Die Stasi, der NSU & ich: Mein Leben in Thüringen
Von Thomas Grund
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Buchvorschau
Die Stasi, der NSU & ich - Thomas Grund
Eins
In einem bekannten Song schrie Mick Jagger ins Mikrofon, dass er schreien und brüllen und den König töten werde. Es sei Zeit für eine Palastrevolution. So (oder zumindest so ähnlich) fühlte ich mich auch.
1953 wurde ich geboren, mitten in die damals neu gegründete DDR hinein, und dieses Buch wird mein Leben skizzieren, das ich inmitten der Grenzen der sozialistischen Republik führen durfte.
Mein Vater war ein alter Proletarier, mein Mutter Hausfrau, und ich kein einfaches, ganz sicher sogar ziemlich wildes Kind, mit dem vor allem »der Alte«, wie ich ihn stets nannte, so gar nicht klar kam. Aus lauter Verzweiflung verprügelte er mich regelmäßig mit einem alten, dicken Gummischlauch, mit dem er einmal im Jahr Apfelwein abzog. Das eigentliche Problem war nicht ich, sondern die Tatsache, dass es vor mir schon einen anderen Jungen gab; er wurde acht Jahre alt und starb knapp ein Jahr vor meiner Geburt an einer Blutvergiftung. Für meine Eltern tragisch, für mich letztlich ein Glück, denn ohne seinen Tod hätte es mich nicht gegeben.
Sie wollten nur ein Kind, ich war Ersatz, eine Art Einwechselspieler und musste mir jeden Tag von dem Alten anhören, dass der Andere viel besser drauf gewesen sei als ich - das war natürlich scheiße. Schuldig gestempelt war ich schon vor meiner Geburt, denn meine Mutter traf der Verlust ihres ersten Sohnes besonders hart. Sie weinte viel, gerade in der Schwangerschaft. So viel, dass die Leute ihr sagten, sie solle endlich aufhören, das tote Kind zu bejammern. Fortan hielt sie die Klappe und fraß den Rest in sich hinein. Der alte Preuße meinte später immer zu mir, er hätte so ein wildes Kind nicht verdient und ich dachte, dass all das wohl keiner von uns verdient hätte.
Das Elendige und Verrückte am Kind sein ist, dass man überhaupt keine Ahnung hat, und seine Eltern in totaler Abhängigkeit liebt, ganz gleich, ob und wie wenig sie das auch verdient haben. Also dachte ich mit sechs Jahren, der Alte wäre zwar komisch, aber wüsste dennoch alles. Spätestens mit zwölf wurde mir klar, dass er überhaupt keine Ahnung hatte. Er war Zimmermann, lernte in Gotha auf der Fachwerkschule und später bei Carl Zeiss. Als der Krieg begann, hatte er es zum Feuerwehrhauptmann bei der freiwilligen Feuerwehr geschafft und wurde dadurch nicht eingezogen. In den letzten Kriegstagen 1945 hatte er über einen unterirdischen Gang vom Zeisswerk ins Volkshaus ziemlich viel, ziemlich wichtiges Zeug beiseitegeschafft, damit es den Amis nicht in die Hände fiel; keine Kunst, sondern Baupläne und Entwicklungen und solchen Kram. Als dann später die Russen kamen, wurde ein Direktor eingesetzt, den er bereits kannte und ihn nicht vergessen hatte. Die Nazis hatten ihn eingesperrt, und meinen Vater hatte er als Bauingenieur mit einem Einzelvertrag bei Zeiss ausgestattet, sodass er Geld verdienen konnte und meine Mutter nicht arbeiten gehen musste. Sie beschäftigte sich den ganzen Tag damit, mich zu bekochen, was man mir ansah: Ich war dick und rund. Meine Mutter lernte als Kind Hauswirtschaftshilfe, was damals normal war. In den 40er Jahren war sie in einem Fotozirkel, ging viel wandern und machte Bilder aller Art, die sie mir später gerne zeigte. Fortan war sie eigentlich immer zu Hause und übernahm den ausgleichenden Part zum Alten, auch wenn sie nicht in der Lage war, mich vor ihm zu beschützen.
