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Und das Fleisch ist wach
Und das Fleisch ist wach
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eBook293 Seiten4 Stunden

Und das Fleisch ist wach

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Über dieses E-Book

Peter wacht an ein Krankenhausbett gefesselt auf und kann sich zunächst an nichts erinnern. Er bemerkt, dass er, wie nach einer Operation, an Apparate angeschlossen ist und immer wieder über ferngesteuerte Infusionen in den Schlaf versetzt wird. Verzweifelt versucht er, hinter das Geheimnis seines merkwürdigen Schicksals zu kommen und beginnt seine bruchstückhaften Erinnerungen zusammenzusetzen. Er vermutet zunächst, dass er einem Organdiebstahl zum Opfer gefallen ist, kann aber in gefesseltem Zustand nicht überprüfen, ob ihm etwas fehlt. Zudem wird jede Anstrengungen wird mit sehr starken Kopfschmerzen quittiert.

Als die Infusion, die ihn zum Schlafen bringen sollte für einmal nicht funktioniert, kann er mit einer Krankenschwester, die ihn pflegen soll, Kontakt aufnehmen. Von ihr erfährt er, dass er sehr krank eingeliefert worden sei und man ihm hier das Leben gerettet habe. Da er langsam seine Erinnerung zurückgewinnt und inzwischen weiss, dass er sich kerngesund mit seiner Freundin Nicki im Urlaub auf einer karibischen Insel befand, weiss er bald, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein muss.

Die Krankenschwester ist aus seiner Sicht glaubwürdig und offensichtlich nicht in die Vorgänge eingeweiht. Obwohl sie und ihre Familie inzwischen bedroht werden und sie gezwungen wird, Peter zu pflegen, wollen sie gemeinsam herausfinden, was genau mit Peter geschehen ist. Sie weiss zunächst nicht, was Peter fehlt und wie er behandelt wurde, bevor sie seine Pflege übernehmen musste. Als sie begreift, dass sie ohne ihr Wissen in ein Verbrechen verwickelt wurde, beschliesst sie, Peter zu helfen.

Parallel versucht Nicki ihren verschwundenen Freund Peter wieder zu finden und verfolgt zusammen mit Miguel, dem Security Chef ihres Urlaubshotels, verschiedene Spuren. Sie kommen zum Schluss, dass Peter einem Organhändler in die Fänge geraten sein musste.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. März 2014
ISBN9783847663911
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    Buchvorschau

    Und das Fleisch ist wach - Joachim Schrott

    Kapitel 1

    Auf dem Mars leben Marsianer und das ist sehr gefährlich

    Mika, 30.11.2011

    Prolog

    Aus dem Discman dröhnte die Musik direkt in ihren Kopf hinein - Main Stream Music, die aktuelle Hitparade. Ein leichter Wind sorgte dafür, dass die stechende Sonne nicht unangenehm auffiel. Ihre Körper waren mit Lichtschutzfaktor sechs eingecremt, mehr brauchte es damals nicht. Sie hörten Puff Daddy mit I'll be missing you, LeAnn Rimes mit How do I live, R. Kelly mit I believe I can fly oder Savage Garden mit I want you. Der Discman, Peters Errungenschaft extra für diesen Urlaub, war ideal für den Strand und fast pausenlos im Einsatz. Mit aufgesetztem Kopfhörer befand man sich sofort in einer anderen Welt und konnte die gewünschte Dosis Realität über den Lautstärkeknopf regeln. Mit einer Adapterkonstruktion schafften sie es, drei Kopfhörer gleichzeitig anzuschliessen. Das brauchte zwar Unmengen an Batterie, war aber cool und liess sie zu dritt in die gleiche Scheinwelt eintauchen. Die drei Wirtschaftsstudenten genossen eine Woche ihrer Semesterferien auf der Ferieninsel Ibiza. Zuvor hatten sie ihre Urlaubskasse mit Ferienjobs aufgebessert und wollten hier so richtig abfeiern. Sich selbst belohnen für die unsäglichen Mühen des vergangenen Semesters an der Uni. Alle drei waren Singles, fanden sich selbst gut aussehend und hatten es sich zum Ziel gemacht, am Ende des Urlaubs wenigstens eine Eroberung feiern zu können. Sie hatten es richtig gut erwischt. Ihr Leben verlief in den richtigen Bahnen, ihre Chancen für die Zukunft waren rosig. Alles hätte in bester Ordnung sein können, ja sogar sein müssen.

