Pascal Ein Mord ohne Sühne: Nach Schwurgerichtsakten
Von Walter Brendel
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Über dieses E-Book
Die schlimmsten Verbrechen werden angeklagt und ihre Ausführenden sitzen auf der Anklagebank. Ein Prozess, der die deutsche Öffentlichkeit sehr bewegte. Anhand von Gerichtsakten, Aufzeichnungen und Pressemeldungen soll der "Pascal-Prozess" rekonstruiert werden. Von der Eröffnung bis zur Urteilsverkündung soll der Leser einen Einblick in die jahrelang geführte gerichtliche Verhandlung erhalten. Keine Spekulation, kein Action sondern knallharte Justizwirklichkeit.
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Buchvorschau
Pascal Ein Mord ohne Sühne - Walter Brendel
Vorwort
Sexueller Missbrauch von Kindern, Vergewaltigung und Mord – das sind die Kernpunkte des Verfahrens, welches als „Pascal-Prozess" in die Gerichtsszene einging. Zugegeben, der Fall bzw. die Tat liegt schon über zwanzig Jahre lang zurück. Doch diese Tat und die bis heute immer wieder auftauchenden Missbrauchsfälle gebieten, diesem Thema wieder Aufmerksamkeit zu schenken.
Im Jahr 2019 wurden in Deutschland 15.701 Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs polizeilich erfasst. Die Kriminalstatistik wies für 2020 mehr Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder als im Vorjahr aus. Die Zahl angezeigter Missbrauchsfälle stieg gegenüber 2019 um rund 1000 auf insgesamt 16.921 Fälle.
Das Thema Kindesmissbrauch in Institutionen wurde ab dem 28. Januar 2010 durch den Artikel „Canisius-Kolleg: Missbrauchsfälle an Berliner Eliteschule der Berliner Morgenpost in den deutschen Medien aufgegriffen und öffentlich diskutiert. Dieser Artikel, der mit dem Wächterpreis der deutschen Tagespresse ausgezeichnet und gewürdigt wurde, beschrieb Missbrauchsfälle, die in ähnlicher Weise schon mehr als ein Jahrzehnt zuvor an einer anderen Einrichtung, der Odenwaldschule, bekannt geworden waren. Das einzige Medium, welches sich damals mit diesem bis dahin verschwiegenen Skandal beschäftigte, war die Frankfurter Rundschau im Jahre 1999 mit ihrem Artikel „Der Lack ist ab
. Der in diesem Artikel beschriebene Sachverhalt wurde von anderen Medien und in der Gesellschaft verschwiegen und ignoriert.
Es dauerte noch mehr als 11 Jahre, bis in Deutschland die im Artikel beschriebenen Grausamkeiten in der Öffentlichkeit thematisiert und diskutiert wurden. Viele Opfer haben sich erst nach der öffentlichen Debatte getraut, darüber zu sprechen, dass sie in ihrer Kindheit Opfer von sexuellem Missbrauch geworden waren. Die Medien haben dazu beigetragen, die Gesellschaft für das Thema zu sensibilisieren. Sie haben auch den Opfern geholfen, indem diese sich nicht mehr selbst die Schuld an den Geschehnissen gaben, sondern sich nun bewusst waren, dass ihnen Unrecht widerfahren war. Die Berichterstattung in den Medien gab in diesen Fällen den Opfern Kraft, die Taten anzusprechen und mit der Verarbeitung ihrer Erlebnisse zu beginnen, die sie jahrelang in sich vergraben hatten. Indem die Gesellschaft durch die Medien weiterhin auf das Thema aufmerksam gemacht wird, können Kinder geschützt werden. Die Chancen, dass Anzeichen für sexuellen Missbrauch als solche erkannt und wahrgenommen werden und etwas dagegen unternommen wird, können durch die öffentliche Aufmerksamkeit und die mediale Präsenz des Themas erheblich gesteigert werden. Auch Kinder merken dadurch, dass diese Themen nicht verschwiegen werden dürfen und dass sie sich bei Betroffenheit wehren und Hilfe erwarten können. Andererseits gibt es Kritik, dass Medien das Thema einseitig darstellen und den Kindern nicht gerecht werden.
