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(Un)Glückstadt - Hölle Heim: Das Schicksal von Gerd Meyer
(Un)Glückstadt - Hölle Heim: Das Schicksal von Gerd Meyer
(Un)Glückstadt - Hölle Heim: Das Schicksal von Gerd Meyer
eBook218 Seiten1 Stunde

(Un)Glückstadt - Hölle Heim: Das Schicksal von Gerd Meyer

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Über dieses E-Book

Die Verhältnisse waren schlimmer als im Gefängnis. Zur Strafe ging es in den Bunker. Seine Notdurft musste man in einem Eimer verrichten. Spurte man nicht, konnte es sein, dass der Eimer tagelang nicht geleert wurde.
Doch was haben die "Insassen" verbrochen, um hier reinzukommen?

Bei Gerd Meyer starb zuerst seine Mutter, kurz darauf sein Vater. Sein Vormund, das Jugendamt Neumünster, steckte ihn in die Sozialentsorgungskette, die sich vom Kinderheim Schleswig-Paulihof bis zur Endstation des Landesfürsorgeheims Glückstadt zog.
Als Gerd Meyer dort "eingeliefert" wird, erwartet ihn die Hölle Heim, die sich im Lauf der Zeit als ein Schlachthof der Seele erweist.

Wäre dieses Buch fiktiv, würde jeder Kritiker zu Recht die Unwahrscheinlichkeit bemängeln, die einen einzigen Menschen so viele Schicksalsschläge widerfahren lässt. Doch das Leben hält sich leider nicht an solche Regeln.
SpracheDeutsch
HerausgeberunderDog Verlag
Erscheinungsdatum9. Okt. 2012
ISBN9783943606133
(Un)Glückstadt - Hölle Heim: Das Schicksal von Gerd Meyer

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    Buchvorschau

    (Un)Glückstadt - Hölle Heim - Gerd Meyer

    Gerd Meyer

    (Un)Glückstadt – Hölle Heim

    Das Schicksal von Gerd Meyer

    underDog Verlag

    Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil– oder strafrechtlich verfolgt werden.

    underDogVerlag ist ein Imprint von EgoBook

    www.egobook.de

    ISBN 978-3-943606-13-3

    © EgoBook, Graben. 2012

    Lektorat: Klaus Middendorf

    Vorwort

    Niemals hätte ich gedacht, dass ich mich einmal so intensiv mit meiner Vergangenheit beschäftigen würde. Als ich mit dem Schreiben anfing, war ich immerhin schon 57, und eigentlich hatte ich mit meiner Vergangenheit schon abgeschlossen.

    Es begann alles mit einem merkwürdigen Zufall.

    Ich war mit meiner Lebensgefährtin in einer Gaststätte. Am Tresen neben uns schnappte ich auf, wie sich zwei Männer über ihre Erlebnisse im Kinderheim unterhielten. Einer von ihnen stellte sich als Rolf Breitfeld vor.

    Beide Männer waren ungefähr in meinem Alter. Als die Namen Schleswig und Glückstadt fielen, wurde ich hellhörig und erzählte ihnen, dass auch ich in Schleswig und Glückstadt gewesen sei.

    Sie kamen aus Kiel und waren nach Schleswig gefahren, um im Landesarchiv etwas über den Verbleib ihrer Heimakten zu erfahren. Sie waren wild entschlossen, das damals an ihnen begangene Unrecht aufzudecken und an die Öffentlichkeit zu bringen.

    Zunächst wollte ich davon nichts wissen, weil ich keinen Sinn darin sah, nach so vielen Jahren alles wieder aufleben zu lassen. Dies sagte ich ihnen auch. Trotzdem tauschten wir unsere Telefonnummern und Adressen aus und versprachen, in Kontakt zu bleiben.

    Obwohl ich eigentlich gar nicht vorhatte, mich weiter mit diesem Thema zu beschäftigen, musste ich immer wieder an unser Gespräch in der Gaststätte zurückdenken.

    Als ich kurz darauf eine E–Mail von Rolf Breitfeld mit einem Artikel über Glückstadt erhielt, loderte alles wieder in mir auf. Obwohl die ganze Sache schon über 40 Jahre zurücklag, erinnerte ich mich an Sachen, die ich schon längst vergessen zu haben glaubte. Seitdem verging kein Tag, an dem ich mich nicht bewusst oder unbewusst an meine Heimzeit erinnerte.

