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Verräterische Zeiten
Verräterische Zeiten
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eBook346 Seiten4 Stunden

Verräterische Zeiten

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Über dieses E-Book

Conny wächst in einem Kinderheim in der DDR auf. Ihr größter Traum ist es Ärztin zu werden. Angetrieben durch ihren persönlichen Ehrgeiz, lässt sie sich auf eine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit der DDR ein. Um Ihr Ziel zu erreichen, schreckt sie nicht davor zurück Menschen, die ihr nahe stehen zu hintergehen.
Neunzehn Jahre nach der Wende holt sie ihre Vergangenheit ein. Sie muss sich ihrem früheren Leben stellen. Ihren Entscheidungen von einst und deren Folgen für die Menschen die ihr vertrauten. Doch wie verhalten sich diese heute ihr gegenüber und wie erlebt Conny selbst den Blick in den Rückspiegel ihres Lebens?
Ein Rückblick nicht ohne Folgen ...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Juli 2020
ISBN9783752907841
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    Buchvorschau

    Verräterische Zeiten - Jana Rudolph

    EINS

    Conny saß auf der niedrigen, abschüssigen Mauer hinter dem Haus. Von hier aus hatte sie einen uneingeschränkten Blick auf den Spielplatz mit dem alten Kletterpilz. Sein ausgeblichenes Pilzdach, die einsitzige Wippe, die nur noch ein rostiger Festhaltegriff zierte, das war ihr sehr vertraut. Der Kinderspielplatz war einer der wenigen Flecken in dieser Einöde Mecklenburg Vorpommerns, an dem hin und wieder etwas Action war. Wenn man eine Ansammlung rauchender, Bier trinkender Jugendlicher mit einem dröhnenden, nicht störungsfreien Kofferradio als eine Form der Unterhaltung ansah.

    Für die Siebzehnjährige war es eher eine Strafe, hier sein zu müssen. Obwohl sie sich schon vor Jahren mit dieser oft trostlosen Lage arrangiert hatte.

    Das Heim lag in einer verwaisten Gegend, am Rande einer Gemeinde, umgeben von Wiesen und Wäldern. Die Entfernung bis zur nächsten Kreisstadt betrug zwanzig Kilometer. Es gab zwar eine Busverbindung in Richtung Parchim, doch dem Fahrplan war nicht zu trauen. Per Anhalter fahren, war eine gängige Alternative, die jedoch von den Pädagogen nicht gerngesehen wurde. Aber die bemerkten ja zum Glück nicht alles, nicht nur was das Trampen betraf.

    Conny war 1965 als Säugling in das Kinderheim „Clara Zetkin" gebracht worden. Ihre Eltern waren gemeinsam kurz nach der Geburt der Tochter, bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen. Conny war damals die einzige Überlebende des furchtbaren Unglücks. Es gab zwar noch die Großeltern mütterlicherseits. Diese sahen sich aber aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr in der Lage, sich um das Baby zu kümmern. Mittlerweile waren sie verstorben.

    Conny hatte kaum Grund, sich zu beklagen. Das Kinderheim war wie ein zu Hause für sie, auch wenn der Alltag darin kein reines Zuckerschlecken war. Zu wenig Erzieher mussten sich um viele Kinder kümmern. Nie blieb genug Zeit für jeden Einzelnen. Die Heimeltern gaben ihr Bestes und versuchten ihre Schützlinge fair zu behandeln. Das war nicht ohne Anstrengung möglich und führte hin und wieder zu Reibereien. Dem ging Conny aus dem Weg, indem sie sich in ihre Bücher vergrub. Lesen war ihre Leidenschaft. Neben Mädchenbüchern verschlang sie Werke der Weltliteratur wie Tolstois Anna Karenina, Abhandlungen aus medizinischen Fachzeitschriften und alles, was es an Wissenswertem zu entdecken gab. Das Lernen in der Schule fiel ihr nicht schwer, eher war es eine Art Hobby für sie. Mitunter langweilte sie sich, da ihre Auffassungsgabe weit über der ihrer Mitschüler lag.