    Hier am Strand lagen sie nun seit kurz vor Mittag, an einem Mittwoch im August 1997 und sahen wegen des Sonnencreme-Sandgemischs aus wie panierte Schnitzel. Sie erholten sich vom gestrigen Partytag dem Tag fünf ihres Urlaubs. Nach dem Genuss von Bier und Sangria in nicht überlieferter Menge, fiel das Frühstück mit je zwei bis drei Aspirin und einigen Tassen Kaffee relativ mager aus. Die Welt war noch nicht wieder im Lot. Relaxen und Restalkohol abbauen war angesagt. Und das Verarbeiten des in der Nacht erlebten. Sie hatten seit dem Aufstehen noch nicht darüber geredet, wussten aber alle drei, dass es unumgänglich war. Sie mussten eine Abmachung treffen, wie sie künftig damit umgehen sollten, aber keiner wollte das Gespräch beginnen. Einfach so tun als wäre nichts passiert, ging nicht. Sven, Peter und David hörten Musik und dösten vor sich hin, bis die Batterien des CD-Players leer waren und dieser den Geist aufgab.

    Schliesslich brach Sven den Bann:

    Jungs, wir müssen reden. So geht das nicht. Was ist heute Nacht passiert? Haben wir uns strafbar gemacht? Ist IHR was passiert? Weiss sie wer wir sind?

    Keine Ahnung. Sie ist ja weg. Und was ist eigentlich GENAU passiert? Ich war so besoffen, dass ich nicht mehr alles weiss.

    erwiderte David vorsichtshalber mal. Er wollte von den anderen hören, ob ES tatsächlich geschehen war.

    Gehen wir der Reihe nach. Wir waren in der Disco und machten bei der Schaumparty mit. Überall war es nass und feucht. Die Frauen waren so angezogen, als wollten sie nur das eine. Und sie tranken sich um Kopf und Kragen. Am schlimmsten fand ich die Engländerinnen.

    Ja, aber so richtig landen konnten wir dann doch bei keiner, weil sie immer in Gruppen unterwegs waren.

    Und als es schon fast hell wurde sind wir raus an die frische Luft und wollten zurück ins Hotel. Bis dahin sind wir uns wohl einig. Dann hat uns diese blonde Tussi angequatscht. Auf Deutsch. Und sie hat gefragt warum wir jetzt schon gehen, weil sie uns doch noch alle drei vernaschen wollte.

    Genau so war's. Das hat sie gesagt!

    Ja, sie hat's nicht anders gewollt. Sie ist ja auch freiwillig mit in unser Hotel gekommen.

    Um mit uns zu vögeln.

    Als wir dann drin waren und die Türe geschlossen war, wollte sie auf Klo. Vielleicht hat sie dort gekotzt?

    Sie hat, ich hab's gehört.

    Dann kam sie raus und hat sich aufs Bett gesetzt. Und sie meinte, dass sie jetzt doch lieber geht und es eine doofe Idee war, mit zu uns zu kommen.

    Bis dahin waren sich die Jungs also einig. Trotz möglicher, kurzzeitiger Filmrisse.

    Und dann?

    Peter wollte es von den anderen hören.

    Dann hat Sven sie daran erinnert, warum sie eigentlich hier war. Aber sie wollte nicht mehr so richtig, hat aber auch nicht 'nein' gesagt. Und ihr war so schwindlig, dass sie sich hinlegen musste und sie die Augen schloss. Wegen dem Alk und wer weiss was sie sonst noch hatte. Und als sie auf dem Rücken lag, hast du, Sven, ihr T-Shirt hochgeschoben. Sie hatte nichts drunter. Und du hast sie angefasst, mit ihren Titten gespielt. Aber sie hat gar nicht reagiert. Nur kurz etwas Unverständliches gelallt. Und dann hast du ihre Hose runtergezogen und Peter und ich sind auf den Balkon gegangen.