    Zwei Wochen später erhielt ich eine weitere Mail von Rolf, in der er mir mitteilte, dass ein Professor Schrapper aus Koblenz eine bundesweite Wanderausstellung über die Ausbeutung von Heimkindern plane.

    Rolf stand schon seit längerer Zeit in Verbindung mit dem Professor. Irgendwann mussten sie auch über mich gesprochen haben, denn zwei Wochen später erkundigte sich Professor Schrapper, ob ich nicht bereit wäre, meine Erlebnisse im Heim aufzuschreiben.

    Nachdem ich mehrere Tage darüber nachgedacht hatte, tastete ich mich ganz zaghaft an die Sache ran, doch dann öffnete sich regelrecht eine Schleuse, dass ich oft dachte, das alles wäre erst vor einem Jahr passiert. Wie in einem Befreiungsschlag wurde mir klar, dass ich mit dem Tag meiner Heimentlassung alles konsequent verdrängt hatte.

    Heute weiß ich, dass meine Heimerlebnisse für mein ganzes Leben prägend waren, und dies nicht gerade positiv.

    Zu meinem Glück setzte sich Professor Schrapper dafür ein, dass mir wenigstens ein Teil meiner Heimakte zugestellt wurde, was mir sehr wichtig war, weil ich damit meine Geschichte untermauern konnte und nicht als Spinner dastand. Was die gesamte Akte betraf, wurde ich allerdings immer wieder abgewimmelt und belogen. Mal hieß es, meine Akte würde nicht mehr existieren, dann war sie auf einmal bei einem Brand vernichtet worden, oder sie durfte mir aus Datenschutzgründen nicht ausgehändigt werden. Jeder erzählte mir was anderes.

    Bis heute ist es mir immer noch ein Rätsel, wie die ganzen Gräueltaten und Ungerechtigkeiten einfach unter den Tisch gekehrt werden konnten, ohne an die Öffentlichkeit zu dringen, und manchmal frage ich mich, ob es wirklich reiner Zufall war, dass die ganze Sache erst nach der Verjährung publik gemacht wurde.

    Obwohl der Skandal Gott sei Dank das Bewusstsein der Öffentlichkeit mittlerweile sensibilisiert hat, sodass auch die Politiker nicht mehr daran vorbeigehen können, gibt es leider nur wenige, die ihre Erlebnisse schriftlich verarbeitet haben.

    Ich bedauere das, könnte es doch entscheidend mithelfen, das Vorurteil aufzuräumen, dass jeder, der im Heim aufgewachsen ist, zwangsläufig mit dem Makel des schwierigen sozialen Hintergrunds behaftet ist und früher oder später in eine kriminelle Karriere einmünden muss.

    An dieser Stelle möchte ich Rolf Breitfeld, Prof. Christian Schrapper und Frau Mangold nochmals ausdrücklich für ihre Bemühungen herzlich danken.

    Mein besonderer Dank gilt auch dem Hafenbistro Esch in Schleswig. Denn dort habe ich 95 % meines Manuskriptes geschrieben, und auch wenn ich mal etwas mehr Platz gebraucht hatte, wurde mir immer sehr viel Verständnis entgegengebracht.

    Ich habe diese Geschichte nicht geschrieben, um mich zu rächen oder anderen Leuten zu schaden. Ich bin allerdings der Meinung, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, zu erfahren, wie man damals mit uns umging, und dieses Unrecht bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen wurde.

    Wie alles begann!

    Meine Eltern kamen beide aus Mecklenburg–Vorpommern.

    Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges flüchteten sie aus Angst vor den Russen quer durch Deutschland bis nach Schleswig–Holstein. Von Hamburg aus schlossen sie sich einer größeren Gruppe an und kamen so bis nach Neumünster.

    In Neumünster wurde ihnen eine Notunterkunft in einem Barackenlager zugewiesen.

    Das Lager bestand aus acht langen Holzbaracken. In jeder dieser Baracken gab es eine Gemeinschaftsküche und eine Toilette auf dem Flur. Dort mussten sie sich zwei Räume mit noch zwei anderen Erwachsenen teilen.

