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Why Jack?: Eine Tennesseestory
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eBook383 Seiten5 Stunden

Why Jack?: Eine Tennesseestory

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Über dieses E-Book

Fest entschlossen, mehr über seinen amerikanischen Vater und dessen Familie in Tennessee herauszufinden, macht sich Ralph Ahrendt auf den Weg nach Somerville, dem Geburtsort seines Vaters. Schon bald entwickelt sich die Suche nach Antworten zu einem Familiendrama, das trotz Wiedersehensfreude durch Lügen, Intrigen und Mord sein Leben auf den Kopf stellt.
SpracheDeutsch
Herausgebernet-Verlag
Erscheinungsdatum15. März 2021
ISBN9783957203274
Why Jack?: Eine Tennesseestory

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    Buchvorschau

    Why Jack? - Bodo Steinberg

    Nachtrag

    1. Kapitel

    Die Geburtstagsfeier

    Wenn ich geahnt hätte, was für ein Drama die Nachforschungen über die Familie meines 1978 in Somerville verstorbenen Vaters auslösen würden, ich hätte die Finger davongelassen. Aber wer konnte damals, im Herbst 2006, schon damit rechnen, dass es im Verlauf dieser Geschichte Tote und einen grausamen, weit zurückliegenden Mordfall geben würde, der mir bis heute eine Gänsehaut über den Rücken jagt, wenn ich an die Reise nach Tennessee denke?

    Dabei begann alles vollkommen harmlos. Es war der 28. Oktober 2006, als ich auf die Geburtstagsfeier einer guten Bekannten ging. Nach langer Zeit wieder mal alleine, weil sich einen Monat zuvor meine Frau von mir getrennt hatte. Nach über vierundzwanzig gemeinsamen Jahren. Vielleicht nicht ganz unerwartet, doch in der Konsequenz und Endgültigkeit doch überraschend und für mich ohne erkennbare Vorwarnung.

    Ich war daher nicht gerade in der besten Stimmung und hatte mir fest vorgenommen, schon bald wieder zu gehen, um ungestört meine Wunden lecken zu können.

    Bis auf die Gastgeberin, deren Mann und den zwölfjährigen Sohn waren mir die Geburtstagsgäste unbekannt. Es waren, wenn ich mich richtig erinnere, vierzehn Erwachsene und drei oder vier Kinder anwesend. Im Grunde alles sympathische, weltoffene Menschen, unter denen sich nicht einmal einer der sonst auf jeder Feier so unvermeidlichen »Besserwisser« befand, die ihre Meinung jedem und allem überstülpen wollen. Und ich muss sagen, ich fühlte mich trotz meiner angeschlagenen Stimmungslage gut aufgehoben in dieser Runde.

    Nach dem Nachmittagskaffee bildeten sich über das ganze Haus verteilt kleinere Gesprächsgruppen. Einige standen in der Küche zusammen, die Raucher versammelten sich auf der Terrasse, und ich gesellte mich zu fünf Leuten, die in einer gemütlichen Wohnzimmerecke auf schweren Ledersesseln und einer Couch bei gedämpftem Licht, einem vorzüglichen Cognac und italienischem Rotwein beisammensaßen. Man diskutierte über Politik, Sport, Kindererziehung und die aufkommende Gewalt an den Schulen, bis ein geplagter Hauptschullehrer plötzlich damit anfing, über die gute alte Zeit zu schwärmen, in der angeblich alles besser, friedlicher und harmonischer zugegangen war als heute. »Noch vor dreißig, vierzig Jahren waren die Schüler wesentlich besser in Deutsch, Geschichte und Mathe«, meinte er. »Es wäre undenkbar gewesen, dass einer seinen Lehrer beschimpft oder sogar physisch attackiert. Heute wissen die meisten Schüler kaum etwas über Geografie, die Geschichte ihres eigenen Landes und andere Kulturen. Es interessiert sie auch nicht die Bohne! Viel lieber hocken sie den halben Tag lang mit Brutalospielen am PC oder ›genießen das Leben‹ vor der Glotze. Aber wenn sie ein Bewerbungsschreiben aufsetzen müssen, kommen auf einer halben Seite zwanzig gravierende Rechtschreibfehler vor, und die Personalchefs schlagen entsetzt die Hände vors Gesicht.«

    In meiner Ledersessel-Ecke kam es zu spontaner Zustimmung, aber auch zu lautstarken Protesten der jüngeren Generation.

