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Ich bin der Andere: Ein Selbstporträt
Ich bin der Andere: Ein Selbstporträt
Ich bin der Andere: Ein Selbstporträt
eBook222 Seiten2 Stunden

Ich bin der Andere: Ein Selbstporträt

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Über dieses E-Book

Andreas Vitásek: eine Kabarett-Legende. Sein Leben: ein abenteuerlicher Ritt, in dem der kleine Andi aus Favoriten mal in die Wiener Nachtszene der Siebzigerjahre eintaucht, mal auf Selbstfindungstrips quer durch Europa tingelt und nicht zuletzt im Paris der Künstler*innen und Bohemiens landet – genug Stoff für erste Bühnenauftritte.
Doch es wäre nicht Vitásek, wenn er in seinem Buch neben den Erfolgen als Kabarettist, Schauspieler und Regisseur nicht auch die Abgründe offenlegte: persönliche Krisen und panische Angst vor Bühnenauftritten, gebrochene Herzen, Wochenend-Vatertum und der Versuch, vom alten weißen zum alten weisen Mann zu werden.
Spitzfindig, tabulos und zum Weinen komisch, zugleich poetisch und nachdenklich erzählt Vitásek von sich – und von dem Anderen, der irgendwie auch in uns steckt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Feb. 2022
ISBN9783710606083
Ich bin der Andere: Ein Selbstporträt

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    Buchvorschau

    Ich bin der Andere - Andreas Vitásek

    1. Ende, ein Anfang

    Es ist aus. Das war’s. Ein unauffälliges Kuvert, nicht eingeschrieben. Und drinnen … unabänderlich, schicksalhaft, eine schlichte Plastikkarte. Grüne Schrift auf hellgrauem Grund.

    PENSIONISTENKARTE

    Andreas Vitasek

    geboren am: 01.05.1956

    Ausstellungsdatum: 10.06.2021

    Auf der Rückseite ein weißer Streifen für die Unterschrift und die Information, dass diese Karte nicht übertragbar ist.

    Kein Strichcode, kein Chip, kein Hologramm, kein schwarzer Magnetstreifen, kein Foto.

    Wie ein Grabstein. Nur ohne Sterbedatum.

    Ich zeige die Karte meiner Frau: „Schau mal, was ich gerade bekommen hab’. Sie blickt kurz drauf und sagt nur: „Sexy.

    In einem Interview, das ich vor über 20 Jahren einem Lifestylemagazin gegeben habe, wurde mir von der Journalistin die Frage gestellt: „Wie sehen Sie sich im Alter?"

    Meine Antwort war: „Unter einem Nussbaum sitzend, ein Glas weißen Spritzer in der Hand, zu meinen Füßen ein alter Hund und meine Frau in Rufweite."

    Und wie sieht sie jetzt aus, die Wirklichkeit?

    Vor einem Kirschbaum sitzend, ein Glas Pastis mit Eis in der Hand, ein alter Mops unter der Bank und meine Frau im Garten.

    Also nahezu eine Punktlandung. Ich habe es geschafft. Am Ziel angelangt, zwar nicht laufend, eher humpelnd, nicht mit erhobenen Händen, nicht in Jubelpose. Aber doch … zufrieden. Zufrieden?

    Über das eigene Leben zu schreiben, scheint auf den ersten Blick keine schwierige Aufgabe zu sein. Man beginnt mit der eigenen Geburt, lässt ein paar biografische Details der Eltern einfließen und arbeitet sich vor über die Stationen Kindheit, Jugend, Beruf, Beziehungen bis hin zum Alter.

    Aber sehr schnell stellen sich einem Fragen, die beantwortet werden müssen, bevor man beginnt, munter draufloszuschreiben.

    In nicht wenigen Nummern meiner Soloprogramme, speziell der späteren, habe ich mich an meiner Vergangenheit abgearbeitet. Aber während ich es auf der Bühne oft mit der Wahrheit nicht so genau nehme und für eine Pointe auch meine Großmutter zweimal sterben lasse, fühle ich mich bei einer Biografie, die in Buchform erscheint, viel mehr der Wahrheit verpflichtet. Ich möchte ja nicht, dass später jemand behauptet: Der lügt doch wie gedruckt.

    Aber kann ich sicher sein, dass mich meine Erinnerungen nicht trügen? Wie oft ist es mir schon passiert, dass Freunde von gemeinsam Erlebtem erzählen und ich mir insgeheim dachte, das hat sich doch alles ganz anders zugetragen. Wer hat jetzt recht? Im Zweifelsfall der Erzähler? Ist die Wahrheit wirklich eine Tochter der Zeit, wie ein kluger Mann einmal geschrieben hat? Ich meine jetzt den lateinischen Autor Aulus Gellius aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus und nicht einen österreichischen Politiker der Gegenwart.