    Scheisse, ja. Als ich fertig war, bin ich zu euch raus und David ist reingegangen. Wir haben euch vom Balkon aus gesehen. Sie hat mit den Armen gerudert und auch was gesagt. Was denn?

    David schaute beschämt in den Sand.

    Mittendrin wollte sie plötzlich aufhören und gehen, aber ich habe sie nicht gelassen und weitergemacht. Ich kann ja nicht mittendrin aufhören. Aber gewehrt hat sie sich nicht. Sie war einfach passiv. Danach bin ich raus zu euch. Sie war schon wieder eingeschlafen. Und Peter war dran.

    Aber du warst zu besoffen, standest vor ihr und wolltest nicht oder hast keinen hochgekriegt. Stattdessen bist du ins Bad, um eine Runde reihern.

    Da war es schon wieder hell und sie hat einfach nur gepennt. Wir haben sie dann zu dritt gepackt, aus dem Zimmer gezogen, in den Lift getragen und in die Lobby gebracht. Weil keiner da war, haben wir sie in einen Sessel gesetzt und sind wieder hoch gegangen, um zu pennen.

    War das jetzt eine Vergewaltigung? Sie wollte es doch. Wir haben es alle drei gehört

    Aber nur am Anfang, dann nicht mehr. Sie hat sich ja sogar ein bisschen gewehrt. Wahrscheinlich würde das vor Gericht schon so gewertet werden.

    Gibt es mildernde Umstände, weil wir zu betrunken waren?

    Wieso Gericht? Wahrscheinlich kann sie sich gar nicht mehr daran erinnern. Ich weiss ja auch nicht mehr alles. Ich glaube, ich würde sie schon gar nicht mehr erkennen. Und sie war noch betrunkener als wir.

    Insgeheim war Peter froh, dass er ES nicht getan hatte, auch wenn die Gründe dafür nicht gerade ehrenhaft waren. Die drei Freunde einigten sich darauf, die Wahrheit zu sagen, falls sie jemals eine Aussage machen mussten. Allerdings nur bis zu dem Punkt, als sie sich ins Bett legte. Danach würden sie aussagen, dass sie sich nicht wehrte und allenfalls kurz weggetreten war, aber sie dies gar nicht registrierten, weil sie selbst zu viel Alkohol intus hatten. Wirklich falsch war diese Aussage nicht.

    Bis zu ihrer Abreise mieden sie vorsichtshalber die besagte Disco und verbrachten die letzten Tage an einem etwas weiter entfernten Strand. Das schlechte Gewissen sass tief. Am Flughafen checkten sie sogar einzeln ein und sassen im Flugzeug weit voneinander entfernt. Auf diese Art und Weise wollten sie jeglicher Art von möglicher Konfrontation aus dem Weg gehen. Niemand sprach sie an. Kurz darauf waren sie wieder zu Hause - auf sicherem Boden. Nach der Reise verloren sie nie wieder ein Wort über diese Angelegenheit und kurz nachdem sie das Vordiplom bestanden hatten, verlief auch ihre Freundschaft im Sand. Als Sven die Uni wechselte und David ein Auslandsemester einlegte trennten sich ihre Wege.

    ES war nie geschehen.

    *

    Er war der Star in seinem Dorf, zumindest der mediale Star. Obwohl aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte er es geschafft. Seinen Eltern war dieser Erfolg verwehrt geblieben, sie waren zwar ebenfalls sehr intelligent, doch hatten ihre Eltern es verpasst, ihnen eine anständige Schulbildung angedeihen zu lassen und sie zu fördern. Das sollte ihrem einzigen Sohn nicht passieren. Dieser sollte es besser haben und nun statt ihrer den Erfolg in die Welt tragen. Dafür kämpften sie. Stolz sollte er sie machen, sie wollten der Welt zeigen, zu was ihre Familie fähig war. Seine Eltern waren es auch, die ihn dank ihrer Beziehungen zu einem Redakteur, einige Male in der lokalen Zeitung präsentieren konnten, um über seine Erfolge zu berichten. Sie waren ehrgeizig für ihn und er nahm die Unterstützung dankbar an. Er stand gerne im Rampenlicht und so konnte er seinen verhassten ehemaligen Mitschülern zeigen, was aus ihm geworden ist. Schon als Kind fiel er als intelligent und besonders wissbegierig auf und hatte in der Schule immer die besten Noten. Die Lehrer hatten von dieser Seite nur Gutes über ihn zu berichten.

