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Sieben Tage: Roman
Sieben Tage: Roman
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eBook383 Seiten5 Stunden

Sieben Tage: Roman

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Über dieses E-Book

Altersfreigabe ab 13 Jahre.
Der Amoklauf an einer Gesamtschule im Alten Land erfüllt die Bewohner eines idyllischen kleinen Elbdorfes mit Entsetzten.
Mehrere Jungen sind in den Vorfall verstrickt, doch inwiefern ist die 15-jährige Anne darin verwickelt?
Ein dunkles Geheimnis liegt wie ein Schatten über der Familie des Mädchens und gibt Rätsel auf. Und auch die Jungs haben so einiges zu verbergen.
Aber wer von ihnen könnte zu solch einer furchtbaren Tat fähig sein?
Innerhalb einer Woche setzt sich eine verhängnisvolle Kettenreaktion in Gang, die das Leben aller Beteiligten von Grund auf verändert.
Was geschah in den letzten sieben Tagen?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum23. Apr. 2015
ISBN9783737542029
Sieben Tage: Roman

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    Buchvorschau

    Sieben Tage - Patty May

    Patty May

    Sieben Tage

    Roman

    Buch

    Vor den Toren Hamburgs liegt das Alte Land, das sich mit seinen kleinen malerischen Ortschaften und weiten Obstbaumfeldern entlang des Elbstromes zieht. Unberührt von der Hektik der nahen Großstadt, gehen die Altländer ihren täglichen Geschäften nach, nichtsahnend das ihr ruhiges Leben bald von einer Tragödie überschattet wird. Es ist früher Morgen, an der Gesamtschule in Steinkirchen wird eine Ausstellung vorbereitet, als Schüsse durch die Korridore des Schulgebäudes hallen. In Windeseile verbreitet sich die Schreckensnachricht durch den Äther, auf allen Radiosendern der Region wird über den Amoklauf berichtet und allen stellt sich dieselbe Frage.

    Wie um alles in der Welt konnte es dazu kommen? Mehrere junge Schüler stecken mitten im Geschehen. Darunter Sascha, einer mit viel zu hohem Aggressionspotenzial, der seine Mitschüler terrorisiert. Doch würde er auch so weit gehen, auf diese zu schießen? Einer der es wissen müsste ist Robert, Mitläufer, immer an seiner Seite und sein größter Bewunderer.

    Oder hat etwa Nik, der Neue die Schüsse abgegeben? Ein Einzelgänger, über den kaum jemand etwas weiß, aber um den alle seiner Klasse instinktiv einen Bogen machen. Und was hat ausgerechnet Anne Imhoff mit diesen Jungs zu schaffen? Ein eher unauffälliges und zurückhaltendes Mädchen aus gutem Elternhaus. Jeder dieser Schüler hat etwas zu verbergen. Dabei sind sie längst nicht die Einzigen im Dorf, die versuchen ihre dunkelsten Geheimnisse zu bewahren. Jedoch auch lang Verborgenes kommt einmal ans Licht und fordert seinen Preis! In diesem Fall führt es zu einer Kettenreaktion, in der diese Schüler und die Familie Imhoff miteinander verstrickt sind, ohne zu ahnen was ihre jeweiligen Handlungen auslösen und sie dadurch blind in die Katastrophe steuern lässt. Jene vorgestellten Personen erzählen die Geschichte aus ihrer Sicht. Was geschah in den letzten Sieben Tagen?

    Autorin

    Patty May wuchs auf einem kleinen Bauernhof im Spreewald auf. Bei einem Ausflug nach Hamburg entdeckte sie ihre Liebe zum Norden, zog ein paar Jahre später in die Hansestadt und lebt heute mit ihrer Familie im Alten Land.

    2009 wurde ihr der Krimifuchs der Gemeinde Neuwulmstorf verliehen.

    Sieben Tage ist der erste Roman der Autorin.