Die Sache mit dem Gummischlauch hörte erst auf, als ich mich eines Tages traute, mich zu wehren. Ich war 15 Jahre alt und meine Haare so gerade über die Ohren hinausgewachsen. Meine Haare passten dem Alten überhaupt nicht und irgendwann kam er mit der Schere an und wollte etwas gegen seinen Unmut tun. Ich schubste ihn weg, zum allerersten Mal wehrte ich mich, das war die Befreiung, von da an ließ er mich in Ruhe.
Auch in der Schule hatte ich ganz schöne Probleme, da ich dick war und von den anderen Kindern größtenteils ausgeschlossen wurde. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als den Klassenkasper zu spielen, was natürlich nur bedingt funktionierte, und hier und da sogar harte Konsequenzen nach sich zog.
In der fünften oder sechsten Klasse entdeckte ich eine große Leidenschaft für Chemie und widmete mich dem Bombenbau. Es kam, wie es kommen musste: Die Bömbchen wurden immer größer und zu Silvester 1968 lief ich durch das Wohngebiet und eine Bombe ging zu früh hoch. Es hatte mir die Augen verätzt, so sehr, dass sie mir in der Augenklinik Krümel ausbohren mussten. Eisbaden sollte ich auch, wegen der verbrannten Haut, aber weil das derart kalt war, drehte ich das warme Wasser auf, was bestenfalls für mäßigen Therapieerfolg sorgte. Der Alte meinte, ich sei dümmer als die Polizei erlaubt. Das weiß ich noch... Gelernt hatte ich allerdings nichts aus der Sache. An der Berufsschule, beim UTP (Unterrichtstag in der Produktion) baute ich dann später mal ein Bömbchen, das ich extra auf einer Wiese zündete – trotzdem drückte es zwei Fenster in einiger Entfernung raus.
Glücklicherweise konnte ich unerkannt flüchten. 1959 ist meine Mutter in Kunitz beim Äpfelplücken von der Leiter gefallen und hatte sich das Rückrad angebrochen. Immer, wenn meine Mutter in einer Klinik lag, musste ich ins Kinderheim nach Bad Sulza, in diesem Fall für sechs Wochen. Da kam wie üblich das große Trara vom Zeißdirektor Hugo Schrade, und lieferte mich in Bad Sulza ab. Irgendwann bekam mein Alter dann sogar mal einen Brief von der Flora-Drogerie, mit der Bitte, dass ich dort keine Sachen mehr kaufen sollte, um daraus Bomben zu bauen. Danach bastelte ich dann nur noch Qualmbomben, das machte auch Spaß.
Im Nachhinein betrachtet war das, bis auf den Alten und seine alles mit Gewalt unterdrückende Art, schon gar keine so schlechte Kindheit. Ich wurde auch musisch gefördert und spielte Geige, ungefähr sechs Jahre lang, bei einem Privatlehrer. Mit 15 wollte ich dann nicht mehr, denn es gab damals noch keine Bands, bei denen einer mit Geige mitmachen durfte, das kam erst im Laufe der 70er Jahre. Meine Mutter setzte durch, dass ich Gitarre lernen durfte; die Lehrerin wollte klassisch spielen, ich wollte Rock’N’Roll und so habe ich das Ding nach einem Vierteljahr in die Ecke geworfen und nie wieder angerührt.
Seit 1971 immer mit dabei war mein damaliger Freund Gerd Fritze, der gleich um die Ecke wohnte und genauso gerne soff wie ich. Bei jeder Eggschen waren wir dabei, Zeissfest, Schottplatz et cetera. Seit ich in Ilmenau lernte, sahen wir uns nur noch an den Wochenenden, und als ich in Eisenberg lag, gar nicht mehr, denn Gerdi kam auf die blödsinnige Idee, drei Jahre zur Armee gehen zu wollen. Das war sein Ende: Als er wiederkam, verstand er die Welt nicht mehr. In der Zwischenzeit spielte ich in der JG eine Rolle, die Themen hatten sich geändert und Zeitsoldaten wurden misstrauisch beäugt und niederdiskutiert. Gerdi verschwand für immer aus der JG, heiratete, die Frau ließ sich scheiden und Gerdi brachte sich um. Ein weiterer Freund war der kleine Charlie, ein stiller angenehmer Typ – auch er brachte sich kurz nach Gerdi um. Blase gehörte auch zu meinen engsten Freunden. Er wohnte bei seiner Mutter oberhalb des Melanchthonhauses. Seine Mutter