    Eine weitere Frage, die sich mir stellt: Wie sehr soll ich die Privatsphäre jener Menschen respektieren und schützen, die mit mir verbunden sind und die meinen Lebensweg eine Strecke weit mitgegangen sind? Speziell meiner engsten Familie gestehe ich zwar das Recht auf Anonymität zu, es ist ohnehin nicht immer leicht, eine „Person des öffentlichen Lebens" als Ehemann oder Vater zu haben, doch lässt sich meine Geschichte nicht erzählen, ohne Familie, Freunde und Verwandte zu erwähnen. Dieses Dilemma habe ich versucht zu lösen, indem ich jene meist nur beim Vornamen nenne.

    Also gut, beginnen wir:

    Was ist meine früheste Erinnerung? Die an meine Geburt sicher nicht. Ich hab’ zwar in meiner Selbstfindungszeit in den späten Siebzigerjahren an etlichen Workshops teilgenommen, die sich unter anderem zum Ziel gesetzt haben, mittels Urschreitherapie das Geburtserlebnis wiederholbar zu machen. Aber gebracht hat es außer einer kurzzeitigen Heiserkeit keine großen Erkenntnisse. Ich gehe davon aus, dass meine Geburt im Großen und Ganzen so verlief wie die von Abermillionen vor und nach mir auch. Ich war halt auf einmal da.

    Porträts des Künstlers als sehr junger, modebewusster Mann, mit Mutter, erstem Hund, kratziger Strickweste und Christbaum

    Meine erste, allerdings nur sehr verschwommene Erinnerung ist die an einen Fußball, der immer wieder gegen ein Haustor geschossen wird. Neben dem Augustinbrunnen bei der Neustiftgasse im 7. Bezirk. Ich sehe den Ball direkt vor mir, braunes abgewetztes Leder, handgenäht, nicht ganz rund, ein Eierlaberl, wie man in Wien sagt … vielmehr früher gesagt hat. Diese Lederwuchtel gehörte meinem Cousin Hansi, bei dessen Eltern, Tante Rosi, der Schwester meiner Mutter, und Onkel Hans, einem Kellner in einem Weinhaus am Praterstern, wir in Untermiete wohnten. Wir, das waren meine Mutter Mathilde Bierbaumer, mein Vater František Vitásek und ich.

    Zu dem Zeitpunkt konnte ich höchstens drei Jahre alt gewesen sein, weil ich mit vier schon im 10. Bezirk in einer Gemeindewohnung in der Angeligasse 36 gegenüber vom Bezirksgericht wohnte. Zweite Stiege, zweiter Stock, Tür elf. Und hier spielt auch eine weitere frühe Erinnerung. Jemand fragt mich im düsteren Stiegenhaus, wie ich denn heiße. Da meine Eltern gerade kurz zuvor geheiratet hatten, antworte ich wahrheitsgemäß: „Andreas Vitásek, geborener Bierbaumer."

    Was ein unerwarteter Lacherfolg wurde. Ich versuchte dann bei allen möglichen Gelegenheiten, diesen Sager anzubringen. „Andreas Vitásek, geborener Bierbaumer." Ich wusste zwar nicht warum, aber es war meistens ein Lacher. Mein erster wiederholbarer Gag.

    Um gleich eines zu klären, das Stricherl über dem a bei Vitásek ist kein háček, sonst wäre es ja ein Häkchen und der Name würde Vitaschek ausgesprochen werden, sondern eine čárka, ein Strichlein, das einen langen Vokal markiert. Da im Tschechischen grundsätzlich der erste Vokal betont wird, wird mein Name korrekt Vitaasek mit Betonung auf dem i ausgesprochen. Versuchen Sie es einmal. Klingt gleich behmisch. Seit dem Aufkommen des Internets lasse ich das Stricherl der Einfachheit halber bei der digitalen Kommunikation weg, und auch sonst bin ich in der Anwendung konsequent inkonsequent. Will heißen, es ist mir egal, ob es jemand so oder so schreibt. Und meinen Namen spreche ich mit Betonung auf i und kurzem a aus. Probieren Sie es einmal. Klingt wie der Papagei einer Möbelhauswerbung. „Wintersale!"