    Inhalt

    Buch

    Autorin

    Impressum

    Nachrichten aus Hamburg, Deutschland und der Welt

    1. Kapitel Montag, 7 Tage zuvor

    2. Kapitel Dienstag, 6 Tage zuvor

    3. Kapitel Mittwoch, 5 Tage zuvor

    4. Kapitel Donnerstag, 4 Tage zuvor

    5. Kapitel Freitag, 3 Tage zuvor

    6. Kapitel Samstag, 2 Tage zuvor

    7. Kapitel Sonntag, 1 Tag davor

    8. Kapitel Montag

    Montag, dreiundzwanzig Uhr fünfzig

    Lieber Leser

    Impressum

    © 2015 Patty May

    Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    ISBN 978-3-7375-4202-9

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

    Nachrichten aus Hamburg, Deutschland und der Welt

    Dramatische Ereignisse spielen sich gerade hier an der Gesamtschule von Grünendeich, mitten im Alten Land ab. Ursprünglich sollten wir an dieser Stelle über einen Projekttag der Institution, zu der Medien und bekannte Persönlichkeiten der Region geladen waren, berichten. Stattdessen wurden wir vor nur wenigen Minuten Zeugen, wie Beamte des Sondereinsatzkommandos die örtliche Schule stürmten und bald darauf nacheinander mehrere Schüsse fielen. Erst kurz zuvor bestätigte man uns, dass die Polizei von einem Amoklauf ausgeht! Die Behörde wurde heute Morgen alarmiert, nachdem eine Schülerin über eine bewaffnete Person im oberen Stockwerk berichtete! Wir stehen hier vor dem Schulgebäude, dessen Gelände gleich nach Eingang der Meldung geräumt wurde. Panische Eltern versammeln sich bereits vor der Absperrung und suchen verzweifelt nach ihren Kindern. Schüler liegen sich weinend in den Armen, viele stehen unter Schock und wirken verstört. Offenbar ist völlig ungewiss, wie viele weitere Schüler sich noch im Haus befinden. In diesem Moment sehen wir die Sanitäter das Haupthaus verlassen. Augenscheinlich handelt es sich um drei verletzte Personen, die auf Tragen in die Rettungswagen gebracht werden. Der Einsatz des SEK scheint beendet zu sein, bleibt die Frage nach dem Schützen, es soll angeblich ein Jugendlicher gewesen sein. War es vielleicht sogar ein Schüler

    dieser Einrichtung? Und es stellt sich die Frage, die hier wohl jeden bewegt. Die Frage nach dem Warum?

    Ihre Reporter vor Ort.

    1. Kapitel

    Montag, 7 Tage zuvor

    Das Gelände der nahe am Ortsrand von Grünendeich gelegenen Gesamtschule wirkte still und verlassen.

    Die niedrigen Gebäude der Schule, flankiert von zwei Sportplätzen, umrahmten den großzügig gestalteten Innenhof mit seinen zahlreichen Bäumen und Sträuchern, und die warme Luft, die ins Klassenzimmer strömte, war erfüllt vom Blumenduft und dem leisen Gezwitscher der Vögel. Sehnsüchtig schweifte der Blick des Mädchens aus dem Fenster, glitt über die Dächer der Grundschule und verlor sich für einen Moment in der Ferne der dahinterliegenden weiten Apfelplantagen, die sich bis zum Horizont erstreckten.

    Der Klassenraum der Neunten lag zur Südseite, ließ die Sonne ungehindert herein, die ihre Strahlen tastend, suchend in das Zimmer reckte, in jede noch so kleine Ritze drang und überall, wo ihre strahlenden Finger reflektierten, schuf sie Abertausende von winzigen goldenen Lichtpünktchen. Verträumt genoss Anne den Anblick der tanzenden Staubpartikel, die feenhaft in der Luft flirrten und scheinbar keinerlei physikalischen Gesetzen gehorchten, ihr Atemhauch verwirbelte die Flusen, bis sie wieder zur Ruhe kamen und ihren unermüdlichen Reigen erneut begannen.

    Seufzend wandte sich das Mädchen den Arbeitsblättern zu. Ihre Mitschüler waren so konzentriert mit dem Ausfüllen ihrer Bögen beschäftigt, dass ausnahmsweise einmal absolute Ruhe im Klassenraum herrschte. Sie schrieben ihre letzte Fachklausur, Annes Leistungen in Englisch waren schwach und diese Arbeit ausschlaggebend für ihre Gesamtnote.

    Grübelnd, das Kinn in die Hand gestützt, las sie den Text. Der erste Abschnitt mit dem Vokabeltest war ihr leicht gefallen. Der zweite jedoch bereitete ihr größte Probleme, und gerade für dessen Übersetzung gab es die meisten Punkte.

    Punkte, die sie unbedingt für die bessere Zensur brauchte! Schweißtropfen rannen ihr über Stirn und Rücken hinab.