Der Film „Operation Zucker. Jagdgesellschaft berichtete über einen Kinderschänderring in Potsdam, „organisiert bis in höchste Kreise von Politik, Gesellschaft und Justiz hinein
. Die Recherchen führten zu Einblicken in „organisiertem Sadismus. Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs bestätigte, die Realität sei „noch viel schlimmer, als das, was im Film gezeigt wurde.
Die schlimmsten Verbrechen werden angeklagt und ihre Ausführenden sitzen auf der Anklagebank. Ein Prozess, der die bundesdeutsche Öffentlichkeit sehr bewegte. Anhand von Gerichtsakten, Aufzeichnungen und Pressemeldungen soll der „Pascal-Prozess" rekonstruiert werden. Von der Eröffnung bis zur Urteilsverkündung soll der Leser einen Einblick in die jahrelang geführte gerichtliche Verhandlung erhalten. Keine Spekulation, kein Action sondern knallharte Justizwirklichkeit.
Die stummen Schreie der Opfer
Sexualverbrechen im Wirtshaus
Eine Strafkammer des Saarbrücker Landgerichtes hat am 20. September 2004 damit begonnen, mit den Mitteln des Rechts das Schicksal des fünfjährigen Pascal aus dem Stadtteil Burbach aufzuklären. Der Junge ist seit dem 30. September 2001 verschwunden.
Der Beginn des Verfahrens stand unter starkem Polizeischutz. Fünfzig Beamte sollten dafür sorgen, dass die Erregung über die mutmaßliche Bluttat nicht in Übergriffe gegen die Angeklagten ausartet. Die Staatsanwaltschaft sieht in Pascal das Opfer eines Mordes. Sie wirft den Angeklagten, neun Männern und vier Frauen, vor, entweder direkt an der Vergewaltigung und Ermordung von Pascal beteiligt gewesen zu sein oder aber sich der Beihilfe zu schwerem sexuellen Missbrauch und Kindesvergewaltigung schuldig gemacht zu haben. Der Verlesung der Anklageschrift durch Oberstaatsanwalt Josef Pattar folgten die teils als schwachsinnig geltenden Angeklagten meist ohne Zeichen der Erregung. Lediglich eine der Frauen weinte. Die meisten Angeklagten verweigern die Aussage. Nur zwei Beschuldigte kündigten an, sich zu den Vorwürfen zu äußern.
Der Prozess um den Tod des fünfjährigen Jungen sprengt mit seinem Vorwurf die Dimensionen gewöhnlicher Sexualverbrechen dieser Art. Wenn sich die vorgetragenen Beschuldigungen der Staatsanwaltschaft gegen die dreizehn Angeklagten bewahrheiten sollten, dann ist Pascal nicht - wie meist in ähnlichen Fällen - Opfer eines alleine handelnden und durch seine außergewöhnliche Triebstruktur zum Verbrecher gewordenen Täters geworden. Es war vielmehr ein bunter Haufen von Stammgästen einer in ihrem Erscheinungsbild als heruntergekommen wirkenden Kneipe im Saarbrücker Stadtteil Burbach gewesen, der sich - nicht zuletzt dank der mit Skrupellosigkeit und Geschäftssinn gleichermaßen ausgestatteten Wirtin Christa W. - zu einer Interessengemeinschaft mit dem Ziel der sexuellen Ausbeutung eines Jungen entwickelt hatte.
Pascal kam, so die Auffassung der Anklagevertretung, am 30. September 2001 entweder während der schweren Misshandlungen
in einem Hinterzimmer der Tosa- Klause
gewaltsam zu Tode, oder aber er ist erst danach
umgebracht worden. Der Oberstaatsanwalt glaubt, dass Pascal möglicherweise deshalb sterben musste, weil er damit gedroht hatte, die Vorfälle seinem Vater zu berichten. Auch hätten sich die Verletzungen, die ihm beigebracht wurden, nicht verbergen lassen.