    Den guten Noten hatte er es auch zu verdanken, dass er nicht von der Schule flog, denn er hatte auch eine andere Seite, eine dunkle. Er spielte Mitschüler gegeneinander aus und spinnte Intrigen, die jedoch selten aufflogen. Was ihn definitiv zum Aussenseiter machte, war aber etwas anderes: er war eines jener Kinder, die Tiere quälten. Nur so zum Spass. Fliegen die Flügel ausreissen, um zu sehen wie gut sie zu Fuss unterwegs waren, Fröschen ein Bein abschneiden, um zu überprüfen, ob sie einbeinig hüpfen konnten (sie konnten es nicht) oder Mäusen die Augen ausstechen, weil er wissen wollte, ob sie den Heimweg auch blind finden konnten. Er stand auch bei der einen oder anderen verschwundenen Katze unter Verdacht, aber nachweisen konnte man ihm nichts. Dazu war er zu schlau. Freunde hatte er keine und brauchte sie auch nicht. Schon früh war ihm klar, dass er die Insel so schnell wie möglich verlassen würde. Sie war zu klein und zu eng für ihn, denn er war zu Höherem berufen.

    So hatte er es nach der Schule dank der Unterstützung seiner Eltern geschafft, ein Stipendium an einer renommierten Universität in den USA zu erhalten. Die Mischung hatte es gemacht. Intelligenz und Fleiss auf der einen Seite, was ihm zu sehr guten Noten verhalf und eine gewisse Durchtriebenheit, das konsequente Ausnutzen von Beziehungen und kriminelle Energie auf der anderen Seite, ohne die er das Stipendium nicht erhalten hätte. In den USA hatte er sich als Waisenkind ausgegeben, hatte sich von entfernten Verwandten, die seinen Eltern einen Gefallen schuldeten, adoptieren lassen, hatte hier und da ein Empfehlungsschreiben gefälscht - und schon war er dabei. Mittendrin. Die geliebte Welt der Forschung stand ihm offen. Plötzlich wurde er für das Zerstückeln von Fröschen nicht mehr gehasst, er tat es nun im Dienste der Wissenschaft. Gelernt hatte er dabei, dass man sehr weit kam, wenn man es mit der Wahrheit nicht allzu genau nahm, wenn man Einfluss nahm und manipulierte. Lange Zeit hatte er dafür keine Quittung erhalten.

    Er zog sein Medizinstudium schnell und zielstrebig durch. Die guten Noten waren echt, die richtungsweisende Abschlussarbeit schrieb er selbst. Auch die Versuchsreihen entwickelte er selbst, Tierversuche machten ihm nichts aus, im Gegenteil. Die Ratten und Mäuse gaben ihr Leben schliesslich für einen guten Zweck - zum Wohle der Menschheit. Vielleicht war das das Gefährliche an ihm - er war wirklich gut, er hätte die kriminellen Dinge nicht tun müssen, um erfolgreich zu werden. Seine bedingungslose Konsequenz beschleunigte einfach. Geduld zu haben und Umwege zu gehen waren nicht seine Dinge.