    Es dauerte nicht lange, bis die Mutter des Geburtstagskindes das Thema ansprach, was unsere Eltern nach dem Krieg leisten mussten, um ihre Familien über Wasser zu halten, welche Rolle damals die Väter als Ernährer und Beschützer hatten und wie sie ihre Erziehungsansichten umzusetzen versuchten.

    Jeder erzählte aus seinen meist persönlichen Erfahrungen; es wurde viel gelacht, aber auch Meinungsverschiedenheiten ausdiskutiert, bis schließlich alles darauf wartete, dass auch ich etwas zum Besten gab. Aber damit geriet die Gesprächsrunde ziemlich abrupt ins Stocken. Denn mir wurde schon während der Unterhaltung schnell bewusst, dass ich so gut wie nichts über meinen Vater erzählen konnte. Das Wenige, das ich wusste, stammte von meiner Mutter. Er war Amerikaner und nach dem Krieg bei der Militärpolizei in Schleißheim tätig gewesen, wo sie ihn im Sommer 1945 auf dem Flughafen kennenlernte. Ihre guten Englischkenntnisse verhalfen ihr damals zu einer der heiß begehrtesten Stellen in der Region als Flughafenangestellte der amerikanischen Militärregierung. Sie arbeitete in einer Baracke, gleich hinter dem Hangar, den es heute noch gibt.

    Über ein Jahr lang machte er ihr den Hof und umwarb sie mit einer nie erlahmenden Hartnäckigkeit, bis sie irgendwann im Frühjahr ’46 inoffiziell zusammenzogen.

    Inoffiziell deswegen, weil es von der damaligen Militärregierung nicht gerne gesehen wurde, wenn sich Soldaten der Army auf ein festes Verhältnis mit deutschen Frauen einließen.

    Meine Mutter wehrte sich lange, aber vergeblich gegen ihre Gefühle, das gemeine, hinterhältige Getratsche der Leute im Ort und ihre verächtlichen Blicke. Für sie war sie nichts weiter als eine von »diesen Amihuren«, die nur wegen der besseren Verpflegung und anderer Vorteile mit einem GI ins Bett stiegen.

    Mir war das, genauso wie meinem Vater, ziemlich egal; ich kam trotzdem eineinhalb Jahre später auf die Welt.

    1952 ging er wieder in seine Heimat nach Tennessee zurück. Eigentlich sollte ich ihn dabei begleiten. Aber meine Mutter hatte sich und mich am Tag seines Abfluges bei einer Bekannten versteckt. Sie wollte, dass ich in Deutschland aufwuchs. In meiner Erinnerung ließ er nur ein stark verblasstes, fast unwirklich erscheinendes Bild zurück. Meine Mutter hatte mir von sich aus kaum etwas von ihm erzählt. Sie gingen im Streit auseinander.

    Meine Fragen nach ihm hielten sich in den ersten Kinderjahren in Grenzen. Es passierte für einen vierjährigen Jungen einfach zu viel an aufregenden Dingen in dieser entbehrungsreichen, aber ungewöhnlich spannenden und schicksalhaften Nachkriegszeit. Dass sich meine Mutter fast täglich mit ihren Lebensmittelmarken anstellen musste, um ein paar Grundnahrungsmittel zu ergattern, ging fast unbemerkt an mir vorüber, aber die an uns vorbeidonnernden amerikanischen Panzer- und Lkw-Kolonnen und die Soldaten, die auf ihren stählernen Ungetümen saßen und uns Kinder regelmäßig mit Schokolade, Orangen und Keksen bewarfen, an die konnte ich mich wesentlich besser erinnern.

    Aber die Nachkriegszeit hatte auch ihre kleinen und großen Dramen. Überall lagen Granaten, Flugzeugbomben und andere »Blindgänger« herum, von denen manche erst Jahre nach dem Ende des Kriegs ihre späten Opfer fanden. So wie meinen damaligen großen Blutsbruder Horst Weber, der immer auf mich aufgepasst und jeden verprügelt hatte, der mir blöd kam. Vor meinen Augen riss ihm eine explodierende Granate das rechte Bein weg, auf die er versehentlich getreten war.

    Wenn ich trotz dieser Ereignisse, die mich oft Tag und Nacht beschäftigten, doch einmal etwas mehr über meinen »Dad« wissen wollte, wurde meine Neugier von meiner Mutter sehr schnell auf andere, wie sie meinte, »wichtigere« Dinge gelenkt.