    Obwohl sie ihre Eltern nie kennengelernt hatte, war sie durch frühere Erzählungen ihrer Großeltern und alte Tagebucheintragungen ihrer Mutter mit ihnen und ihrem damaligen Leben verbunden. Die Großmutter erzählte stolz, dass ihre Tochter bis zu ihrem Tod in der Charité in Berlin beschäftigt war. Conny imponierte das und ihre Mutter wurde zum Vorbild für sie: Sie wollte später als Ärztin arbeiten, wie diese.

    Die einzige Erinnerung an ihre Familie waren ein paar Fotos. Ihr Lieblingsfoto war eine schwarz-weiße Aufnahme mit gezacktem Rand aus den sechziger Jahren. Das Bild war mittlerweile total abgegriffen. Es zeigte sie als lachendes Baby auf dem Arm ihres stattlichen Vaters. Ihr Gesicht war zerknittert und ein spärlicher Haarflaum bedeckte ihren winzigen Babykopf. Ihre Mutter war viel zarter als ihr Ehemann. Als würde sie das ausgleichen wollen, stand sie hocherhobenen Hauptes und mit durchgestreckter Brust neben ihm. Doch ihr Blick war sanftmütig und leuchtete. Im Hintergrund war die Ahlbecker Seebrücke zu sehen. Conny liebte die verblichene Fotografie. In einsamen Momenten kramte sie die Aufnahme hervor und betrachtete sie sehnsüchtig. Sie hatte keine Erinnerungen mehr an ihre Eltern, doch oft vermisste sie sie schmerzlich, besonders die Mutter. Gern hätte sie mit ihr geredet, über ihre Probleme, ihren ersten Liebeskummer oder sonstige alltägliche Sachen.

    Zum Glück gab es Hanna. Beim Gedanken an sie lächelte Conny. Genau in dem Augenblick bog ihre Freundin völlig außer Atem um die Ecke.

    „Ach hier bist du. Wie ich schon vermutet habe. Meine Spürnase hat mich direkt zu dir geführt."

    Mit einem vernehmlichen Schnaufen schwang sie ihren wohlgerundeten Körper zu Conny auf die Mauer. Sie fingerte eine Zigarette aus einer zerknautschten Packung. Bevor sie allerdings dazu kam ein Streichholz zu entfachen, hatte Conny ihr den Glimmstängel rigoros aus der Hand gerissen.

    „Wie oft denn noch? Lass es endlich sein! Das Teufelszeug ist nicht gesund für dich oder hast du Lust, dir wiederholt so eine schwere Bronchitis einzuholen wie vor ein paar Wochen?"

    „Ach, das war doch nur eine harmlose Erkältung und kam sicherlich nicht vom Rauchen." Hanna winkte nachlässig ab.

    „Na klar, harmlos. Und wer hat sich die gesamte Zeit um dich gekümmert, als ein Hustenanfall nach dem anderen dich schüttelte? Nix da, du quarzt nicht mehr und basta."

    Mit diesen energischen Worten zerrte sie, wie an dem Ende eines Knallbonbons ziehend, Hanna die Schachtel aus der Hand. Die rollte entrüstet mit ihren hellbraunen Augen, die je nach Lichteinstrahlung einen bernsteinfarbenen Schimmer zeigten, und rubbelte sich heftig durch ihre kurzen schwarzen Haare.

    „Eh, was soll das? Nur weil du gerade mal ein Jahr älter bist als ich, hast du keinen Freifahrschein, dich wie eine olle, autoritäre Erziehungstante aufzuführen."

    „Na, so schlimm ist es ja nun auch nicht. Schließlich muss es jemanden geben, der auf so eine Chaotin, wie du eine bist, aufpasst", erwiderte Conny lachend und stupste dabei ihre Freundin in die Seite.

    Hanna war vor zehn Jahren im Kinderheim abgegeben worden. Eine Mitarbeiterin der Jugendfürsorge hatte sie total verwahrlost zuhause in ihrem Kinderbett gefunden. Ihre Mutter war selbst fast noch ein Kind und mit der Erziehung heillos überfordert.