Die Mitglieder der Tosa-Gemeinschaft
, wie die Staatsanwaltschaft in Anspielung auf den Namen der Kneipe in der Hochstraße von Burbach die dreizehn auf der Anklagebank sitzenden Männer und Frauen nannte, waren wohl mit verteilten Rollen an den ihnen angelasteten Verbrechen beteiligt. Sechs von ihnen - zwei Frauen und vier Männer - sind des Mordes sowie des sexuellen Missbrauchs angeklagt. Sie sollen Pascal am 30. September 2001 in das Hinterzimmer der Gaststätte, die in einem kleinen freistehenden, einstöckigen Haus untergebracht war, gelockt haben. Anschließend sei Pascal der Reihe nach von ihnen vergewaltigt worden. Die Hauptangeklagte Christa W., so die Vorwürfe, habe für jeden Akt des Missbrauchs des kleinen Jungen zwanzig Mark verlangt und diese Summe auch gleich abkassiert. Christa W. habe darüber hinaus die Tortur des Jungen gefilmt beziehungsweise fotografiert.
Allerdings sind entsprechende Aufnahmen bis heute nicht aufgetaucht. Die anderen sieben Angeklagten hat die Staatsanwaltschaft der Beihilfe zu sexuellem Missbrauch und Kindesvergewaltigung beschuldigt, weil sie mit ihrem Wachdienst
den Tathergang im Hinterzimmer der Klause erst ermöglicht hätten. Unter dieser Gruppe von Beschuldigten befinden sich auch zwei Frauen und ein Mann, die darüber hinaus die Tötung Pascals unterstützt haben sollen. Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Anklagevorwürfe unter anderem auf Aussagen, wonach die Musikbox der Tosa-Klause
während der Misshandlungen lauter gestellt worden war, um die Schmerzensschreie des Opfers zu übertönen.
Im ersten Prozess um den Missbrauch an dem fünfjährigen Pascal war am 17. Oktober 2003 ein 49 Jahre alter Kinderschänder zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe mit sofortiger Einweisung in die Psychiatrie verurteilt worden. Im Landgericht Saarbrücken verurteilte ihn Richter Volker Allmers am Freitag wegen Vergewaltigung in vier Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch. Bei dem Urteil rechnete er dem geistig zurückgebliebenen und alkoholkranken Mann verminderte Schuldfähigkeit sowie sein Geständnis an. Zudem habe er „deutliche Scham und eine gewisse Reue gezeigt", sagte Allmers.
In der Verhandlung hatte auch Oberstaatsanwalt Josef Pattar dem 49jährigen verminderte Schuldfähigkeit sowie sein Geständnis strafmildernd angerechnet. Das Urteil entspricht seinem Antrag, dem sich auch der Pflichtverteidiger angeschlossen hatte. Dabei sprach sich Pattar klar für die sofortige und lebenslange Einweisung des Mannes in die Psychiatrie aus. Gerichtspsychiater Prof. Michael Rösler hatte zuvor erläutert, der Angeklagte mit einem IQ von rund 60 sei geistig zurückgeblieben, alkoholkrank und pädophil veranlagt. Dies führe zu einer „erheblich verminderten Schuldfähigkeit".
Die Eltern Pascals sowie des anderen missbrauchten Jungen traten in der Nebenklage auf. Die Anwältin der Familie des zweiten Opfers, eines Spielkameraden Pascals, zeigte sich vor Gericht erschüttert, dass in der Saarbrücker Tosa-Klause offenbar Sex mit Kindern zum gängigen Angebot zählte und „auf dem Bierdeckel" abgerechnet wurde.
Der Angeklagte nahm das Urteil mit gesenktem Kopf entgegen. Er hatte zugegeben, Pascal mehrfach und auch am 30. September 2001 - dem Tag seines Verschwindens - in der Bierklause vergewaltigt zu haben. Dabei habe das Kind geschrien und er ihm den Mund zugehalten. Für den Kindersex zahlte er der Kneipenwirtin damals nach eigener Aussage - wie in allen Fällen vorher - 20 Mark (rund 10 Euro). Auch einen anderen Jungen hatte er wiederholt missbraucht. Für den vermuteten Mord an Pascal galt der 49jährige nie als verdächtig.