    Als wir 1953 nach München umzogen und meine Mutter nur ein halbes Jahr später einen gutaussehenden Witwer mit drei Kindern heiratete, hatte sie auch ganz andere Sorgen, als sich mit meinen Fragen um einen Mann zu kümmern, der für sie längst Vergangenheit war. Die Gegenwart war aufreibend und Zeit füllend genug. Unsere neu zusammengewürfelte Familie hatte nur begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung. Trotzdem erlebte ich eine herrliche, unvergleichliche Kindheit und Jugend.

    Zu verdanken hatte ich das vor allem meinem »neuen Vater«. Einem fünfunddreißigjährigen, in München-Sendling geborenen Mann, der in der Mc-Graw-Kaserne bei den Amerikanern arbeitete. Mit seiner Größe von etwa 1,80 Meter, seinen schwarzen, lockigen Haaren und seinem dunklen Teint sah er aus wie ein Filmschauspieler. Fand ich jedenfalls. Er ließ mir genügend Freiräume, um mich auszutoben und weiterentwickeln zu können. Dazu verband uns von Anfang an eine gegenseitige, unkomplizierte Zuneigung.

    Wir lebten am Stadtrand von München, in Obergiesing, umgeben von großen Grünanlagen, wildwachsenden Wiesen und Wald, und die herrliche Natur in den Isarauen konnte man in fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad erreichen.

    Bestimmt lag es damals auch an der Art meines Stiefvaters, dass ich die Fragen nach meinem »Erzeuger« so lange verdrängt hatte. Ich vermisste nichts, keine Vaterfigur, keine Freiheiten und keine Liebe. Aber die Stimme des Blutes lässt sich auf Dauer doch nie vollkommen zum Schweigen bringen, wie es so pathetisch heißt.

    Ich wollte immer mehr wissen, je älter ich wurde. Es muss so um das Jahr 1980 herum gewesen sein, als ich meine Mutter wieder mit Fragen »nach ihm« zu bombardieren begann. Es war wie immer ein sehr anstrengendes Frage- und Antwortspiel. Die wichtigsten Daten, die ich ihr entlocken konnte, gab ich weiter an eine englischsprechende Freundin, die für mich einen Suchbrief formulierte. Voller Hoffnungen und wunderschöner Fantasien, wie unser Wiedersehen aussehen würde, schickte ich ihn an das »National Personnel Records Center«, Abteilung Military Personnel, nach St. Luis. Denn mein Vater war Offizier in der Air Force, und diese Zentrale besaß ein Archiv über Militärangehörige, das meine Suche nach ihm beenden sollte.

    Nach über drei Monaten erhielt ich endlich eine Antwort aus den USA. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, wie ich den braunen DIN A 4-Umschlag aus dem Briefkasten holte, den Absender »The United States of America, Official Business« las, ihn noch im Treppenhaus aufriss und überflog.

    Es waren nur vier handgeschriebene Zeilen, und ich brauchte für den niederschmetternden Inhalt keinen Übersetzer. Was »He is died« bedeutete, war mir auch bei meinen begrenzten Englischkenntnissen bewusst. Er war am 15. Juni 1978 gestorben.

    Ich fühlte mich, als hätte mir jemand die Tür vor der Nase zugeschlagen. Die schon so lange in mir eingesperrte und immer wieder verdrängte Sehnsucht, ihn endlich kennenzulernen, fraß sich wie eine anschwellende Brandung, unabhängig von Verstand und Vergangenheit, in meinen Kopf. Wochenlang konnte ich an nichts anderes denken als daran, dass der Weg zu ihm endgültig und vorzeitig beendet war.

    Wir würden uns in diesem Leben nie mehr sehen, nie mehr die Chance haben, uns wirklich kennenzulernen. Ich hatte, warum auch immer, viel zu lange gezögert.

    An was er gestorben war, wo er beerdigt wurde, wo sein letzter Wohnort war und etwas über seine Familie, all das blieb auch nach einem weiteren Schreiben an das »National Personnel Records Center« unbeantwortet. Gab es dafür einen Grund?

    Er wurde nur 56! Bestimmt kein normales Alter, um von dieser Welt abzutreten. Ich machte mir meine eigenen Gedanken darüber.

    Die Zeit verging, Freundin, Beruf, Karriere, die Gründung eines eigenen Heims, all das verlangte verstärkt meine Aufmerksamkeit und bestimmte mein tägliches Leben.

    Trotzdem bestand immer ein enger Kontakt zu den Eltern, im Gegensatz zu meinen Stiefgeschwistern, die ich fast nicht mehr sah.