    Insgeheim verwünschte sie die Lehrerin, suchte erschöpft nach brauchbaren Informationen, doch ihr Kopf fühlte sich leer an, kein verstecktes Wissen, das sie retten konnte!

    Verzweifelt hatte sie diesen Text Wort für Wort übersetzt, aber es ergab einfach keinen Sinn! Dabei hatte sie sich das ganze Wochenende auf den verfluchten Test vorbereitet, aber was nutzten ihr nun all die sinnlos gepaukten Vokabeln?

    Nein, Fremdsprachen waren ganz und gar nicht ihr Ding!

    Zaghaft hob Anne den Kopf und schaute ratlos nach vorn.

    Frau Rösen saß auf der Kante ihres Schreibtisches, die Arme vor der Brust verschränkt, blickte sie in den Hof hinaus. Von kleiner elfenhaft zarter Statur wirkte sie kaum älter als ihre Schüler, ein Umstand, den sie mit ihrem äußerst ausgefallenen Kleiderstil und einer Vorliebe für kräftige Farben ausglich, was an der Schule schon legendär war. Es schien die Rösen nicht im Geringsten zu interessieren, was Kollegen oder Pennäler über sie dachten oder ob die blaue Bluse gerade zu ihrem irisch roten Haar passte. Sie hatte Temperament und war für ihre Strenge bekannt, deshalb hätte kein Schüler es je gewagt, in ihrer Gegenwart Witze darüber zu machen, selbst die Hartgesottensten der Halbwüchsigen schien sie eher zu verschrecken als zu belustigen. Unauffällig beobachtete Anne die Pädagogin, und als die ihren verträumten, abwesenden Blick beibehielt, schielte sie aus den Augenwinkeln auf den Zettel von Alexander, der seit dem Halbjahr ihr neuer Banknachbar war. Die geänderte Sitzordnung sollte das Schwatzen in der Klasse unterbinden, was Alex nun nicht länger daran hinderte, regelmäßig sein kleines Nickerchen im Unterricht einzulegen.

    Mann, musste der immer so krakeln? Angestrengt kniff Anne die Augen zusammen, um aus Alex‘ Gekritzel schlau zu werden, aber als sie die Worte endlich entziffern konnte, begriff sie sofort, dass seine Übersetzung sogar noch bescheuerter als ihre eigene war. Was hatte sie denn auch erwartet?

    Alex war noch nie ne Leuchte gewesen! Verdammt!

    Ihre Mutter würde sie umbringen, sollte sie diese Arbeit in den Sand setzen. Die Stunde näherte sich unerbittlich dem Ende, und panisch überflog Anne zum wiederholten Male ihre stümperhafte Arbeit. Es blieb ein einziges Kauderwelsch!

    Wieso musste ein und dasselbe Wort auch verschiedene Bedeutungen haben? Das konnte doch keiner verstehen!

    Sie brauchte nur ein klein wenig Hilfe.

    Ihr Blick flog zu Jasmin hinüber, Anne zischte leise deren Namen, erleichtert, dass diese sofort begriff und ihr Blatt zur Tischkante schob. Beginnende Unruhe machte sich in der Klasse bemerkbar, während Frau Rösen nun in Zeitlupe zwischen den Tischreihen entlangschlenderte. Als sie Annes Platz passierte und sich mit einer Schülerin unterhielt, ergriff sie ihre Chance. Anne beugte sich zu Jasmins Bank hinüber, überflog deren Zeilen, korrigierte hastig, indem sie strich und die neuen Sätze kurzerhand darüber schrieb. Eine schlechte Note auf Form und Schrift war jetzt ihre geringste Sorge. Abermals linste sie auf Jasmins Blatt und spürte eine Bewegung. Anne schrak zusammen, mit hochrotem Kopf fuhr sie herum, doch die Rösen stand bereits direkt hinter ihrer Bank und musterte sie aus blitzenden Augen.

    ***

    Reglos stand die ältere Frau in dem schummrigen Flur ihres Hauses, sie bemerkte nicht, dass sich eine graue Strähne aus dem sonst sorgfältig frisierten Haardutt gelöst hatte und nun widerspenstig über dem Ohr herabhing. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt einzig dem Telefon.

    Nervös zuckte ihr Blick zur Uhr.

    Es war genau zehn, die gewöhnliche Zeit seines Anrufes, doch der Apparat schwieg hartnäckig. Hatte der mysteriöse Fremde etwa aufgegeben? Ausgerechnet an dem Tag, an dem sie hoffte, endlich seine Identität aufzudecken?