    Und so war es für ihn auch selbstverständlich, dass er heute, an einem Mittwoch im August 1997, kurz nachdem er sein Studium mit Bestnoten abgeschlossen hatte, genau in jener Firma anfangen konnte, die er sich für seine Forschungen vorstellte. Hier wollte er mit seiner Doktorarbeit Geschichte schreiben. Der Professor, der sie betreute sowie das Unternehmen, das ihn anstellte und mit profitieren wollte, setzten grosse Stücke auf ihn. Der Erwartungsdruck war gross, doch er wusste, dass er ihm standhalten konnte. Schliesslich hatte er einen Plan. Einen Masterplan, mit dem er in die Geschichte eingehen würde. Dank seiner Forschungen sollte ES in den nächsten Jahren zum ersten Mal geschehen. Die Titelseiten warteten auf ihn.

    1 – Ans Bett gefesselt

    „Scheisse, dachte Peter als er die Augen aufschlug, „wo bin ich hier? Und was mache ich hier? Seine Augen streiften durch den Raum. Was er zu sehen bekam, beruhigte ihn nicht gerade. Er hatte das Gefühl in einem Krankenzimmer zu liegen. Oder präzise ausgedrückt: in einem Krankenhauszimmer. Das Bett hatte zu seinen Füssen eine weiss lackierte Umrandung aus Eisen, an der ein Dokumentenhalter befestigt war, von dem er allerdings nur die Rückseite sah. Über seinem Kopf baumelte ein kräftiges Plastikdreieck an einem Band, welches wiederum an einer Eisenstange befestigt war. Es gab keinen Zweifel. Er lag tatsächlich in einem Krankenhausbett, auf einem weissen Bettlaken, zugedeckt mit einer weissen Decke und blickte auf kahle, weisse Wände. Bei näherem Hinsehen entdeckte er lediglich ein paar dünne Risse in der Wand und zwei Nägel, an denen in früheren Zeiten wohl mal Bilder hingen. Die Gardinen – ebenfalls in weiss – waren zugezogen und hielten die wärmende Sonne etwas zurück. Die Hitze des Tages drückte dennoch durch das Fenster hinein.

    „Verdammt stickig hier, dachte er, „warum macht denn hier keiner das Fenster auf? Ohne sich zu bewegen checkte er den Rest des in seinem Blickfeld liegenden Teils des Raums, in dem es lediglich noch einen Tisch mit glänzenden Metallbeinen und einer weissen Resopalplatte sowie zwei Stühle zu geben schien. Der Tisch erinnerte ihn hierbei irgendwie an den Küchentisch seiner Eltern als er noch ein Kleinkind war. Für einen kurzen Moment fühlte er sich wie in eine frühere Zeit zurückversetzt. Beim Tisch konnte es sich demnach nicht um das neueste Modell handeln. Das einzige was nicht so recht zu diesem Stillleben passen wollte war eine richtig fette Spinne. Zum einen weil sie schwarz war, zum anderen weil sie es sonst nichts Bewegliches, nichts Lebendiges zu geben schien. Von zu Hause kannte er diese Art Spinne nicht. Viel zu gross und zu fett für seinen Geschmack. Aber ein schöner Kontrast zum weissen Rest. Wie vom Künstler gewollt. Er wunderte sich mit welchen Prioritäten ihn seine Gedankenwelt konfrontierte. Denn der längst entsorgte Resopaltisch seiner Eltern und die überdimensionierte Spinne sollten eigentlich nicht sein vordringlichstes Problem sein. Dann stellte er sich die beiden wirklich wichtigen Fragen erneut: „Warum bin ich hier? Und wo bin ich hier? Aber erst mal musste das beschissene Fenster aufgemacht werden."

    Als er sich aufrichten wollte, spannte er die Muskeln an und musste feststellen, dass ihn etwas zurückhielt. Seine Handgelenke waren mit festen, weissen Stoffbändern am Bett fixiert. Kleine Schweissperlen bildeten sich auf seiner Stirn, eine ungewohnte Hitze stieg in ihm auf. Ein Schweisstropfen bahnte sich kitzelnd den Weg von der Stirn über die linke Wange bis zum Hals. Ausserdem brummte sein Schädel plötzlich wie verrückt, höllische Schmerzen durchzuckten seinen Kopf, als ob Blitze von einer Schädelwand zur nächsten übersprangen. Und zudem, als war das nicht genug, fing das Zimmer um ihn herum an zu schwanken und sich zu drehen. Fast wie in einem Vergnügungspark, sagte er im Stillen noch zu sich, dann wurde es für Peter mitten an einem heissen, sonnigen Tag, wieder tiefe Nacht.