    Die beiden Mädchen wuchsen wie Schwestern auf. Conny war zielstrebig und fleißig, Hanna hingegen träumte gern vor sich hin und neigte dazu, die Dinge etwas zu locker zu sehen. Sie standen sich sehr nah, vertrauten einander und redeten über alle Sorgen und Nöte ihres Lebens. Geheimnisse voreinander gab es keine. Gemeinsam hatten sie jene Mauer auf der Rückseite des Haupthauses zu ihrem Lieblingsplatz erkoren. Hier verbrachten sie einen Großteil ihrer Freizeit, wenn sie ungestört sein wollten, sie alles nervte oder um sich mit „Jungs gucken", wie sie es nannten, die Langeweile zu vertreiben. Sie amüsierten sich prächtig über die schlaksigen und fast ausnahmslos pickeligen Burschen aus dem Ort, die täglich den angrenzenden Spielplatz belagerten.

    In unmittelbarer Nähe stand ein Jugendklub. Hier organisierte der kommunistische Jugendverband Freie Deutsche Jugend (FDJ) jeden Freitag und Samstag Diskoabende. Diese Veranstaltungen fingen gegen 19 Uhr an und waren nach sozialistischer Vorschrift um Mitternacht wieder beendet. Auch Conny, Hanna und die anderen Jugendlichen des Kinderheims „Clara Zetkin" verbrachten hier am Wochenende ihre Freizeit.

    Die beiden Freundinnen liebten diese Abwechslung aus dem Heimalltag und es war jedes Mal ein spannendes Ritual sich für den Abend zurechtzumachen. Sie schminkten sich gegenseitig und waren megaaufgeregt bei der Frage: „Was anziehen?" Da die Anzahl und Vielfältigkeit ihrer Kleidungsstücke begrenzt war, tauschten sie untereinander ihre Klamotten. Auch am morgigen Samstag hatten sie vor, sich wieder in das Getümmel der tanzwütigen Menge zu stürzen.

    „Was meinst du?, fragte Hanna kichernd wie ein Troll, „ob Jörg es schafft eine Flasche von dem Kaugummilikör ins Heim zu schmuggeln? Damit kommen wir vorher schon in Stimmung und sind nicht gezwungen später im Klub so viel Kohle für Alkohol auszugeben.

    „Dein Jörg schafft das mit Sicherheit", antwortete diese schmunzelnd.

    „Das ist nicht mein Jörg. Was unterstellst du mir denn da? Wir verstehen uns halt, das ist alles, brauste Hanna auf. „Wir sind nur gute Freunde.

    „Ist klar. Nur gute Freunde. Du kennst ja meine Meinung zu diesem Thema. Nur Freundschaft zwischen Mann und Frau gibt es nicht und wird es nie geben. Einer von beiden hegt stets und ständig Gefühle für den anderen. Auch wenn man das nicht wahrhaben will. Man kommt aus der Sache nicht wieder heil raus, ohne dass sie oder er vor den Kopf gestoßen wird. Glaub mir das."

    „Bei uns ist das absolut nicht so", erwiderte Hanna, allerdings nicht wirklich überzeugend. Sie hatte selbst noch nicht herausgefunden, wie sie zu Jörg stand und wie ihre Verbindung zu deuten war. Um im Moment aber von sich abzulenken, fing sie eifrig an, auf Conny einzureden.

    „Na dir ist ja nie ein männliches Wesen recht. Entweder ist er zu kurz geraten, zu dick, zu dünn oder nicht studiert genug. Keiner entspricht deinen Anforderungen. Du bist reichlich wählerisch meine Liebe."

    „So dramatisch ist das nun auch wieder nicht. Aber die meisten Jungs die hier auf dem Dorf rumhängen sind nun mal schlichtweg langweilig, vor allem zu kindlich und ohne jede Lebenserfahrung. Ich wünsche mir eben einen reiferen, gebildeten und kultivierten Freund. Gegen ein wenig Attraktivität seiner Person hätte ich auch nichts einzuwenden."

    Hanna lachte schallend und sagte: „Träum weiter. Wo meinst du denn, den hier herzubekommen? Da wirst du nicht umhinkommen dir einen geeigneten Kandidaten eigenhändig zu backen."