    1996 starb mein Stiefvater nach einer Hüftgelenksoperation. Er war nach dem »erfolgreichen Eingriff« (Ärztejargon) nicht mehr aus der Narkose erwacht und monatelang ins Koma gefallen. Er starb, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben, geräuschlos wie ein verwelktes Blatt vom Baum.

    Ich konnte es lange nicht begreifen, dass viele Menschen, die ihn gut kannten, kaum Notiz davon nahmen. Wo blieben in seinen schweren letzten Tagen und Wochen die sogenannten »besten Freunde«, die zahlreichen Kriegs- und Schützenkameraden, die inzwischen teilweise erfolgreiche Geschäftsleute oder wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens waren? Sie beschäftigten sich wahrscheinlich, wie die meisten, ausschließlich mit ihren eigenen persönlichen Aktivitäten, den kleinen und großen Verdiensten um die Welt und dem alltäglichen Hinterherhecheln nach Glück, Geld und Anerkennung.

    Auf der Beerdigung, auf der plötzlich Hunderte »Schützenkameraden«, Fahnenträger und vorher nie gesehene Personen einen »bunten und imposanten Abschiedszirkus« veranstalteten, wurde mir schmerzhaft bewusst, wie geräuschlos und vollkommen nebensächlich das Leben jeden Tag irgendwo verlischt und im Nichts verschwindet.

    Als ich in der Nacht von der Geburtstagsfeier im Oktober 2006 nach Hause fuhr, ließen mich die Fragen nach meinem »anderen« Vater und seiner mir vollkommen unbekannten Familie im fernen Amerika nicht mehr los.

    Gleich am nächsten Tag fuhr ich zu meiner Mutter und bat sie, mir alles, wirklich alles über meinen Vater und die Watovs zu erzählen. Aber sie war einsilbig wie immer, sie wollte nicht, dass ich Nachforschungen über ihn anstellte, und auch meine aufkommende Verärgerung über ihre sture Haltung änderte nichts an dieser Einstellung.

    Und so war es nicht viel, was ich ihr damals an Neuigkeiten entlocken konnte.

    »Lass dieses ständige Nachbohren und Rumwühlen in der Vergangenheit! Was vorbei ist, ist vorbei. Ich denke nicht gerne an diese Zeit zurück.« Sie sagte es mit ihrer rauen, brüchigen Stimme, und ein feuchter Glanz auf ihren Augen erklärte mehr als tausend Worte.

    Von wegen alles vorbei, alles Steinzeit und schon lange vergessen. »Dein Vater war ein sehr emotionaler und krankhaft eifersüchtiger Mann. Wenn mich ein Bekannter nur ein paar Sekunden länger ansah, als er es für angemessen hielt, stellte er ihn sofort zur Rede oder brach eine Prügelei vom Zaun. Er ging auch sonst keinem Streit aus dem Weg, ja, er suchte in berüchtigten Lokalen und Bars sogar danach. Natürlich nannte das dein Vater mir gegenüber ganz anders. Er sprach immer davon, dass er seine Landsleute in Zaum halten müsse. Er wollte ihnen nur Grenzen aufzeigen, die sie nie überschreiten durften, um zu unzivilisierten wilden Tieren zu werden. Seine Brutalität und sein tanzender Gummiknüppel als MP waren in der ganzen Gegend gefürchtet. Betrunkene oder randalierende GI’s verdrückten sich lieber durch den Hintereingang oder das Toilettenfenster, wenn er mit seinem Bruder ein Lokal betrat, als den zweien zu begegnen. Es wäre nicht gutgegangen, wenn ich ihm mit dir in die USA gefolgt wäre. Ich weiß es. Es wäre nicht gut gegangen …« Sie schüttelte den Kopf und sah mich mit großen traurigen Augen an.

    Es schien, als wäre die Zeit nach dem Krieg plötzlich und heftig über sie hergefallen. Und es war nicht viel stehen geblieben von ihrem Schutzwall, den sie jahrzehntelang um sich aufgebaut hatte. Einmal zurückerinnert – und schon lag alles in Trümmern. Sie hatte nichts verarbeitet, nur verdrängt. Sechzig Jahre lang.

    Doch nach diesem Tag, an dem ich für einen kurzen Moment in ihr gut gehütetes »Verlies« blicken konnte, verfiel sie wieder in ihr Schweigen und begann damit, ihren eingestürzten Wall Stein für Stein wiederaufzubauen, um sich dahinter zu verkriechen. Und ich konnte nichts dagegen tun.