    Als er die Augen erneut öffnete stellte er fest, dass die Sonne nicht mehr gegen die Gardine schien. Die Spinne langweilte sich nun an der gegenüberliegenden Wand und wartete noch immer auf ein dankbares Opfer. Er musste also einige Zeit ohnmächtig gewesen sein oder geschlafen haben. Und wer weiss wie oft die Spinne hin und her lief, während er weggetreten war. Der nächste Versuch - noch mal von vorne - er versuchte, klare Gedanken zu fassen:

    „Wo bin ich? Und warum bin ich hier? Und seit wann überhaupt? Und dann noch gefesselt? Und warum dröhnt mein Schädel so fürchterlich als hätte ich gestern mehr als eine Flasche Rum getrunken? Und ausserdem muss ich pissen! Super. Trotzdem erst mal nachdenken. An was kann ich mich erinnern? Was habe ich zuletzt gemacht? Wo war ich? Und wer bin ich eigentlich noch mal? – Und wie bitteschön, soll man mit diesem Schädel auch nur einen klaren Gedanken fassen können?"

    Dass er sich diese Fragen einmal stellen musste, hätte Peter zuvor nicht gedacht. Vor allem die Frage nach dem 'wer bin ich?' ist in einem normalen Leben eigentlich überflüssig. Aber offensichtlich musste das sein, um seine Gedanken zu ordnen, sie in eine Reihenfolge zu bringen. Vielleicht fiel ihm dann ganz schnell wieder ein, wie er in diese beschissene Lage kommen konnte. Im Moment lautete die Selbstdiagnose nur: Blackout. Drogen nahm er nicht, zumindest nicht freiwillig, somit kamen nur noch Alkohol oder ein Unfall in Frage. Beides sagte ihm momentan nichts. Es half also nichts, er musste graben, in der Zeit zurückgehen und sich von hinten dem Punkt nähern, an dem der Aussetzer passiert war. Wichtig waren vermutlich die letzten paar Tage, bevor 'es' passiert ist. Wacht ein normaler Mensch eines Tages mit starken Kopfschmerzen auf und findet sich wieder, gefesselt an ein Bett, in Gesellschaft einer schwarzen Spinne, in einem ihm unbekannten Raum? Vermutlich nicht.

    Eigentlich war er ein ganz normaler Kerl wie er fand. Nicht zu dünn, nicht zu dick, ein trainierter Sportler mit einer guten Figur und nicht zu vielen Muskeln. Mit 1 Meter 84 und Schuhgrösse 43 war er der perfekte Durchschnittsmensch. Aber ein verdammt gut aussehender. So wie viele gerne wären - rein äusserlich zumindest. Darauf war er stolz, obwohl er wusste, dass er nicht wirklich etwas dafür konnte, genetisch bevorzugt zu sein. In diesem Punkt hatte er einfach Glück gehabt. Aber nun lag er hier. Er war kein Verbrecher, Drogendealer, Mörder oder Ähnliches. Bei der Polizei konnte er also nicht gelandet sein. Er war auch kein Säufer oder Junkie. Aber woher kam dann der Filmriss? Was konnte dann sonst passiert sein? Ein Unfall? Eine Entführung? Er konnte sich an nichts erinnern. Hätte man ihn jetzt nach dem aktuellen Jahr oder gar dem Datum gefragt, er hätte passen müssen. Sein Gehirn war für den Moment überfordert, zu viele Gedanken wollten gleichzeitig gedacht, zu viele Fragen gleichzeitig beantwortet werden. Die Leistung war beeinträchtigt, wie bei einem Reboot. Seine Gedanken schweiften dauernd ab, er konnte sie einfach nicht festhalten, sie glitschten ab wie ein nasses Stück Seife, das einem aus der Hand fiel. Dabei versuchte er doch nur, herauszufinden ob er aus irgendeinem Grund ein schlechtes Gewissen haben müsste.