    Während sie sprach, angelte sie betont unauffällig nach der Zigarettenpackung, die Conny neben sich auf die Mauer gelegt hatte. Diese ließ sie gewähren und gab vor, nichts mitzubekommen. Ihr war es eh nicht möglich, Hanna vom Rauchen abzuhalten. Zumindest dämmte sie mit ihren Aktionen den Konsum ihrer Freundin hin und wieder ein.

    Verwirrt, da von Conny kein Protest erklang, zündete sich Hanna ihre ergatterte Zigarette an. Genüsslich blies sie winzige Kringel in die Luft. Schweigend saßen die Freundinnen noch eine Weile nebeneinander auf ihrem Lieblingsplatz, genossen den lauen Sommerabend und hingen ihren Gedanken nach.

    ZWEI

    Falk Wegener arbeitete seit mehr als sieben Jahren als Heimleiter im Waisenhaus „Clara Zetkin". Er liebte seine Arbeit, trotz der Vielzahl an menschlichen Tragödien, welche er in all der Zeit miterlebt hatte. Bedauerliche Schicksale, die ihn innerlich bewegten. Es gab die unterschiedlichsten Voraussetzungen, aus denen Kinder heraus ein neues Zuhause in einer Institution wie dieser hier fanden. Private, wie mittlerweile vermehrt auch politische Gründe kamen dafür in Frage.

    Dass ihn der gewählte Beruf allerdings eines Tages nicht mehr losließ, hätte er seinerzeit nicht für möglich gehalten. Er hatte zuerst andere Pläne für sein Leben. Besser gesagt seine Eltern. Die arbeiteten beide als Lehrer in einer Erweiterten allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule, auf der sie Schüler auf das Abitur und das anschließende Studium vorbereiteten. Für Wegeners stand fest, dass ihr Sohn ihre berufliche Laufbahn einschlagen würde. Dessen eigenen Wünschen maßen sie keinerlei Bedeutung bei. Sie hielten seine Vorstellung von Beschäftigung für reine Hirngespinste und nicht für realistische Ziele. Falk faszinierte sich nämlich für alles, was im Zusammenhang mit Musik stand. Seit seiner Kindheit spielte er Gitarre und übte sich in Gesang. Jegliches Zusammenspiel von Klangarten, Spieltechniken und Musikinstrumenten fesselten ihn. Dadurch war für ihn frühzeitig klar: Er wollte Musiker werden. Wie er diese Absicht Mutter und Vater mitteilte, verloren die beiden anfangs die Beherrschung. Musikus, wie sie es abfällig nannten, war letztendlich kein anständiger Beruf, eher eine brotlose Kunst. Als Künstler war es ihrer Meinung nach einem schließlich nicht möglich zu überleben. Sie lehnten die Art jener unnützen Beschäftigung für ihren Sohn kategorisch ab. Falk hatte allerdings den Eindruck, dass in erster Linie ihr eigener Stellenwert im Vordergrund stand. Sie sahen ihren sozialistischen Ruf in Gefahr, da die Berufswahl ihres Sprösslings nicht im Geringsten zu ihrer politischen Einstellung passte. Die Wegeners waren überzeugte Staatsbürger der DDR und gehörten der Massenpartei SED an. Falk hatte nie begriffen, wieso sich seine Eltern darauf eingelassen hatten. Seit er in der Schule in dem Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde mit den ersten politischen Themen konfrontiert wurde, versuchten die beiden ihn für ihre Ziele zu gewinnen. Aber ihre Bemühungen prallten an ihm ab, wie ein Gummiball an einer Wand. Er hatte kein Interesse an den Seilschaften des Sozialismus. Ebenso lehnte er es unmissverständlich ab, dass ihrer Ansicht nach für alles im Leben nur eine Richtung maßgeblich war. Er hatte vor sein eigenes Ding durchzuziehen und war absolut nicht dafür zu haben fremdbestimmt zu werden. Sein Wunsch war es, mit Musik Geld zu verdienen, durch die ganze Welt zu reisen und nicht eingesperrt zu sein in ein und demselben Land.