    Als die Anrufe vor einigen Wochen begannen, hatte sie an eine harmlose Verwechslung geglaubt und maß dem keinerlei Bedeutung bei. Irgendwer hatte sich verwählt, jedoch ärgerte sie die Unsitte seines Stillschweigens. Eine Entschuldigung wäre immerhin angebracht, sobald man seinen Irrtum bemerkte, was wohl einem Mindestmaß an Höflichkeit entsprochen hätte. Erst als sich der Vorfall wiederholte befürchtete sie, dass sich hier jemand einen bösen und recht geschmacklosen Scherz mit ihr erlaubte, und sie glaubte, je weniger sie darauf reagierte, umso schneller würde dem schon der Spaß vergehen und er sie letztendlich in Ruhe lassen!

    Doch was sie auch tat, der gewünschte Erfolg blieb aus. Jeden Montag um Punkt zehn klingelte das Telefon unaufhörlich, bis sie schließlich den Hörer abnahm. Wer auch immer da anrief, gab sich jedenfalls nicht zu erkennen! Lauschte sie angestrengt, konnte sie seinen leisen Atem wahrnehmen, er selbst gab kein Sterbenswörtchen von sich, bis er nach einigen Sekunden auflegte. Weder üble Beschimpfungen noch Drohungen ihrerseits hatten ihn bisher zum Reden oder gar zum Unterlassen dieser Anrufe bringen können! Aber ein anderer Umstand bereitete ihr weitaus mehr Kopfzerbrechen. Diese Person musste sie sehr gut kennen!

    Doch sie fürchtete sich nicht im Geringsten. Vor niemandem! Falls er also nur vorgehabt hatte, eine alte Dame zu erschrecken, musste ihm inzwischen bewusst sein, dass sein Plan nicht aufging. Trotzdem fand sie es merkwürdig, dass der Unbekannte sie weder bedrohte noch auf andere Weise einzuschüchtern versuchte! Das war kein gewöhnlicher Stalker! Das hier schien etwas völlig anderes zu sein!

    Also warum dann diese ganze Mühe? Was wollte er?

    Das ging ihr einfach nicht aus dem Kopf! Bald kam ihr ein ungeheurer Verdacht, ein Gedanke, der wie ein Samenkorn auf nahrhaften Boden fiel und sie seitdem bis in den Schlaf verfolgte. Was, wenn sie gar nicht zufällig ausgewählt worden wäre? Wenn dieser Anrufer nur nicht redete, weil ihn jedes Mal der Mut verließ? Vielleicht versuchte hier jemand Kontakt aufzunehmen, und sie hatte nun eine Ahnung, wer das sein könnte. Jemand aus ihrer Vergangenheit!

    Wie lange hatte sie auf ein Lebenszeichen von ihm gehofft?

    Von dem Mann, der ihr einst so vertraut gewesen war. Bevor das Schicksal sie so hart für ihren Fehler bestrafte, denn das Geheimnis, das sie teilten, hatte einen anderen das Leben gekostet. Für dieses Vergehen hatten sie beide bitter büßen müssen, seit jener Nacht, die sie so gern aus ihrem Leben löschen würde. Es war so einfach gewesen, ihm die Verantwortung dafür zu geben. Deshalb hatte sie ihn verstoßen und wie einen räudigen Hund vom Hof gejagt.

    Er war nie mehr zurückgekehrt.

    Wusste nichts von der Existenz seiner Tochter, wusste nicht, was sie alles hatte aushalten müssen. Es waren so viele Jahre vergangen, dass es ihr fast schien, als wäre die Begegnung mit ihm in einem anderen Leben gewesen. Wie er jetzt wohl aussah? Ob sie ihn wiedererkennen würde?

    Warum nur schwieg dieses Telefon?

    Fahrig knetete sie die schmerzenden Finger, pumpte das Blut zurück in die steifen, eiskalten Glieder. Es gab nicht viel, was sie sich noch im Leben wünschte oder davon erwartete, aber diesen Anruf sehnte sie mehr als alles andere herbei.

    Gewiss konnte sie nicht ungeschehen machen, was sie damals angerichtet hatte, aber wenn sie es sich schon selbst nicht vergeben konnte, vielleicht konnte er es tun.

    Jede Faser ihres Körpers war bis zum Zerreißen gespannt, die Geräusche ihrer Umgebung nahm sie überdeutlich wahr, sie hörte das leise Knarren des Gebälks und das stete Vorrücken des Sekundenzeigers. Zehn Uhr zwölf!