    Ah, gerade taucht eine noch frühere Erinnerung auf. Bei der Hochzeit meiner Eltern war ich ja dabei. Ich durfte im BMW vom Onkel Franz, dem Bruder meiner Mutter, zum ersten Mal vorne sitzen. Mein Onkel konnte perfekt Hans Moser imitieren – „mei Feierzeig, des is a Patent – und er nannte seinen BMW Fanny. Immer wenn er bergauf fuhr, rief er: „Hüho Fanny, hüho!, und tat pantomimisch so, als würde er das Auto wie einen alten Gaul peitschen.

    Die Hochzeit meiner Eltern fand am Standesamt vom 10. Bezirk statt. Meine junge Mutter strahlte und hatte einen seltsamen Hut auf, irgendwie geflochten und schwarz. Mein Vater schwitzte, wie immer, wenn er nervös war. Danach gab’s eine feuchtfröhliche Hochzeitsfeier im Wohnzimmer unserer 45-Quadratmeter-Wohnung. Mein Vater schickte mich sehr früh ins Bett, ich machte im Abgang eine freche Bemerkung, die Gäste lachten und meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich hatte ihn mit einem Witz besiegt.

    Das Standesamt war im selben Magistratsgebäude am Keplerplatz untergebracht, wo ich Jahrzehnte später das Begräbnis meines Vaters in die Wege leitete.

    Ich weiß noch, wie sehr ich von der Professionalität des Bestattungsbeamten beeindruckt war. Mitfühlend, aber nicht einschleimend. Eine echte Gratwanderung. Er zeigte mir einen neutralen schwarzen Ordner mit verschiedenen Fotos, die in einfachen Klarsichthüllen steckten. Auf den Fotos konnte man verschiedene Aufbahrungsvarianten sehen.

    Der Beamte fragte mich mit gedämpfter Stimme:

    „Wollen Sie ein Begräbnis der Kategorie A, B oder C?"

    „Wo ist der Unterschied?"

    „Wie Sie sehen können, werden bei der Kategorie B im Vergleich zur Kategorie A in der letzten Reihe keine Kränze abgelegt und die zwei Kerzenständer auf jeder Seite sind weg."

    Die Trauung von Mathilde Bierbaumer und František Vitásek am Favoritener Standesamt, 1962

    „Aha."

    Ich sah überhaupt keinen Unterschied.

    „Und wie ist Kategorie C?"

    „Sie werden doch nicht Kategorie C …"

    „Nein, nein, eh nicht, also gut, dann Kategorie B."

    „Kirchliche Rede oder weltliche Rede?"

    „Wie bitte? Sie meinen, da redet jemand über meinen Vater, der ihn gar nicht kennt?"

    „Sie geben ihm natürlich die notwendigen Informationen über Ihren Vater, die wichtigsten Eckdaten, vielleicht ein paar lustige Anekdoten, das lockert immer etwas auf …"

    „Nein, keine Rede."

    „Na gut. Musik?"

    „Was gibt’s denn da?"

    „Wir hätten zur Auswahl einen Chor mit Sängern der Volksoper oder …"

    „Nein."

    „Keine Musik?"

    „Bitte nicht."

    „Es gäbe auch noch die kostengünstigere Möglichkeit, über ein Kassettengerät klassische Trauermusik abzuspielen. Wir haben da drei Vorschläge. Auf der ersten Kassette wäre Der Tod und das Mädchen …"

    „Das nehm’ ich."

    Ich hatte kurz zuvor den Schubertfilm Mit meinen heißen Tränen von Fritz Lehner gesehen und war begeistert.

    Als während der Begräbnisfeier am Zentralfriedhof die Musikkassette abgespielt wurde, verhedderte sich das Tonband im Abspielgerät und es ertönte eine Art sehr schnell gespielter Mickymaus-Musik. Wir haben alle kurz, aber herzhaft gelacht. Von da an war das Begräbnis eine entspannte Angelegenheit.

    Wieder einige Jahrzehnte später ging ich abermals aufs selbe Magistrat, um das Begräbnis meiner Mutter in die Wege zu leiten. Da war ich schon routinierter. Den Beamten von damals gab es nicht mehr, auch keine schwarze Fotomappe, genauso wenig wie das Kassettenabspielgerät, stattdessen spielte beim Begräbnis ein einwandfrei funktionierender CD-Player Max Richters On the Nature of Daylight. Ganz ohne Panne. Eigentlich schade. Ein kleiner Lacher schadet keinem Begräbnis.