    Er durchlebte nach dem Abitur eine überaus rebellische Zeit. In dieser übte er sich mit Gitarre und Gesang in Gestalt eines Straßenmusikers in der Fußgängerzone seiner Heimatstadt Dresden. Oft traf er sich mit Gleichgesinnten und gemeinsam spielten sie kurze Musikstücke für vorbeieilende Passanten. Straßenmusik war in der DDR verboten. Der Staat bezeichnete es als Bettelei, was gegen alle sozialistischen Regeln verstieß. Diese Art der „Zusammenrottung", wie es im Fachjargon der Staatssicherheit hieß, war illegal. Falk hatte Glück, denn es gelang ihm, sich stets wieder den durch die Stasi durchgeführten Straßenrazzien zu entziehen. Bis auf ein einziges Mal, das war jener Tag, welcher ihn, was seine zukünftige Berufswahl anging, doch noch zum Umdenken gebracht hatte.

    Es war an einem Sonntagnachmittag. Das Wetter zeigte sich recht frühlingshaft und es gab eine Menge Schaulustige, die um ihn und seine musizierenden Freunde herumstanden. Sie waren so vertieft in ihre Aufführung, dass sie die drohende Gefahr erst zu spät bemerkten. Es gelang Falk nicht, rechtzeitig abzuhauen. So passierte es, dass die Mitarbeiter der Staatssicherheit ihn brutal festnahmen und in einen ihrer unzähligen Verhörräume abtransportierten.

    Er hatte verdammtes Glück. Sein Aufenthalt war nur von kurzer Dauer, da es seinem Vater gelungen war, ihn nach einigen Stunden aus der fatalen Angelegenheit herauszuholen. Es war Falk durchaus bewusst, dass er ohne den Einfluss seines Erzeugers nicht so glimpflich davon gekommen wäre. Er war diesem dafür unendlich dankbar, da ihm dadurch die fatalen Strafen für sein Vergehen erspart blieben. Falk fragte nie nach, wie es seinem alten Herrn so unkompliziert gelungen war, ihn aus jener missligen Lage heraus zu befreien. Es blieb ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen Vater und Sohn.

    Seitdem Vorfall erübrigte es sich wie von selbst, dass er sich auf das von seinen Eltern favorisierte Lehrerstudium fokussierte. Heute war er ihnen dankbar für die abrupte Wendung, die sein Leben dadurch genommen hatte.

    Aufgrund der eigenen gemachten Erfahrungen wurde er das Gefühl nicht los, für die Zukunft seiner jetzigen Schützlinge, vor allem für deren Berufswahl mit verantwortlich zu sein. Die meisten Jugendlichen bekamen Angst vor dem neuen Lebensabschnitt und dem Schritt in die Selbstständigkeit. Hier war er in der Rolle des Pädagogen gefragt, um gegenüber den Schülern mit reichlich Einfühlungsvermögen zu handeln. Nach Erreichen des achtzehnten Lebensjahres und mit Erhalt eines Ausbildungs- oder Studienplatzes, war der Aufenthalt im „Clara Zetkin" bis auf ein paar Ausnahmefälle vorbei.

    Zu einer der Abiturientinnen, der es erlaubt war zu bleiben, zählte Conny Hartmann. Durch ihr eigenes spezielles Wesen unterschied sie sich von den anderen Heimkindern maßgeblich. Sie war unkomplizierter, wissensdurstiger, voller Tatendrang und sie hatte ein festes Ziel vor Augen. Ihre Absicht war es, um jeden Preis Medizin zu studieren, wie ihre verstorbene Mutter. Diesen Wunsch äußerte sie regelmäßig bei passender Gelegenheit.

    Als Falk seine Stelle an dem Heim antrat, war Conny zehn Jahre alt. Er hatte sie aufwachsen sehen und einen Teil ihrer Sorgen und Nöte kennengelernt. In der Zwischenzeit war sie zu einer bildhübschen, selbstsicheren jungen Dame herangewachsen. In ihren klaren blauen Augen spiegelte sich verhohlene Neugierde für all das, was in ihrem Umfeld geschah. Die langen braunen, mit einem goldenen Schimmer durchzogenen Haare, trug sie überwiegend klassisch zu einem Zopf gebunden. Dadurch zeigte sich ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen. Ihre Haut war zart und schimmerte wie Seide.