    Was ich an wirklichen Fakten bis zu diesem Tag wusste, war, dass mein Vater in Tennessee, drei Jahre nach seiner Rückkehr, eine Barbara Ann geheiratet hatte, dass er am 15. Juni 1978 im Alter von 56 Jahren in Somerville, seinem Geburtsort, gestorben war und dass es einen jüngeren Bruder mit dem Namen Frank gab. Ob er noch weitere Geschwister oder Kinder hatte, wie seine Eltern hießen, wo die Familie lebte – das alles lag nach wie vor im Dunklen.

    Geburtstag, Geburtsort, Todesdatum, von 1942 bis 1952 bei der Army, zuletzt als MP in Oberschleißheim tätig, eine Sozialversicherungsnummer und ein Bruder, von dem ich außer dem Namen nichts wusste. Sollte das wirklich alles sein, was ich über meinen Vater und seine Familie in Erfahrung bringen konnte? Nein, damit wollte ich mich nicht zufriedengeben. Jetzt nicht mehr.

    Am nächsten Tag versuchte ich, über das Internet mehr zu erfahren. Ich gab über die beiden großen Suchmaschinen seinen Familiennamen, Somerville und Tennessee ein. Die Ausbeute war ziemlich mager. Dazu kam, dass mir meine unzureichenden Englischkenntnisse ein paar Hürden in den Weg legten, die ich ohne zusätzliche Übersetzungshilfe nicht überwinden konnte.

    Aber ich hatte Glück. Meine Bekannte, die mich zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen hatte, sprach sehr gut Englisch, und sie war bereit, mich bei meiner Suche tatkräftig zu unterstützen.

    Sie fand über ein Familienregister heraus, dass es drei Familien mit dem Namen Watov in Somerville gab. Bei zweien war sogar eine Internetadresse angegeben. Sie übersetzte meine Schreiben ins Englische, schickte zwei an die Watovs mit der E-Mail-Adresse und eines an eine Genealogy-Company, die sich angeboten hatte, mir bei meinen Familiennachforschungen zu helfen.

    Aber auch nach wochenlangem Warten und mühevollem Hin- und Hermailen kam ich keinen Schritt weiter. Entweder erhielt ich gar keine Antwort oder eine, mit der ich nicht viel anfangen konnte. Und als mir die amerikanische Genealogy-Company endlich mitteilte, welchen Betrag sie sich für ihre Bemühungen vorstellte, war auch klar, dass ich auf diese professionelle Hilfe verzichten musste.

    Meine Enttäuschungen wurden täglich größer, die Misserfolge häuften sich. Immerhin gelang es uns irgendwann herauszufinden, dass es ein Watov-Familiengrab auf einem kleinen Baptistenfriedhof in Somerville gab. Aber mein Vater wurde nicht darin, sondern an einem anderen, abseits gelegenen Platz dieses Friedhofs beerdigt.

    Natürlich stellten sich dabei unweigerlich die Fragen: Warum war das so? Und woran war er gestorben mit nur 56 Jahren?

    Das Einzige, das mir spontan dazu einfiel, waren Krankheit und Unfall. Oder er war das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Auch Selbstmord kam in Betracht.

    Was wusste ich schon, unter welchen Umständen er zuletzt lebte, welche Schicksalsschläge er zu verkraften hatte? Das würde eventuell sogar sein abseitsgelegenes Grab erklären.

    Dass es noch einen ganz anderen realistischen, aber schrecklichen Todesgrund geben konnte, erfuhr ich erst viel später. Er kam mir zu diesem frühen Zeitpunkt meiner Nachforschungen nicht für den Bruchteil einer Sekunde in den Sinn.

    Nach diesen ersten Tagen und Wochen der Spurensuche konnte ich kaum noch ruhig schlafen. Es war eine Art Fieber, ein Gemisch aus Neugier, Abenteuerlust und Sehnsucht, die mich gepackt hatte und nicht mehr losließ.

    Am Tag und teilweise auch in der Nacht hing ich stundenlang im Internet, und in meinen unruhigen Schlafphasen durchwühlten mich die unglaublichsten Gedanken und Fantasievorstellungen über das Auffinden und Kennenlernen meiner amerikanischen Familie.