    Die meisten Bewohner waren Flüchtlinge wie meine Eltern.

    Ich erinnere mich noch, dass es in der Lindenstraße ein weiteres Lager gab. In diesem Lager lebten hauptsächlich Zigeuner. Obwohl dort auch Baracken standen, lebten die meisten von ihnen in ihren eigenen Holzwohnwagen.

    Als meine Mutter mit mir am 19. Dezember 1951 schwanger wurde, bekamen meine Eltern in dem gleichen Lager zwei etwas größere Zimmer für sich allein.

    In den ersten Jahren hatte mein Vater wie auch die meisten anderen Flüchtlinge immer wieder Probleme, eine feste und bezahlte Arbeit zu finden. Meistens waren es nur Aushilfsarbeiten.

    Kurz nach meiner Geburt hatte mein Vater jedoch das Glück, eine feste Anstellung als Maurer zu finden.

    Drei Jahre später wurde meine Schwester Gerdtraute geboren, jetzt war unsere Familie komplett.

    Ein bis zwei Jahre nach Gerdtrautes Geburt wurde meine Mutter schwer krank. Obwohl sie immer öfter gegen starke Schmerzen ankämpfen musste, war sie nie zum Arzt gegangen. Erst als die Schmerzen immer schlimmer wurden, suchte sie einen Arzt auf, der sie nach der Untersuchung sofort ins Stadtkrankenhaus Neumünster einwies. Dort stellten die Ärzte Unterleibkrebs im fortgeschrittenen Stadium fest. Nach der Einweisung ins Krankenhaus kam sie nicht mehr zurück.

    Obwohl ich damals erst sechs Jahre alt war, kann ich mich noch genau an den Tag erinnern, an dem meine Mutter starb.

    Mein Vater, Gerdtraute und ich hatten sie am Nachmittag noch im Krankenhaus besucht. Bei der Rückkehr am Abend teilte uns der Barackenälteste mit, dass das Krankenhaus angerufen habe, um uns ihren Tod mitzuteilen.

    Es dauerte eine ganze Zeit, bis Gerdtraute und mir klar wurde, dass wir unsere Mutter nie mehr wiedersehen würden. Der einzige Trost, der uns geblieben war, war, dass wir uns am Nachmittag noch von ihr verabschiedet hatten.

    In der Zeit, in der meine Mutter im Krankenhaus lag und mein Vater arbeiten musste, hatten zwar Nachbarn auf uns aufgepasst, da das aber keine Dauerlösung sein konnte, hatte mein Vater nach dem Tod meiner Mutter ihre in Berlin allein lebende Schwester gebeten, zu uns nach Neumünster zu ziehen und sich um uns zu kümmern.

    Leider kam ich im Gegensatz zu meiner Schwester mit ihr nicht besonders gut klar, sodass es immer öfter zu Streitereien zwischen uns kam. Sie hatte mit mir einfach nichts am Hut und ließ mich das auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit spüren. Gerdtraute wurde von ihr dagegen regelrecht vergöttert. Sie konnte sich fast alles erlauben und wurde immer wieder von ihr in Schutz genommen.

    Da mein Vater oft erst spät abends von der Arbeit nach Hause kam, erfuhr er nichts von meinem Konflikt.

    Später erfuhr ich von Gerdtraute, dass meine Tante im Allgemeinen auf Männer nicht gut zu sprechen war.

    Kurz bevor ich zwölf wurde, starb mein Vater, als er mit der Maurerkolonne auf dem Heimweg war, an einem Herzinfarkt.

    Unter der Vormundschaft des Jugendamtes

    Nach der Beerdigung meines Vaters bot das Jugendamt meiner Tante an, für meine Schwester und mich die Vormundschaft zu übernehmen, und obwohl ich nicht so gut mit meiner Tante klarkam, ging ich natürlich davon aus, dass ich mit Gerdtraute bei meiner Tante leben würde.

    Doch meine Tante tickte völlig anders. Ohne mit uns beiden gesprochen zu haben, teilte sie dem Jugendamt schlicht und ergreifend mit, dass sie nur für meine Schwester die Vormundschaft übernehmen wolle. Warum, ist mir bis heute noch ein Rätsel.