    Die mittlerweile Achtzehnjährige faszinierte ihn seit jeher. Falk merkte, dass es ihn zunehmend mehr zu ihr hinzog. Allerdings war er sich bewusst, dass er in der Position des Heimleiters seine Gefühle für sie unterdrücken und professionelle Distanz wahren musste. Bei dem Gedanken daran seufzte er, denn das war für ihn gefühlsmäßig oft nicht so problemlos realisierbar. Aber er riss sich zusammen. Schließlich war er schon lange in diesem Beruf und hatte gelernt, mit den unterschiedlichsten Gegebenheiten fachmännisch umzugehen. Gedankenverloren erhob er sich von seinem Schreibtisch und trat ans Fenster. Genau in dem Moment sah er eine geduckte Gestalt mit ausgebeultem Campingbeutel auf dem Rücken, hinter dem angrenzenden Zaun langschleichen. Falk Wegener fischte nach der auf seinen Kopf geschobenen Brille und setzte diese umständlich auf.

    Nachdem er den Jungen erkannt hatte, riss er impulsiv das Fenster auf und pfiff kräftig durch die Finger, bevor er losbrüllte. „Jörg, wie oft denn noch. Pass gefälligst auf wo du hintrampelst. Die Rabatten sind kein Spazierweg. Erst gestern habe ich dort neue Pflanzen eingesetzt. Vielleicht einfach die Klüsen beim Hackengas geben aufmachen. Obwohl wie ich sehe, ist das wie sonst auch schwer möglich, bei den langgewachsenen Zottelhaaren die dir wieder über deine Augen fallen."

    Durch den Pfiff unverkennbar ertappt schaute der Junge verunsichert in Wegeners Richtung. Mist, das war so nicht geplant. Er hatte nicht vermutet, dass sich der Heimleiter um die Uhrzeit noch in seinem Büro aufhielt, sonst hätte er ja niemals die Abkürzung über dessen innig geliebte Grünfläche gewählt. Jetzt bloß locker bleiben und sich nichts anmerken lassen. Das gestaltete sich zunehmend schwierig mit dem Gewicht in seinem Rucksack. Mit einem schiefen Lächeln hob er grüßend eine Hand.

    „Hallo Herr Wegener. Oh ´tschuldigung hab ich glatt übersehen Ihre neue Bepflanzung. Kommt nicht wieder vor. Bin auch schon weg. Tschüssi."

    „Hiergeblieben Freundchen. Wir sind noch nicht fertig. Was schleppst du da überhaupt mit dir herum? Du bist ja ganz aus der Puste."

    „Ach das ist nix, nur Bücher aus der Leihbibliothek. Dringende Lektüre für ... also zum Lesen, für Deutsch eben, Unterricht und so."

    Jörg merkte, wie er sich verzettelte und um weiteren Unannehmlichkeiten zu entgehen, drehte er flink ab und hastete mit ausladenden Schritten über den Rasen davon. Dadurch vernahm er nicht mehr Falks eindringlichen Zuruf. „Von wegen Leihbücherei. So ein Unfug. Wir sprechen uns noch."

    Wegener schmiss den geöffneten Fensterflügel geräuschvoll zu. Auch für den davoneilenden Jungen war der ohrenbetäubende Widerhall unüberhörbar. Dieser schwirrte lautstark, wie ein betriebsamer Propeller, hinter ihm durch die Luft und grub sich nachhaltig in sein Gedächtnis ein.

    DREI

    Jörg kam keuchend auf dem Zimmer an. Sein Freund Andreas, mit dem er sich die Bude teilte, lümmelte auf dem Bett und schaute ihm fragend entgegen. Dabei stopfte er sich, knabbernd wie ein Eichhörnchen, eine Salzstange nach der anderen in den Mund.

    „Was ist denn mit dir passiert? Hat dich jemand verfolgt? Mit den zerzausten Haaren und deinen dreckigen Latschen siehst du aus, wie ein Tatverdächtiger aus dem Polizeiruf 110."

    „Einen Tick komme ich mir auch so vor. Wegener hat mich erwischt."

    Andreas setzte sich blitzschnell aufrecht hin.

    „Wie meinst du das erwischt? Man das hat uns gerade noch gefehlt. Und was hat er gemeint?"

    „Na ja, sagen wir mal so. Nicht wirklich erwischt. Ich habe die Abkürzung gewählt, bin auf sein dusseliges Beet getreten, besser gesagt reinversunken und da ist er ausgerastet."