Dem am 20. September 2004 mit der Verlesung der Anklageschrift eröffneten Hauptverfahren waren äußerst schwierige Ermittlungen vorausgegangen. Bis heute ist die Leiche von Pascal, der am Abend des 30. September 2001 von seinem Vater als vermisst gemeldet wurde, nicht gefunden worden. Eine Sonderkommission der saarländischen Polizei ging 450 Hinweisen und Spuren nach und vernahm mehr als tausend Personen. Erst zur Jahreswende 2002/03 ergaben sich im Zusammenhang mit einem anderen Kindesmissbrauchsverfahren, in dem es um einen Spielkameraden von Pascal ging, neue Hinweise.
Die jetzige Hauptangeklagte Christa W. und die Tosa-Gemeinschaft hatten offenbar Kontakte zu Pascals Vater unterhalten, der seinen Sohn wiederholt in die Kneipe mitgenommen hatte. Im Zuge der weiteren Ermittlungen und Verhaftungen verdichteten sich Vermutungen, wonach die Leiche Pascals am Abend des 30. September in einen Sack gepackt und mit einem kleinen Lieferwagen, der der Tosa-Wirtin gehörte, in eine Sandgrube im zu Frankreich gehörenden Schöneck gebracht und dort vergraben worden war. Eine mithilfe von Spürhunden der rheinland-pfälzischen Polizei unternommene aufwendige Suche auf dem sandigen Gelände der Grube blieb jedoch ohne Ergebnis.
Die nicht geständige Hauptangeklagte, die 51 Jahre alte Wirtin Christa W., hatte lange das besondere Vertrauen der saarländischen Justiz genossen. Die frühere Jugendschöffin beim Saarbrücker Amtsgericht war auch amtlich bestellte Betreuerin der mitangeklagten, geistig zurückgebliebenen Andrea M. und zudem Pflegemutter von deren Kind. Die beiden weiteren weiblichen Angeklagten sind eine Putzfrau sowie die Ehefrau eines der männlichen Angeklagten. Zu dieser Gruppe gehören Gelegenheitsarbeiter oder Arbeitslose, oft mit Alkoholproblemen. Die Angeklagten sitzen zum Teil seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft. Sie wurden, um Absprachen unter ihnen zu verhindern, bis zum Beginn des Hauptverfahrens auf Haftanstalten im Saarland, in Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen verteilt.
Im Mordfall Pascal hat die 40-jährige Andrea M. den Tod des Fünfjährigen geschildert und dabei vorherigen Aussagen teilweise widersprochen. Der Junge sei im Hinterzimmer der Gastwirtschaft Tosa-Klause
am 30. September 2001 von einem Mitangeklagten vergewaltigt und dabei von ihr an den Schulterblättern heruntergedrückt worden, sagte Andrea M. am 04. Oktober 2004 vor dem Landgericht Saarbrücken.
Danach bewegte sich Pascal demnach nicht mehr. Die laut Gutachten als geistig zurückgeblieben eingestufte Frau bestritt aber, sein Gesicht bewusst in ein Kissen gedrückt zu haben. Es war keine Absicht
, beteuerte die 40-Jährige, verstrickte sich aber auch in Widersprüche.
Pascal hat sich nicht mehr bewegt, gar nicht mehr
. Er habe nicht mehr geatmet, erinnerte sich Andrea M. am Montag vor dem Landgericht Saarbrücken an den Tod des Fünfjährigen. Mit stockender Stimme schilderte die laut Gutachten geistig zurückgebliebene Frau, wie Pascal am 30. September 2001 im Hinterzimmer der Gastwirtschaft Tosa-Klause
ums Leben gekommen sein soll. Sie selbst drückte ihn nach eigener Aussage nach unten, als er von einem Mitangeklagten vergewaltigt wurde. Erneut gab es Widersprüche in dem komplizierten Verfahren: Zahlreiche Aussagen der 40-Jährigen deckten sich nicht mit der Darstellung einer Angeklagten, die bereits vorher ausgesagt hatte.
Andrea M. kam nach eigener Aussage am 30. September gegen Mittag