    Mit zäher Langsamkeit zeigte die Uhr die verstrichenen Minuten an, und obwohl ihr die Beine vom langen Stehen schmerzten, rührte sie sich nicht vom Fleck, weigerte sich entschieden, diesen Platz zu verlassen. Verbissen verharrte sie bereits seit zwanzig Minuten, doch was bedeutete schon diese Zeit gegen achtunddreißig Jahre? Sie würde warten! Zehn Uhr sechzehn. Als das Telefon schrillte und die Stille im Haus grob zerriss, ließ sie das plötzliche Geräusch zusammenfahren. Ihr Blick glitt zum Display, die Nummer war unterdrückt und ungelenk griff sie mit zitternder Hand nach dem Hörer.

    „Hallo?"

    Fremdartig vernahm sie ihre eigene krächzende Stimme, räusperte sich und sprach erneut in die Muschel. Keine Antwort! Stille! Da, sie konnte ihn hören, sein Atemzug klang rasselnd. Ungesund. War er etwa krank?

    „Chrishan?"

    Sie spürte das Beben ihrer Stimme. In der Leitung wurde es so totenstill, als hätte der Anrufer die Luft angehalten.

    „Chrishan? Bist du es?"

    Keine Antwort! War er wirklich so feige?

    Das passte gar nicht zu ihm, nicht zu dem Mann, den sie mal gekannt hatte. Dieser Mann war mutig und waghalsig gewesen!

    Konnte er sich so sehr verändert haben? Oder fürchtete er nur ihren Zorn? Immer noch?

    „Was damals passiert ist, war nicht deine Schuld! Es war ein dummer Unfall! Du kannst nichts dafür! Niemand kann das!"

    Warum reagierte er nicht?

    Bitte, rede mit mir! flehte sie still.

    Beschwörend sprach sie erneut in den Apparat.

    „Chrishan, wenn du es bist ... Komm nach Hause! Bitte!" Ein schreckliches Stöhnen drang durch den Hörer bis an ihr Ohr. Zuerst leise, schwoll es immer lauter an. Es hatte nichts Menschliches mehr an sich, sondern den Klang eines waidwunden Tieres. Zutiefst erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, dieser Laut hatte sie bis ins Mark getroffen!

    Was hatte sie ihm nur angetan?

    Bevor sie reagieren konnte, trennte sie ein plötzliches

    Klacken in der Leitung, gefolgt von der monotonen Abfolge des Besetztzeichens. Fassungslos starrte sie auf den Hörer.

    Die Verbindung war unterbrochen.

    Er hatte aufgelegt!

    ***

    Frau Rösen hatte sie eindeutig ertappt!

    Anne wusste, sie hatte es vergeigt, und ihr wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, dass die Klausur nun mit einer Sechs benotet wurde. Was für ein Desaster!

    Wie sollte sie das nur ihrer Mutter erklären?

    Abwartend stand die Pädagogin vor ihr, sah nachdenklich auf das Mädchen herab und sprach sie schließlich freundlich an.

    „Fräulein Imhoff, möchten Sie Ihre Arbeit nicht abgeben?"

    Fassungslos starrte Anne die Lehrerin an. Was hatte die vor? Erwartete sie allen Ernstes, dass sie vor der ganzen Klasse ihre Tat gestand? Selbstmitleid trieb ihr die Tränen in die Augen, und da sie sich sonst nicht rührte, nahm ihr Frau Rösen behutsam die Blätter aus der Hand und legte sie auf den Stapel der bereits abgegebenen Seiten. Im selben Moment ertönte der erlösende Pausengong, die Schüler verließen eilig ihre Plätze, und ohne Anne weitere Beachtung zu schenken, übertönte Frau Rösens helle Stimme mühelos den anschwellenden Lärm im Klassenzimmer.

    Zögernd packte Anne ihr Schreibzeug in den Rucksack, sie konnte es kaum fassen, so unbeschadet davongekommen zu sein, trotzdem saß ihr der Schreck noch in den Gliedern. Mit wackeligen Knien erhob sie sich vom Platz und wurde resolut von Jasmin aufgehalten. Die hatte sich wütend vor ihr aufgebaut und bedachte Anne mit bitterbösen Blicken.

    „Mann, stellst du dich vielleicht blöd an!, blaffte sie, warf sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und huschte mit unschuldigem Augenaufschlag und einem liebenswürdigen „Tschüss, Frau Rösen! zur Tür hinaus.