    „Hat er dich kontrolliert?"

    „Nein, natürlich nicht. Irgendwie komisch geguckt hat er schon. So blöd wie er mitunter aus seinen wässrigen graublauen Augen starrt, ist der auch wieder nicht. Man der Campingbeutel ist zu allem Überfluss heute überaus wuchtig. Hat ´ne richtige Beule hintendran. Ich hatte echt zu schleppen, so schwer war der."

    „Versteh ich nicht? Sonst benimmst du dich doch auch nicht so mädchenhaft. Also, was war anders?"

    „Stell dir vor, fing Jörg eifrig an zu erzählen, „der Konsum hat eine zusätzliche Lieferung Dessertwein erhalten und die nette Frau Lehmann war so großzügig und hat mir zwei Flaschen mitgegeben. Mit dem Pfeffi Likör und den Vollbierflaschen im Gepäck war die Fuhre megaanstrengend. Deshalb war mein Gedanke, den kürzeren Weg bei Wegener lang zu marschieren.

    Andreas packte voller Neugier den Rucksack seines Freundes aus. „Wow, das ist ja ´ne Menge Hochprozentiges, was du da angeschleppt hast. Da schaffen wir es wieder, es ordentlich krachen zu lassen. Zeig mal weiter."

    Als er die Weinflasche in der Hand hielt und die Marke lauthals vorlas, grinste er über das ganze Gesicht.

    „Das ist ja der reinste Büchsenöffner. Da klappt das vielleicht endlich mit deiner Hanna."

    Jörg verdrehte bei der Bemerkung genervt die Augen. Er fand es nicht witzig, wenn Andreas solche Kraftausdrücke benutzte.

    „Es ist nicht meine Hanna. Ich finde sie nett. Wir haben halt einen Draht zueinander. Mit der lässt sich echt klasse quatschen und die ist für jeden Spaß zu haben. So wie Kumpels eben, mehr ist da nicht."

    Andreas reagierte nicht weiter auf die Ausführungen seines Freundes, da er dessen fragwürdige Beteuerungen bereits kannte. Vielmehr widmete er sich wieder dem Inhalt des Rucksackes. Die Tüte Knusperflocken, die er dabei fand, riss er auf der Stelle auf, um begierig hinein zugreifen.

    „Vor dir ist auch nichts Essbares sicher. Eigentlich war der Süßkram für die Mädels. Aber egal, lass es dir schmecken, sagte Jörg mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Ich gehe ´ne Runde Laufen, damit ich mich nicht weiter über deine Fresssucht aufrege.

    „Laufen? Bist du sicher? Du warst bis eben erst unterwegs. Im Übrigen siehst du noch völlig fertig aus. Das kann nicht gesund sein."

    „Quatsch nicht, sondern komm mit. Ein paar Durchläufe an der frischen Luft auf dem Sportplatz schaden dir auf keinen Fall."

    „Ach nee, lass mal stecken. Ich habe noch für morgen den Aufsatz in Deutsch auszuarbeiten und außerdem ist ja gleich Abendbrotzeit. Heute gibt´s Karlsbader Schnitte. Lecker. Darauf freue ich mich bereits den ganzen Tag und nur um mit dir so ein paar alberne Runden zu drehen, werde ich auf das Festmahl unter keinen Umständen verzichten."

    „Na dann eben nicht. Wer nicht will, der hat schon. Mit einem „Bis später, schmiss Jörg die Tür hinter sich ins Schloss.

    #

    Conny und Hanna hatten ihren Mauerplatz verlassen und schlenderten Arm in Arm in aller Ruhe Richtung Kinderheim. Genau in dem Moment kam ihnen ein total verschwitzter Jörg entgegengelaufen. Gedankenverloren nickte er den Mädchen zu. Seine bis zum Kinn reichenden blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn, und er schob sich zwangsläufig eine feuchte Strähne hinter das Ohr. Dabei blitzte der silberfarbene Ohrring auf, den er seit ein paar Tagen trug.