    Aber meine Hoffnungen nach einer Kontaktaufnahme mit einem Watov aus der direkten Linie meines Vaters oder zumindest zur nächsten Generation wurden auch durch die selbstlose Unterstützung meiner Bekannten nicht erfüllt. Sie setzte ihr ganzes Wissen und Können in ihrer Freizeit ein, durchforstete das Internet bis in die geheimsten Winkel, doch ihre Nachforschungen erwiesen sich als zeitaufwendig, kompliziert und teilweise auch als zu teuer.

    Als wir nach fünf Wochen nur unwesentlich weitergekommen waren, entschloss ich mich dazu, einfach nach Tennessee zu fliegen, um direkt vor Ort weiterzusuchen. Zumindest das Grab meines Vaters würde ich sehen, ich konnte mich endlich von ihm verabschieden, wenn auch nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte.

    Vielleicht war es auch möglich, von ehemaligen Nachbarn, in Kneipen und Geschäften der näheren Umgebung oder der Kirche etwas mehr über ihn und seine Familie in Erfahrung zu bringen? Einwohnermeldeämter oder Rathäuser wie in Deutschland, die man mit solchen Fragen aufsuchen kann, gibt es in den Vereinigten Staaten leider nicht, wie ich leidvoll erfahren musste. Dort kann sich jeder niederlassen und leben, wo er möchte, ohne sich bei einer Behörde an- oder abzumelden. Es war mir darum schon bewusst, dass es unter Umständen ein mühsamer »Hürdenlauf« werden könnte, der in Somerville auf mich wartete.

    Meine Neugier und vor allem meine Ungeduld stiegen trotzdem langsam ins Unermessliche. Am liebsten wäre ich sofort in ein Flugzeug gestiegen und nach Tennessee geflogen. Aber ich brauchte auf jeden Fall einen Dolmetscher, und noch hatte ich nicht die geringste Ahnung, was solch ein Flug und der Aufenthalt dort kosten würden. Doch das empfand ich inzwischen als relativ kleines Problem, so etwas konnte mich zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr von meinem im Kopf längst entschiedenen Abenteuer abhalten. Ich wollte nach Somerville, nein, ich musste nach Somerville, egal, welche Hindernisse noch zu überwinden waren.

    Doch es wurde schon von Beginn an schwieriger, als ich dachte. Vor allem die Suche nach einem geeigneten Dolmetscher entpuppte sich als sehr problematisch.

    Der Mann meiner Bekannten war wenig begeistert von der Idee, dass ich mit seiner Frau in die USA reisen wollte, was ich durchaus nachempfinden konnte. Meine Mutter, noch immer verbittert, wollte nicht, und in meiner näheren und weiteren Bekannt- und Verwandtschaft fand sich selbst bei intensivster Suche ebenfalls niemand, der für eine solche Exkursion infrage kommen würde. Denn es musste schon jemand sein, dem ich vertrauen konnte, der sehr gut Englisch sprach, selbst ein Interesse an der ganzen Sache hatte und der Zeit und Geld für zumindest eine Woche Tennessee mitbringen würde. Und diese Voraussetzungen alle unter einen Hut zu bringen, erwies sich als sehr schwierig.

    Inzwischen war es Dezember geworden, und mir wurde schmerzhaft bewusst, dass ich in diesem Jahr den Flug vergessen konnte. Auch aus finanziellen Gründen. Im Internet fand ich kein einziges Angebot unter 780 Euro nach Memphis hin und zurück. Wenn man den Leihwagen, die Übernachtungen, die Selbstversorgung und das Geld für ein paar Ausflüge auf dem Mississippi, in den Great Smoky Nationalpark oder nach Nashville (wenn man schon mal in Tennessee war) dazurechnete, war schnell klar, dass ich mich zumindest bis zum Frühjahr 2007 zügeln musste, um genügend Geld anzusparen.

    Völlig überraschend fand sich Mitte Dezember doch noch ein geeigneter Begleiter für meine »Abenteuerreise«, an den ich vorher überhaupt nicht gedacht hatte. Thomas Weißenberger, der 17-jährige Sohn unseres Nachbarn, hatte, wie es auf dem Land üblich ist, um sieben Ecken herum von meinem Vorhaben erfahren. Er sprach mich vor der Garage an, als ich gerade ins Auto steigen wollte: »Hallo, Ralph. Ich habe gehört, dass du in Amerika deinen Vater suchen willst.«

    Ich mochte Thomas, wir hatten immer einen guten Draht zueinander und schon mehrere Ausflüge zu Burgen oder mittelalterlichen Städten gemacht. Er konnte sich, genau wie ich, für Geschichte und die Suche nach längst versunkenen Welten begeistern, und … er hatte auf dem Gymnasium immer eine glatte Eins in Englisch, wie mir spontan einfiel, als er vor mir stand! Aber genau an diesem Tag, an dem er mich ansprach, hatte ich ein paar wichtige, unaufschiebbare Termine zu erledigen. Wir verabredeten uns darum an einem Samstagnachmittag, kurz vor Weihnachten.