    Beschämt folgte Anne den letzten Schülern, als die Lehrerin sie zurückrief.

    „Fräulein Imhoff? Einen Augenblick, bitte!"

    Sie hatte es doch gewusst!

    „In der nächsten Stunde werden Sie ein Referat halten. Ihr Thema ist das Alte Land. Bitte bereiten Sie sich gut vor!"

    Irritiert blickte Anne ihre Lehrerin dümmlich an.

    „Haben Sie noch eine Frage, Fräulein Imhoff?"

    Zum zweiten Mal in dieser Stunde verschlug es Anne die Sprache, und langsam dämmerte dem Mädchen, dass soeben ihre Strafe verhängt worden war.

    „Nein, nein. Altes Land, stammelte Anne monoton. „Nächste Stunde. , fügte überflüssigerweise mit Entsetzen hinzu: „Und alles auf Englisch?"

    „Aber das versteht sich doch von selbst!"

    Niedergeschlagen dachte Anne nach. So ein Mist, das würde sie etliche Nachmittage kosten!

    Aber es hätte weitaus schlimmer kommen können!

    Frau Rösen konnte ihr die Erleichterung ansehen.

    „Ich bin mir sicher, dass ich weitere interessante Themen für Sie finde! Aber nun können Sie erst mal in die Pause gehen."

    Als die Lehrerin sich abwandte und die Klassenarbeiten in ihrer abgewetzten ledernen Aktentasche verstaute, hätte Anne schwören können, dass sie dabei lautlos lachte.

    Fluchtartig machte das Mädchen auf dem Absatz kehrt, rannte auf den Gang hinaus und stieß im vollen Schwung mit Maike zusammen, die sie offenbar gesucht hatte.

    „Au, Mensch Anne, kannst du nicht aufpassen? Wo bleibst du überhaupt so lange?"

    Ihre Freundin rieb sich stöhnend die Seite, dort wo sie versehentlich Annes Ellenbogen zu spüren bekommen hatte, und sah dann überrascht in deren hochrotes, glühendes Gesicht.

    „War irgendwas?"

    „Mmh. Komm, lass uns bloß hier abhauen!"

    Alarmiert linste Maike in das Klassenzimmer hinein und nickte ihrer Freundin verstehend zu.

    „Sag bloß, du hattest Stress mit der Rösen?"

    Eiligst zog Anne sie am Arm fort.

    „Jetzt mach schon!"

    „Was auch immer du angestellt hast, verdirb es dir nicht mit der! Wir hatten heute bei ihr Musik, naja, und Sascha kam auf die glorreiche Idee, den Unterricht ein wenig, na abwechslungsreicher zu gestalten. Dafür durfte er uns allen ein Lied vortragen. Du hättest ihn sehen sollen, wie er da stand, mit knallroter Birne, und `Alle Brünnlein fließen` zum Besten geben musste und das auch noch total schräg! Mensch, ich hatte echt lange nicht mehr so ´nen Spaß! Der obercoole Sascha hat sich voll zum Affen gemacht, das wird in die Schulmemoiren eingehen!"

    Glucksend hielt sie sich den Bauch. Da die Freundin aber keine Miene verzog forschte Maike nach: „War es so schlimm?"

    Anne nickte unmerklich: „Hat mich beim Spicken erwischt!"

    „Scheiße! Und?"

    „Und jetzt darf ich nächsten Montag ein Referat halten, auf Englisch! Seufzend fügte sie hinzu: „Wahrscheinlich jeden verdammten Montag!

    „Scheiße!", wiederholte Maike noch einmal innbrünstig und legte ihr mitfühlend den Arm um die Schulter.

    „Ich sag‘s ja, die Rösen ist echt zum Fürchten."

