre später kennenlernt.

    Mauksch-Irmgard verschwindet zu einem westdeutschen Industriellen nach Bayern. Susanne marschiert zum Chefdramaturgen des Theaters von Karl-Marx-Stadt, vormals Chemnitz, nachmals Chemnitz oder Karl-Chemnitz, wie ein ehemaliger Studienfreund zu sagen beliebt. Mauksch-Irmgard hat sie noch bekannt gemacht. Susanne kann sogar ein Anliegen vorbringen. Für den Schulfunk kommt sie. Auch ein Chefdramaturg kann oder will vielleicht nicht Nein sagen, wenn ein Kulturobmann der FDJ in quasi gesellschaftlichem Auftrag zu ihm kommt. Und erst recht nicht, wenn er Susanne heißt. So ein Typ fällt auf, draufgängerisch, kräftige Gestalt, dicker, schwarzer Pferdeschwanz, engstehende gelbe Augen, breite Wangenknochen, lange gebogene Nase, kleiner voller Mund wie ein küssendes Herz im Gesicht. Das Gespräch dehnt sich aus. Friedrich Wolf, in der Schule gepriesener Autor von Professor Mamlock, Zyankali, wird von dem Chefdramaturgen achselzuckend zur Seite getan. Wir müssen die Stücke spielen, sagt er. Das wirkliche Leben, die wirkliche Kunst ist was anderes. Und Pavel Kohout?, fragt Susanne. Nee, sagt der Chefdramaturg. Schauen Sie sich Goldoni an, das ist Theater, die Commedia dell'Arte. Molière.

    Susanne erhält Maßstäbe, wird sich von Gerede nicht mehr irremachen lassen.

    Der untergeordnete Dramaturg Susannes nächster Ansprechpartner. Ich interessiere mich für Theater, sagt sie. - Und was interessiert Sie am Theater? - Warum die Leute auf das eine Stück so gut reagieren, auf ein anderes weniger. - Na, was meinen Sie denn, warum? Was macht Kunst aus? Wie wirkt Kunst? Warum sind bei bestimmten Stellen die Leute ergriffen? Ein Plan steckt dahinter, ein Gefüge, erkennt Susanne.

    Der Chefdramaturg bietet Susanne an, in eine Generalprobe zu kommen. Wallenstein. Mitten im Text unterbricht der Regisseur, ruft etwas nach oben. Der Schauspieler zieht den Degen. Wirft ihn auf den Boden. Ist ja Mist!, ruft er. Wenn Sie noch einmal so mit mir sprechen, lass ich mir das nicht gefallen. Was ist das für eine Art! Er spricht volltönend, mit Röhre - Sie haben gefälligst meine Konzeption umzusetzen!, donnert der Regisseur. Und wenn Sie das nicht bringen, dann fällt meinetwegen heute Abend die Premiere aus!

    "Wenn ich irgendeinen Witz anfange, stiehlst du die Pointe, wenn ich Diät esse, nimmst du ab. Wenn ich mich erkälte, du hustest. Und wenn wir jemals ein Kind bekommen sollten, dann bist du wahrscheinlich die Mutter." Die gefeierte Schauspielerin Maria Tura hat einen ihrer spontanen Auftritte hinter der Bühne. "Wenn ich der Vater bin, bin ich zufrieden", entgegnet Joseph Tura trocken.

    Da haben wir's ja mal wieder, schreit der Schauspieler, dann fällt die Premiere aus!

    Der Assistent redet auf den Regisseur ein. Die Schauspieler oben auf der Bühne schauen beiseite oder lachen. Dann sagt der Regisseur: Ich habe es so und so gemeint und möchte Sie bitten. - Hmhm. Der Schauspieler hebt den Bühnendegen wieder auf. Sagt: Na ja, das muss ja sein. Wenn es bei der Generalprobe keinen Krach gibt, geht die Premiere schief! Steckt den Degen in die Scheide. Gelächter.

    Sein oder Nichtsein, flüstert die Souffleuse. Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: sagt Joseph Tura mit bebender Stimme. Und wieder verlässt wie auf Stichwort der polnische Offizier Sobinski in der dritten Reihe den Zuschauerraum.

    Mit den Generalproben bekommt Susanne nur ein Endergebnis vorgeführt. Sie will nun an den Proben teilnehmen, in denen alles entsteht. Endlich wird es ihr gestattet. Der Dramaturg kann den Schauspielern erklären: Das Fräulein Burkard bewirbt sich an der Filmhochschule. Susanne saust unter dem Vorwand, den Schulfunk aufzubauen, ins Theater, besucht alle Opern, Schauspiele. Karten liegen für sie bereit. Bis das dicke Ende kommt: das Abitur. Die Klasse war durch Schulen gewandert, an unfähige, überforderte Lehrer geraten. Viele Schüler gaben vorher auf. Der Rest paukt, versucht nachzuholen. Acht fallen durch. In Mathematik war Susanne einmal gut. Sie schafft eine knappe Vier, ein Mangelhaft vor dem völligen Ungenügen, der Fünf. Bei der mündlichen Prüfung eine unerklärliche Gedankenleere. Selbst die binomischen Formeln sind ihr entfallen. Wenn man sie doch nach einem Film, einem Theaterstück fragen würde!

    Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher? Joseph Tura zu dem polnischen Offizier Sobinski, den er in seinem Schlafzimmer vorfindet. - Bin abgesprungen mit einem Fallschirm. - Ach, mitten in mein Bett? In das Gespräch zwischen Joseph Tura und Offizier Sobinski, der aus England zurückkehrte, um den Spion Siletsky unschädlich zu machen, kommt Maria Tura. Es sei keine Zeit zu verlieren, erklärt sie. Sie müsse mit Siletsky essen gehen und ihn umbringen. Joseph versteht kein Wort, weist auf alle Fälle Sobinski in die Schranken: Ich entscheide, mit wem meine Frau essen geht und wen sie umbringen soll. - Haben Sie denn gar keinen Patriotismus?, entgegnet Sobinski. - Joseph Tura erbittert: "Jetzt hören Sie mal genau zu. Erst stehlen Sie sich aus meinem Monolog. Und dann stehlen Sie sich in meine Pantoffeln, und dann bezweifeln Sie meinen Patriotismus. Ich bin ein guter Pole. Ich liebe mein Vaterland, aber auch meine Pantoffeln! ... Ich bestelle Herrn Siletsky einfach ins Gestapo-Hauptquartier, und wenn ich ihn umgebracht habe, dann seid ihr vielleicht so liebenswürdig und sagt mir, warum.

    Georg brachte die Einkäufe nach oben. Zeit zum Reden war nicht geblieben. Auch war er unlustig, schlecht gelaunt. Die Wochenenden unterwegs mit seiner Band überanstrengten ihn offenbar. Er schaute auf seine Uhr, nahm seinen Lederrucksack auf.

    Susanne hätte es gern gehabt, wenn Georg gefragt hätte. Sie hätte gefragt, sie war immer neugierig auf Menschen gewesen. Frau Burkard, waren Sie auch in der Partei?, hätte Georg fragen können. Die Frage stellte sich jetzt immer. War man Mitläufer, gar engagiert gewesen? Vielleicht waren Georgs Eltern in der Partei gewesen, hatten ihre Ideale gehabt, möglicherweise sogar bis zum Ende an die Reformierbarkeit des Sozialismus, an den Sozialismus mit menschlichem Antlitz geglaubt. Im Alter von Georgs Eltern ging man freiwillig in die Sowjetunion, wurde man nicht wie nach dem Krieg als Spezialist gezwungen. Ich war Junger Pionier, hätte Susanne geantwortet. Gegen den Widerstand meiner Mutter und meiner alten Verwandten. Ich beschimpfte sie Schmarotzer, Parasiten. Sie nannten mich Verräter, denn mein Vater war als angeblicher Nazi im Lager umgekommen. In der FDJ war ich zunächst glühendes Mitglied, bis ich merkte, da funktionierte nichts außer den Fahnenappellen. Und Resolutionen wurden verfasst. Ich war in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, weil wir die Lehrerin mochten und uns ehrlich mit dem Volk aussöhnen wollten, dem wir soviel Unrecht angetan hatten. Ich war mit dem russischen Volk und seinen edlen Zielen einverstanden. Den kleinen Leuten sollte es gut gehen. Die sollten nicht auf der Straße rumstehen, nicht wissend, wohin vor Langeweile. Im Kulturbund war ich, weil ich wollte, dass wir in der Schule Zirkel gründeten. Und in der GST, der Gesellschaft für Sport und Technik. Da allerdings nicht freiwillig. Wir wussten, es war eine paramilitärische Organisation. Wir vom Jahrgang 38 waren ja alle Kinder, die den Krieg, Nachkrieg miterlebt hatten, kannten die Folgen vom Krieg, waren mit Flüchtlingskindern aufgewachsen, die ihre Heimat verloren hatten. Schon als die Polizei gegründet wurde, war uns nicht wohl. In der Bevölkerung war sie verachtet. Wir wollten die Gesetzlosigkeit nach dem Krieg natürlich auch nicht. Doch dass die Polizei in unseren Augen weniger gegen Kriminelle vorging als gegen Politische, missfiel uns allen. Im Sinne Makarenkos wollte man Menschen helfen, die gestrauchelt waren. Sie sollten wieder nützliche Glieder der Gemeinschaft werden. So weit richtig. Doch man maß mit zweierlei Maß. In die GST wollten wir auf keinen Fall. Doch da gab es diesen Mathelehrer. Er verachtete uns, brachte sein Pensum ohne Rücksicht, ob wir mitkamen oder nicht, so dass wir zu den wenigen Schülern gingen, die zu Hause gearbeitet hatten, uns von denen erklären ließen. Und er machte sich unsere Angst zunutze. Eines Tages kam er in die Klasse, sagte: Meine Damen, hier! Wir waren eine reine Mädchenklasse. Er hatte einen Stoß Anträge für die GST in der Hand. Wir: Nö, was sollen wir dort? Er: Wer interessiert sich? Zwei Fingerlein meldeten sich. So, ich lege die Zettel hier vorn hin, sagte er. Ich komme in 'ner viertel Stunde zurück. Entweder sind die Zettel ausgefüllt, oder wir schreiben eine Mathematikarbeit, bei der keine von euch mehr haben wird als eine Vier, die meisten eine Fünf. Er ging raus. Wir sahen uns an, griffen uns die Zettel. Als er reinkam, schaute er sich den Stapel an, lächelte. Warum nicht gleich so, meine Damen! So war ich Mitglied in der FDJ, der DSF, im Kulturbund und in der GST. Und wurde dann auch Mitglied einer Partei. Aber nicht der. Ein Mädchen aus der Klasse schrieb Lokalspitzen. Das kannst du doch auch, sagte sie. Das Mädchen war bei der Volksstimme. Da konnte ich also nicht hin. So ging ich zum Blatt der NDPD, der Nationalen. Na ja, sagte der Redakteur, das ginge schon. Aber Sie müssten erst Mitglied unserer Partei werden. - Geben Sie mir ein Aufnahmeformular, sagte ich. Er tat es. In fünf Minuten war ich Mitglied einer Blockpartei. Es war lächerlich, und so nahm ich es auch. Unter dem Motto: Wenn die's so wollen, wenn die so blöd sind! Ihre Generation hat es denen ja nicht mehr so leicht gemacht. Georg hätte gegenreden können oder nicht. Aber Georg war nicht mehr da.