    Bei einer Tasse heißem Tee und vorweihnachtlichem Gebäck erklärte ich ihm nicht ohne Hintergedanken, wie ich zugeben muss, was ich vorhatte und zeigte ihm in einem gut sortierten Album die schon leicht vergilbten Schwarzweiß-Fotografien meines Vaters, meiner Mutter und mir in Oberschleißheim.

    Ich musste nicht lange um den heißen Brei herumreden. Und das Beste dabei: Seine spontane Begeisterung und sein Optimismus wirkten absolut ansteckend. Meine langsam aufgekommenen Zweifel, ob es doch noch was werden würde mit meiner kurzfristig angestrebten Tennessee-Reise, waren im Handumdrehen verflogen.

    Doch eine kleine »Kleinigkeit« galt es noch zu klären: Er hatte kein Geld. Außer knapp zweihundert Euro auf einem Sparbuch, das sein Vater für ihn angelegt hatte und das er inzwischen immer wieder für »dringend notwendige Ausgaben« strapazierte.

    Nach kurzer Überlegung und einem kritischen Blick auf meinen Kontostand, bot ich ihm an, den Flug zu bezahlen. Den Rest und vor allem das Einverständnis, mich begleiten zu dürfen, musste sein Vater beisteuern.

    Gerhard Weißenberger, der Vater von Thomas, war ein Mann, der für mich schwer einzuschätzen war. Durch den Kontakt, den wir seit vielen Jahren zu ihm und seiner Familie hatten, wusste ich nur, dass er ein Freund von schnellen und endgültigen Entscheidungen war. Ich war mir nicht sicher, was er von unserem Plan halten würde, aber eines war klar: Die Frage, ob eine solche Reise für seinen Jüngsten von Vorteil war oder nicht, stellte er sich auf jeden Fall. Und darauf richtete ich meine Strategie aus. Wenn ich ihn überzeugen wollte, musste es beim ersten Mal klappen. Eine zweite Chance würde ich nicht bekommen.

    Er hörte sich meine Geschichte durchaus interessiert und bei einem guten Glas Bordeaux an. Ich schilderte ihm ausführlich, welche Ausflüge ich in Tennessee machen wollte und dass die Nachforschungen nach der Familie meines Vaters höchstens zwei, drei Tage in Anspruch nehmen würden. Außerdem wäre eine Sprachauffrischung in einem englischsprechenden Land immer ein Gewinn für Thomas.

    »Und so billig wird dein Junge auch nie mehr in die USA fliegen können«, versuchte ich, ihn am Ende meiner Ausführungen auch noch mit der finanziellen Seite zu ködern.

    Meine »Honigfallen« erwiesen sich als erfolgreiche Entscheidungshilfen und bescherten mir den erhofften Erfolg. Nach kurzer Überlegung meinte er, dass es wirklich nicht schaden könne, wenn Thomas etwas mehr Praxis in der englischen Sprache erhält und sich den Wind einer anderen Kultur um die Nase wehen lässt. Außerdem wusste er, dass wir uns gut verstanden und dass sein Junge bei mir gut aufgehoben war.

    Und so machte ich mich schon am darauffolgenden Tag im Internet gezielt auf die Suche nach einem günstigen Flug, einem Leihwagen und einem guten und bezahlbaren Hotel. In einer kleinen Altstadt-Buchhandlung fand ich geeignete Straßenpläne und einen Reiseführer.

    Zwei Tage später war das Wichtigste besorgt, damit wir uns in Tennessee gut zurechtfinden konnten. Auch ein interessantes Buch über das Heimatland meines Vaters hatte ich gekauft, in das ich mich die nächsten Wochen immer wieder vergrub. Schon nach den ersten Seiten war ich begeistert von dem, was ich sah. Die Landschaften strahlten vor allem im Herbst und Frühjahr eine geradezu majestätische Weite und Unberührtheit aus. Der Cumberland-River wand sich zumindest auf den Buchseiten durch rote Sandsteinschluchten und dichte Laubwälder, und die bizarren Felsformationen, in Jahrhunderten durch Wind, Wasser und Sonne geformt, erinnerten an Bilder aus Sagen und Märchen.