    Peter holte etwas weiter aus. Gut, er war früher manchmal ein Arschloch gewesen. Vor allem Frauen gegenüber. Er dachte, er könne sich das erlauben, weil die Frauen auf ihn abfuhren. Und – so hatte er es sich jahrelang zurecht gelegt – sie fuhren auf ihn ab, gerade WEIL er sich wie ein Arschloch verhielt und natürlich weil er gut aussah. Aber das hatte er sich nicht direkt vorzuwerfen. Die Frauen waren selber schuld. Dieses Verhalten des weiblichen Geschlechts konnte er zwar nicht nachvollziehen, akzeptiert hatte er es natürlich, denn es kam ihm mehr als gelegen. In diese Rolle wurde er aufgrund seines Erfolgs ja geradezu gedrängt. Sie wollten es so. Never change a winning system. Und somit konnte er sein Leben in vollen Zügen geniessen. Einmal hatte er durch einen unglücklichen Zufall zwei Freundinnen parallel, da musste er tierisch aufpassen und nichts durcheinander bringen. Gesucht hatte er diese Situation nicht und moralisch verwerflich fand er sein Verhalten damals eigentlich auch nicht. Konnte man sich gegen seine Gefühle wehren? Was konnte er denn dafür, wenn sein Herz für zwei Frauen gleichzeitig schlug? In anderen Kulturen war dies eine Selbstverständlichkeit – da war man mit zwei Frauen eher unterer Durchschnitt. Die anerzogene Monogamie der abendländischen Kultur hatte ihn jedoch schnell wieder auf den Boden westeuropäischer Tatsachen zurückgeholt. Es gab mächtig Ärger und am Ende stand er alleine da. Eins plus eins konnte also auch null sein. Eine wichtige Lektion, denn diese Situation war alles andere als lustig und er hatte sich geschworen, von da an anständiger zu werden. Schliesslich war er zu diesem Zeitpunkt schon fast dreissig Jahre auf dieser Welt und seine Eltern hatten sich schon lange von ihrem weissen Resopal-Küchentisch getrennt. Diese wilde Zeit lag nun über vier Jahre zurück – und seitdem hatte er sich nichts mehr vorzuwerfen. Er war davon überzeugt, nun erwachsen geworden zu sein, bereit für die nächsten Schritte im Leben. Mit dieser schnellen Selbstanalyse kam er der Lösung seines nun äusserst dringlichen Problems aber keinen Schritt weiter.

    So reiste er gedanklich noch weiter zurück und landete unweigerlich in der einzigen finstersten Grube seiner Vergangenheit. Er erinnerte sich an die eine Situation, die er jahrelang ziemlich erfolgreich aus seinem Gedächtnis verbannt hatte. Damals war er neunzehn Jahre alt gewesen und mit zwei Kommilitonen in den Semesterferien auf Ibiza gewesen. Es war die Zeit, in der Schaumparties in Discotheken der letzte Schrei waren und auch die Zeit, in der sich die jungen Studenten unwiderstehlich fanden. Sie hatten zwar noch kein Geld, dafür gehörte ihnen schon die Zukunft. Er erinnerte sich zurück an jenen Abend an dem er mit seinen beiden Kumpels an einer solchen Schaumparty war. Das schlechte Gewissen hatte ihn nach so vielen Jahren hier in diesem Bett wieder eingeholt. Aus dem ersten Fremdschämen für betrunkene Engländerinnen, aus dem vermeintlichen Jackpot eines schnellen Sex-Abenteuers war innerhalb weniger Stunden ein vermutlich lebenslanger Albtraum geworden, der ihn immer wieder einholte, wenn ihm etwas unerklärlich erschien. Wie jetzt.

    Dies war die einzige Situation in seinem Leben, die so dunkel angehaucht war, dass sie lange Schatten warf, das Einzige für das er bisher keine Quittung erhalten hatte. Doch das war lange her und immer seltener wurde er daran erinnert. So sehr er es versuchte, es gelang ihm nicht, eine Verbindung mit der

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