    So kam ich zum ersten Mal persönlich mit dem Jugendamt in Berührung.

    Auf dem Jugendamt teilte man mir mit, dass für mich zurzeit keine Pflegestelle zu finden sei und man deshalb versuche, mich in einem Kinderheim unterzubringen.

    Die Frau vom Jugendamt malte mir alles in den schönsten Farben aus. Ich würde den ganzen Tag mit anderen Jungs zusammen sein und schnell Anschluss finden. Außerdem hätte ich, wenn alles klappte, auch die Chance, auf meiner alten Schule zu bleiben.

    Heute weiß ich, dass sie mir lediglich die ganze Sache schmackhaft machen wollte.

    Ich war total sauer auf meine Tante, denn mir war völlig klar, dass ich mich von meiner Schwester trennen müsste. Ich hatte immer ein sehr inniges Verhältnis zu ihr und konnte mir einfach nicht vorstellen, von ihr getrennt zu sein.

    Unsere Eltern hatten wir schon verloren, und jetzt wollte man mir auch noch meine Schwester nehmen. Aber das schien dem Jugendamt und meiner Tante vollkommen egal zu sein.

    Trotzdem versuchte ich noch einmal, mit meiner Tante zu reden, und versprach ihr hoch und heilig, ihr keinen Ärger zu machen. Auch Gerdtraute bat sie inständig, uns nicht zu trennen.

    Umsonst: Sie hielt an ihrem Entschluss fest.

    Nach ein paar Tagen mussten meine Tante und ich wieder zum Jugendamt, wo man uns mitteilte, dass im Kinderheim Neumünster zurzeit alle Plätze belegt seien. Daraufhin fragte der Sachbearbeiter nochmals meine Tante, ob sie uns nicht doch zusammen aufnehmen wolle. Aber auch diesmal kam ein hartes Nein.

    Zwei Tage später tauchte bei uns ein Mitarbeiter des Jugendamtes auf und teilte mit, dass man für mich einen Platz in einem Kinderheim gefunden hätte. Als ich ihn fragte, wo das Heim wäre und wie lange ich dort bleiben müsste, bekam ich keine Antwort.

    Heute glaube ich, dass damals alles mit meiner Tante abgesprochen war. Denn während des Gesprächs mit dem Sachbearbeiter hatte meine Tante bereits meine sämtlichen Sachen gepackt.

    Ich hatte nur wenige Minuten, um mich von Gerdtraute zu verabschieden. Wir wurden von den Tränen überwältigt und wollten uns gar nicht mehr loslassen.

    Schleswig–Paulihof

    Nachdem uns meine Tante gewaltsam getrennt hatte, nahm mich der Sachbearbeiter an die Hand und brachte mich zum Auto. Obwohl ich immer wieder versuchte, mich von ihm loszureißen, wusste ich, dass ich verloren hatte.

    Auf der Fahrt erzählte er mir, dass man mich nach Schleswig–Paulihof brächte und ich mich in diesem Heim bestimmt wohlfühlte, weil es dort viele Kinder in meinem Alter gebe, mit denen ich auch zur Schule ginge. Als ich ihn fragte, wie lange ich dortbleiben müsse, antwortete er, dass man sich so schnell wie möglich für mich um eine Pflegefamilie bemühte.

    Obwohl Paulihof angeblich ein Kinderheim sein sollte, wurde mir sehr schnell klar, dass es in Wahrheit ein Erziehungsheim für Jugendliche war.

    In Schleswig angekommen, steckte man mich in die Gruppe eins. Das war die Aufnahmegruppe des Heims. Sämtliche Namen der Gruppen waren nach Städten oder Bundesländern benannt. Ich kam in die Gruppe Friesland, in der etwa fünfzehn Jugendliche zwischen sieben und vierzehn Jahren untergebracht waren.

    In unserer Gruppe gab es einen Waschraum, einen Tagesraum und einen großen Schlafsaal, der mit zehn Etagenbetten vollgestopft war.

    Das erste, was ich in der Gruppe lernte, war, dass grundsätzlich das Recht des Stärkeren galt. Wer das Sagen in der Gruppe hatte, merkte man sehr schnell, denn wer mit dem Stubenältesten nicht auskam, hatte schlechte Karten und bekam dies auch zu spüren.