    Eine weitere Kindheitserinnerung ploppt auf: An meinem vierten Geburtstag am 1. Mai in der Früh hörte ich von draußen auf der Straße laute Musik und Sprechchöre. Ich schaute aus dem Fenster und sah Menschen mit Spruchbändern und geschmückten Fahrrädern, hupend, trommelnd, Trompeten spielend, Parolen skandierend und rote Fahnen schwingend die Laxenburgerstraße hinunter in Richtung Innere Stadt marschieren.

    Ich fragte meine Eltern, was denn der Anlass für dieses Spektakel sei, und sie antworteten ganz ernst und ohne mit den Mundwinkeln zu zucken: „Das ist dir zu Ehren, weil du heute Geburtstag hast."

    Ich fand das völlig in Ordnung und fragte nicht weiter nach. Offenbar bin ich etwas Besonderes, dachte ich mir. Ein Prinz oder so was. Als ich später entdeckte, dass sie mich angeschwindelt hatten, war ich so enttäuscht, dass ich mir schwor, niemals in meinem Leben an einem Maiaufmarsch teilzunehmen.

    2. Favoriten

    Mein Aufwachsen in Favoriten war geprägt vom tagtäglichen Kicken im Käfig des Suchenwirtparks, von ganzen Sommern im Laaerbergerbad, im „Laatschi, nervenaufreibenden U-Hakerlschlachten gegen den Erzfeind Arthaberpark und gegen den Trostbau – einem Gemeindebaukomplex in der Troststraße –, „Motocross-Fahrrad fahren mit hochgezogenem Lenker am Wienerberger Ziegelteich hinter dem Coca-Cola-Gebäude, Zigaretten rauchen auf der Gstettn jenseits der Grenzackerstraße – von den Eltern gefladerte filterlose Donau mit Schädelwehgarantie oder offene Smart Export um 50 Groschen das Stück, im Stanitzl verkauft vom Muskovitch, dem Wirten am Eck –, sehr viel Eis beim Tichy, immer mit Haselnuss, das beste der Welt, gebackener Scholle mit Mayonnaisesalat aus dem Papierl am Viktor-Adler-Markt, der, wie ich bei einem Besuch im Bezirksmuseum lernte, während der Nazizeit Horst-Wessel-Platz hieß. Kein Wunder, dass rechte Parteien ihren Wahlkampfabschluss mit Vorliebe noch immer dort zelebrieren.

    Kindergarten war in der Gudrunstraße, Volksschule in der Leibnizgasse, Schwimmen lernen war im Amalienbad. Das erste Mal vom Trampolin bis zur Kette, die den Nichtschwimmer- vom Schwimmerbereich trennte, durchtauchen, ohne Luft zu holen. Erstkommunion in der St. Antonskirche, davor meine erste Beichte, in der ich verschwieg, dass ich gegen das sechste Gebot verstoßen habe. Ich hab’ nämlich im Gebüsch des Suchenwirtparks mit der Monika, der Tochter vom Gefängnisdirektor … egal.

    Dafür erfand ich zum Ausgleich eine Sünde, weil irgendwas hab’ ich ja beichten müssen. Ich behauptete, ich hätte den Radiergummi eines Mitschülers gestohlen. Das heißt, ich habe gelogen, um zu beichten. Ich musste daraufhin zur Buße zwei Vaterunser und zwei Heilige-Maria-Mutter-Gottes beten, das hab’ ich aber nicht gemacht, weil ich den Text nicht auswendig konnte. Wenn ich etwas nicht versteh’ – gebenedeit, Schuldigern und so komische Ausdrücke –, dann merk’ ich es mir auch nicht. Das ist im Theater genauso. Es muss für mich einen Sinn ergeben. Ich kannte ein Mädchen, das sehr gerne in die Kirche ging, weil es dort immer von allen freundlich begrüßt wurde: „Hallo Julia, hallo Julia! Und bei „Domino, wo bist du? hat sie sich hingekniet und den Dominostein am Kirchenboden gesucht.

    Nach der Beichte sind meine Mitschüler vor der St. Antonskirche herumgesprungen und haben geschrien: „Ich fühl’ mich so leicht, ich kann fliegen! Klarer Fall von Massenhysterie. Und ich mit ihnen, „ich bin auch leicht, ich kann auch fliegen. Hab’ aber nichts gespürt, vielleicht hätte ich doch das mit dem Gebüsch und der Monika erzählen sollen.

    František Vitásek begrüßt seine neue Heimat (links); bei der Ausübung seines Berufs als Zuschneider (rechts unten); sein Personalausweis für Ausländer und Staatenlose

    Am ersten Tag meiner Volljährigkeit bin ich aus der Kirche ausgetreten. Also eigentlich am zweiten, weil am 1.

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