    Sicher wirkte die Lehrerin manchmal ziemlich schräg, gleichwohl engagierte sie sich sehr in ihrem Beruf, ging an jede Unterrichtsstunde mit einer Ernsthaftigkeit und Begeisterung heran, als ob das Überleben jedes einzelnen Schülers von der erfolgreichen Teilnahme abhinge. Das konnte jedenfalls selbst für eine Lehrkraft nicht normal sein! Vielleicht war ihr ganzes komisches Benehmen nur Show, nur Theater? Anne dachte darüber nach, dass es gewiss kein Zufall war, dass diese Lehrerin es so mühelos schaffte, in ihren Unterrichtsstunden für Ruhe und Aufmerksamkeit zu sorgen, und zwar in allen Klassen! Bei ihr gab es keine Einträge wegen fehlender Hausaufgaben oder gar Anrufe bei den Eltern von Störenfrieden. Ihre Strafmaßnahmen waren sehr viel effizienter und sorgten immer dafür, dass derjenige, den es getroffen hatte, es sich demnächst zweimal überlegte, in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit zu geraten. Natürlich würde Anne das Referat halten und Vokabeln pauken, so gut sie konnte, und hoffen, dass die Lehrerin sie danach in Ruhe ließ. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, ihre Klassenarbeit wurde trotz Abschreibens gewertet, und damit hatte sie Anne eindeutig in der Hand. Die Rösen war nicht verrückt, die war eiskalt und raffiniert! Mann, die letzten Wochen bis zum Beginn der Sommerferien konnten noch verdammt lang werden.

    Die Klingel kündigte das Pausenende an, und ein Strom lärmender Schüler bahnte sich seinen Weg vom Schulhof in den Gang hinein, um sich sogleich in alle Richtungen zu zerstreuen. Die beiden Mädchen standen mitten im Weg und wurden durch den sich stetig drängenden Pulk getrennt.

    „Ich muss jetzt zu Mathe! Hast du heut Nachmittag Zeit?"

    Anne winkte ihrer Freundin über die Köpfe der an ihr Vorbeieilenden zu, bevor sie es aufgab, gegen die sie vorwärtsschiebende Masse anzukämpfen.

    ***

    Charlotte Ehlers ließ das Fahrrad auf der Hofeinfahrt ausrollen, hievte sich mühsam vom Sattel und schob den Drahtesel zurück in den Schuppen, bevor sie etwas kurzatmig ihr Heim betrat. Kaum fiel die Tür ins Schloss, entledigte sie sich ihrer Kostümjacke, die sie achtlos auf die Kommode warf, und streifte schwerfällig die flachen Pumps von den Füßen, um sie gegen robuste Arbeitsstiefel zu tauschen.

    Es war ein sehr warmer Tag, die Sonne schien hell durch die Fenster herein, trotzdem begann Charlie zu frösteln. Seufzend wischte sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, spürte die Nässe unangenehm kalt auf dem Rücken.

    Zögernd blieb sie im Flur stehen.

    Ach, was soll‘s. Ein Schnäpschen wird mir nicht schaden.

    Behände nahm sie den Apfelbrand und ein kleines Gläschen aus dem oberen Schrank der Anrichte. Als der Alkohol ihr die Kehle herunterrann, trat sogleich das gewünschte wohlige Gefühl ein. Meine Güte, tat das gut!

    Für einen Augenblick schloss sie die Augen und genoss die Wärme, die sich langsam in ihrem Körper ausbreitete.

    Die Anrichte schmückte ein kleiner Spiegel, und Charlie betrachtete sich selbstvergessen. Über ihre einst so strahlend blauen Augen hatte sich im Alter ein grauer Schleier gelegt, das Gesicht, von Wind und Sonne gegerbt, war schmal und hager geworden. Feine Fältchen durchzogen die Haut, an Stirn und Mundwinkeln hatten sie sich tief eingegraben und verliehen Charlotte ein strenges, fast verbittertes Aussehen. Bald wurde sie fünfundsechzig.

    „Du bist alt geworden", flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.

    Eine Strähne hing widerspenstig über dem Ohr herab, und Charlotte steckte sie fest. In ihrer Jugend hatte sie wunderschönes Haar gehabt, hellblond mit langen weichen Wellen, die Freundinnen hatten sie immer darum beneidet. Nun war es dünn und spröde, zu einem Knoten im Nacken gesteckt, von unbestimmbarer Farbe und durchzogen mit grauen Strähnen.

    Als ihr bewusst wurde, dass sie immer noch die Flasche und das Glas in den Händen hielt, schenkte Charlotte sich noch einen Schnaps nach und stürzte ihn in einem Zug hinunter.

    „Wirklich gutes Zeug", flüsterte sie zufrieden und beförderte den Apfelbrand an seinen Platz zurück.

    Nicht dass sie sonst Alkohol trank, aber dieser Tag war auch nicht wie jeder andere. Er gehörte mit zu den schlimmeren Tagen in ihrem Leben, und davon hatte es wirklich reichlich gegeben, eigentlich mehr als ein Mensch allein verkraften konnte. Immerhin hatte sie diesmal ihr Schicksal selbst in die Hand genommen, heute war es nicht unerwartet und unvorhersehbar über sie hereingebrochen.