    Jeder Neuzugang musste erst mal eine so genannte ,,Scheißreise" über sich ergehen lassen: Nachdem die Nachtwache im Schlafraum das Licht ausgemacht hatte, warteten alle andern, bis man eingeschlafen war. Wenn die Zimmergenossen sicher waren, dass man schlief, warfen sie sich eine Wolldecke über den Kopf, um unerkannt zu bleiben, und rieben den Neuzugang am ganzen Körper mit schwarzer Schuhcreme ein. Auch das Gesicht und den Schambereich verschonte man nicht. Dazu gab es zusätzlich noch ein paar Schläge mit einem nassen Handtuch. Anschließend musste man sich unter eine Dusche stellen und sich mit einer Bürste die Schuhcreme vom Körper rubbeln, was unheimlich schmerzhaft war.

    Später erfuhr ich, dass es auch hierfür noch eine Steigerung gab.

    Wenn man am nächsten Morgen dann so tat, als wäre nichts passiert, hatte man das Aufnahmeritual bestanden, weil man davon ausging, dass man zukünftig nicht petzen würde.

    Auf Paulihof besuchte ich die eigene Heimschule. Leider hatte ich das Pech, gleich an den härtesten Lehrer der Schule zu geraten. Er wurde von uns allen nur Stollen genannt, weil er Fußballschuhe mit unwahrscheinlich hohen Stollen bevorzugte. Er war klein, drahtig und gut durchtrainiert. So erzählte man sich, dass er bei der Bundeswehr eine Ausbildung als Kampftaucher absolviert hatte. Wenn man bei ihm im Unterricht nicht aufpasste, konnte es durchaus schon mal passieren, dass er mit einem Schlagball oder Schlüsselbund nach einem schmiss und man aus dem Sportunterricht mit einer Beule oder Schramme rauskam.

    Bei ihm herrschte ein Ton wie auf dem Kasernenhof. Allein seine Stimme konnte einen einschüchtern.

    Auf dem Heimgelände gab es einen eigenen Fußballplatz, auf dem wir zweimal in der Woche Fußball spielten. Wenn Stollen mit uns Fußball spielte und wir ihm während des Spiels den Ball abnahmen, konnte er unheimlich sauer werden und den Übeltäter mit Nachsitzen oder doppelten Hausaufgaben bestrafen. Trotzdem konnte man von ihm viel lernen.

    Unser Gruppenleiter hieß Gernhart. Im Heim erzählte man sich, dass er gar keine richtige Ausbildung zum Erzieher hatte und vorher in der Zuckerfabrik in Schleswig als Arbeiter beschäftigt gewesen war. Trotzdem muss ich heute sagen, dass er ein guter und fairer Erzieher war, der fast immer ein offenes Ohr für uns hatte. Im Krieg war er als Matrose auf der Graf Spee zur See gefahren. Das musste ihm mächtig imponiert haben, denn er erzählte mit Vorliebe von seinen Abenteuern auf See. Aber seine Erzählungen waren wirklich spannend, und wir hörten ihm sehr gern zu.

    Die meisten meiner Mitbewohner kamen aus zerrütteten Familienverhältnissen oder hatten verschiedene kleinere Straftaten begangen.

    Da ich mit den meisten Jungs gut auskam, hatte ich im Grunde in der Gruppe nichts zu befürchten. Trotzdem herrschte bei mir immer der Wunsch vor, in einer Familie zu leben beziehungsweise wieder mit Gerdtraute zusammen sein zu können.

    Da die meisten Kinder aus dem Heim noch Eltern hatten, erhielten sie auch Post und Pakete von ihren Angehörigen. Das machte mir immer wieder bewusst, wie allein ich war. Jedenfalls lehnte meine Tante nach wie vor jeden Kontakt mit mir ab; das ging so weit, dass sie meiner Schwester sogar verbot, mir zu schreiben.

    Eines Tages stieß Max zu unserer Gruppe. Auch er war Vollwaise. Ich glaube, er kam aus Lübeck, bin mir aber nicht ganz sicher.

    Da wir beide das gleiche Schicksal teilten,

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