    Ich fühlte mich schon zu Hause, bevor ich das Land zum ersten Mal betreten hatte.

    Und doch lag alles, was ich über das ferne Tennessee wusste und sah nur hochglanzgebunden auf meinen Knien.

    Wir wählten den 4. April für unseren Abflugtag. Am 12. April sollte es wieder nach Hause gehen. Der Termin lag in den Osterferien und würde daher perfekt passen.

    Jetzt mussten wir nur noch zwei Flugtickets bekommen, was während der Ferienzeit nicht ganz einfach war. Nach einigen vergeblichen Anläufen hatte ich schließlich Erfolg. Ein kleines Reisebüro am Stadtrand konnte uns noch zwei freie Plätze für einen Etappenflug nach Tennessee reservieren.

    Die relativ preisgünstige Verbindung ging mit der Lufthansa um 8:30 Uhr von München nach Frankfurt, wo wir erstmals umsteigen mussten. Drei Stunden später würde uns die American Airlines über den Großen Teich nach Charlotte/North Carolina bringen. Dort sollten wir nach eineinhalb Stunden Aufenthalt mit einer kleineren Maschine nach Memphis weiterfliegen. Vorausgesetzt wir kamen in der vorgesehenen Zeit in Charlotte an. Wenn nicht, konnten wir erst vier Stunden später auf den Provinzflughafen in Jackson ausweichen. Das alles war etwas umständlich, aber immerhin kamen die Buchungsbestätigungen und Tickets pünktlich und wie vorhergesagt bei mir an.

    Wir trafen uns noch ein paarmal, besprachen unsere Vorgehensweise, studierten die Karten und verfolgten die Highways und andere Straßen vom Flughafen in Memphis mit dem Finger bis nach Somerville, dem Geburtsort meines Vaters.

    Eine Mrs. Gladys Blacksmith vom Daisy Inn, bei der ich in Somerville per Internet gebucht hatte, schickte mir schon kurz nach der Buchung ein paar Unterlagen zu.

    Das Außenfoto der Hotelanlage sah nett aus, die Lage schien idyllisch und ruhig in einem Park gelegen, unsere Zimmer waren groß und gemütlich eingerichtet. Sie waren mit einer Dusche und dem WC auf dem Flur ausgestattet, es gab jeden Morgen zwischen 6 und 10 Uhr ein angeblich reichhaltiges Westernfrühstück, und unter den beigelegten Faltblättern mit lohnenden Ausflugszielen befand sich auch ein ausführliches über Somerville.

    Der Ort war recht klein, trotzdem Kreisstadt des Fayette County, hatte ein College, eine Baptist- und eine Christian Church mit dazugehörigem Friedhof und als Hauptattraktionen ein altes Fort und ein Geschichtsmuseum. Eine Luftaufnahme zeigte, dass die Häuser teilweise weit auseinanderlagen und der Ortsplan verriet, dass es eine lange schmale Straße gab, die tatsächlich Watov-Road hieß! Sie führte aus der Stadt zu einem abseits gelegenen Anwesen. Ich dachte zuerst, dass ich mich verlesen hatte, aber auch nach dem zweiten und dritten Hinschauen stand da auf dem Plan noch immer dasselbe: Watov-Road!

    Eine Straße mit dem Namen meines Vaters. Zufall?

    Ich empfand diese völlig unerwartete Information jedenfalls eher wie einen Wink des Schicksals.

    Je näher der Tag der Abreise rückte, desto nervöser wurde ich. Aber auch Thomas hatte eine Woche vor dem 4. April ein Reise- und Abenteuervirus befallen. Die Tage dehnten und streckten sich, die Zeit tropfte nur noch langsam aus dem Kalender.

    Aber dann war es endlich so weit. Ich war bereits seit 5 Uhr auf den Beinen, stand an der Terrassentür und sah der Sonne dabei zu, wie sie eine fast schlaflose Nacht allmählich verdrängte.

    Gerhard Weißenberger brachte uns, selbst noch ein wenig morgenverknittert, zum Flughafen.

    Um 7 Uhr waren wir da. Pünktlich um 8:30 Uhr hob unsere Maschine nach Frankfurt ab. Mit 276 Passagieren an Bord; und uns beiden. Bis an die Zähne bewaffnet mit guten Wünschen, einer gehörigen Portion Neugier und einem gesunden Optimismus.

    Wir hatten eine gute Stunde Flugzeit nach Frankfurt,

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