    Hässlich ist Nanne. Nanne, das hässliche Mädchen. Die Mutter hackt auf Nanne herum. Nanne muss es glauben. Sie zieht Hosen an, um ihre Beine nicht zu zeigen, wird das Hosenmädchen genannt. Die Mutter schleppt Nanne zur Schneiderin, macht Vorschläge. Die Schneiderin nimmt Nanne zur Seite: Hör bloß nicht auf deine Mutter, sagt sie. Du hast doch Geschmack! Susanne kauft sich in Westberlin eine James-Dean-Weste, die dreißig Westmark kostet beim Kurs 1:5, eine Strickjacke mit Samteinsatz vorn und einen Wintermantel für umgerechnet 300 Ostmark. Im Sommer zwei Kleider. Sie trägt geschneiderte BHs. Bis sie an die Schule kommt. Ein Mädchen aus dem Nachbarzimmer begutachtet ihre eigentümliche Ausrüstung, schleppt sie nach Potsdam, zwingt sie, einen Teil ihres Stipendiums für zwei BHs der neuesten Mode auszugeben, Monroe-Büste mit Körbchen. Der Erfolg umwerfend. Im Seminar übergeht man noch Susannes Vervollkommnung. Aber als Susanne in die Regieklasse tritt, anerkennende Laute, Pfiffe. Donnerwetter, sagen die Jungs. Die Schauspielmädchen schneiden Susanne die Haare kurz. Die Mädchen schminken sie. Susanne nicht mehr das hässliche Mädchen. Eine List der Mutter war es, die alles tat, um Susanne von den Jungen fernzuhalten. Nicht einmal auf den Tanzboden hatte sie sich gewagt.

    Dass ich nicht tanzen ging, ist mir bei meiner zweiten Aufnahmeprüfung an der Schule fast zum Verhängnis geworden. Susanne sprach in Gedanken wieder mit Georg. Gehen Sie tanzen?, fragte der Parteisekretär. Nein, sagte ich. - Ein junges Mädchen, das nicht tanzt?, fragte der Parteisekretär, schüttelte den Kopf. - Ja, ich muss doch immer Klavier spielen, hab ich schnell gesagt. Dann tanzen die anderen. Und als ich es dann mal probiert habe, habe ich gemerkt, ich hab den Takt nur in den Händen, nicht in den Füßen! Lacher in der Runde. Ich hatte gewonnen.

    Den Takt hat Susanne nicht nur in den Händen. Aber wie kann sie tanzen gehen, wenn sie sich vor Scham kaum auf die Straße getraut. Sie zieht sich nach Hause zurück. Liest. Und sie kauft Bücher. Verwendet während der Oberschulzeit ihr Essengeld dafür, Friedensware aus dem Lager zu Hause, die ihr die Mutter gibt, Kurvenlineale, Zirkelkästen bessern außerdem ihre Kasse auf Susanne räumt den Bücherschrank zu Hause um. Die Bücher in der hinteren Reihe bringt sie zu den alten Verwandten, den Boehms, stellt ihre hinein, stellt die von hinten langsam nach vorn. In einem entfernteren Raum ihres Hauses existiert ein alter Bücherschrank des Vaters. Vorn Nazischwarten. Verlag Eder Volk unter dem Hammer. In der zweiten Reihe Bücher ganz anderer Art, Weltliteratur durchweg. Susanne lernt ihren Vater von einer neuen Seite kennen. Und für Biologie, Geologie interessierte er sich. Die Nazischwarten der Alibireihe verschwinden. Weltliteratur gesellt sich zu Weltliteratur.

    An meinem Vater hab ich gehangen wie an niemandem sonst, dachte Susanne. War er da, war alles gut.

    Banker war der Vater in Chemnitz.

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