    Bei dieser Geste und seinem Anblick fingen Hannas Augen an zu leuchten und Conny fand, dass sie auch ein etwas debiles Lächeln in Richtung des jungen Mannes schickte. Mit spöttisch hochgezogener Augenbraue sah sie ihre Freundin eindringlich an und sagte mit gespielter Ernsthaftigkeit: „Nein, da besteht definitiv kein Interesse an Jörg. Falls doch, dann nur rein freundschaftlich. Ist klar."

    Hanna zuckte zusammen, wie aus einer Hypnose erwacht, und grinste über ihr ganzes sommersprossiges Gesicht wie ein Honigkuchenpferd.

    „Er sieht aber schon affengeil aus oder? Und so sportlich wie der ist, schwärmte sie versonnen. „Da kann ich absolut nicht mithalten.

    „Kein Problem. Unter diesen Umständen ist es wohl an der Zeit, dass du deine Turnschuhe mal wieder aktivierst, um unumstritten Eindruck bei ihm zu schinden."

    „Sport? Ich? Bewegung gehört nicht so zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, wie du weißt. Glaubst du nicht, es gibt eine andere Möglichkeit sein Interesse zu wecken?", fragte Hanna hoffnungsvoll und kratzte sich nachdenklich am Kopf.

    „Na ja, bestimmt. Aber über ein Hobby ist es mit Sicherheit unauffälliger mit ihm in engeren Kontakt zu kommen. Jörg ist in der Volleyballmannschaft der Schule, spielt Tischtennis wie Dieter Stöckel und rennt regelmäßig, wie du siehst. Also suche dir was aus davon, wenn für den ultimativen Kuss unbedingt so ein Milchbart herhalten muss."

    „Der Milchbart ist in deinem Alter und außerdem hatten wir das Thema erst. Deshalb ignoriere ich gnädigerweise diesen unoriginellen Einwurf deinerseits", sagte Hanna und sah Conny gönnerhaft an. Die zog die Nase kraus, um nicht lautstark loszulachen. Sie merkte ja, wie sehr ihre Freundin auf Jörg abfuhr und hatte nicht vor, die Schwärmerei ins Lächerliche zu ziehen. Außerdem fand sie ihn selbst ganz in Ordnung für sein Alter.

    „Oookay, Hanna zog das Wort mit Absicht in die Länge, um Zeit zu gewinnen. „Du meinst also wirklich ich bin gut beraten, es mit sportlicher Betätigung zu versuchen. Hm, dazu ist es unverzichtbar mir erstmal brauchbares Turnzeug zu zulegen, damit ich etwas athletisch und gleichzeitig natürlich ansprechend aussehe. Wenn diese fundamentale Angelegenheit geklärt ist, werde ich weitere Gedanken daran verschwenden, welche Sportart am besten zu mir passt.

    Conny verdrehte genervt die Augen.

    „So wird das nichts Hanna. Ein Hauch von Ehrgeiz gehört schon dazu. Beim Sport genauso wie beim Erobern von Milchbärten oder Jungs generell. Also für was für eine Art der Körperertüchtigung entscheidest du dich?"

    „Mach mal nicht so ´ne Hektik. Lass mich bitte eine Nacht darüber schlafen. Morgen sag ich dir, zu welchem Entschluss ich gekommen bin. Versprochen. Jetzt marschieren wir erstmal gepflegt zum Abendbrot. Mit angemessener Stärkung gelingt es mir sicher, ausgiebiger über eine geeignete Sportauswahl inklusive Anziehsachen nachzudenken."

    Conny schaute skeptisch, hatte aber nicht vor, Hanna unter Druck zu setzen, und verkniff sich aus dem Grund jeglichen weiteren Kommentar.

    „Geh du mal allein Essen, ich habe heute keinen Appetit. Ich verzieh mich aufs Sofa, um noch ein bissel Radio zu hören. „Von wegen Radio hören. Wie ich dich kenne, hast du dir schon wieder ein verzwicktes medizinisches Fachbuch ausgeliehen und lernst irgendeine verquere Testreihe auswendig oder was es da sonst so gibt. Hanna holte tief Luft, bevor sie weitersprach. „Bisweilen beneide ich dich. Dir fliegt der Lernstoff nur so zu. Du liest etwas und schwupp, schon ist der Inhalt

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