    Nein, sie hatte eine Entscheidung getroffen!

    Eine, die ihr nicht gefiel, die sie zutiefst schmerzte, aber es war ein richtiger und notwendiger Entschluss gewesen.

    Es war Mittagszeit, und sie musste den Arbeitern das Essen bereiten, doch vorher wollte sie noch eben auf ihrem Hof nach dem Rechten sehen. Durch den Vorratslagerraum und die dahinter befindliche Nebentür stapfte Charlotte in den Garten hinaus. Dieser lag etwas höher als das angrenzende Obstgebiet und bot einen wunderbaren Blick über das Land.

    Die Apfelblüte neigte sich langsam dem Ende zu, und da es kaum Nachtfröste gegeben hatte, würde sie voraussichtlich in diesem Jahr eine gute Ernte einfahren. Ihre letzte Ernte!

    In einem halben Jahr würde ihr dieses Land nicht mehr gehören, das Land, das seit sechs Generationen von ihrer Familie bewirtschaftet wurde, jeweils an den ältesten Sohn vererbt, das zwei Kriege und mehrere Sturmfluten überstanden hatte. Als bei der großen Flut damals die Deiche brachen, war sie gerade mal fünfzehn Jahre alt gewesen, und diese Katastrophe hätte ihre Familie fast das Leben gekostet.

    Nie wieder hatte sie seitdem so ein gewaltiges Ausmaß an Zerstörung erlebt, aber das Land hatte sich davon erholt. Ihr Vater steckte all seine Kraft in den Hof, gab sein ganzes Wissen und die jahrelangen Erfahrungen an sie weiter, und sie hatte später seine Arbeit fortgeführt.

    Das war immer ihr Lebensinhalt gewesen!

    Mit diesem Land war sie auf ewig und auf eine ganz besondere Weise verbunden.

    Gut, dass ihr Vater das nicht mehr erleben musste!

    „Charlie, geht es dir nicht gut?"

    Unbemerkt war Pavel, ihr polnischer Vorarbeiter, an sie herangetreten.

    „Geht schon. Ich hab es jetzt endlich hinter mich gebracht!"

    „Alles geklappt, so wie du wolltest?"

    „Ja, die Papiere sind unterschrieben. Ende Oktober ist Schluss für uns! Die Schlepper und Pflückwagen bringt Helge nach der Ernte selber wieder in Schuss, ich brauch mich also später nicht mehr um die Maschinen zu kümmern."

    „Du hast Köpkes Sohn wirklich dein Hof verkauft? Es steht mir nicht zu, Charlie, aber vielleicht hätte anderer Bauer dir besseren Preis gegeben?"

    Schon möglich. Aber sie wollte den Hof in guten Händen wissen! Wenn sie schon verkaufen musste, dann doch lieber an die Familie eines Freundes als an Fremde. Außerdem war es praktisch, da Köpkes Grundstück an das ihre grenzte.

    Sorgenvoll schaute Pavel sie an.

    „Was willst du später machen, Charlie?"

    „Meine wohlverdiente Rente genießen! Ausschlafen. Was weiß ich? Was alle Rentner so machen! Kaffeefahrten?"

    Pavel lachte schallend los.

    „Du und Kaffeefahrten? Das will ich sehen mit meine eigene Auge!"

    Er hatte ja recht! Sie konnte sich absolut nicht vorstellen, was sie mit so viel freier Zeit anstellen sollte! Noch hatte sie ihren geregelten Tagesablauf. Es gab immer Arbeit auf dem Hof, sieben Tage in der Woche, einzig im Dezember herrschte Arbeitsruhe. So war sie es ihr ganzes Leben lang gewohnt! Freizeit? Darüber musste sie erst noch nachdenken.

    Pavel sorgte sich wirklich rührend, er wollte wissen, ob sie zurechtkommen würde. Warum sollte sie das nicht?

    Irgendwie würde sie schon über die Runden kommen.

    Charlotte hatte ihr Haus! Was brauchte sie mehr?

    „Du solltest nicht allein sein!", warf er ein.

    „Ach, ich bin nicht allein! Aber du, du wirst mir fehlen!"

    „Weil du keinen hast, den du dann rumkommandieren kannst!"

    Sie stimmte in sein Gelächter ein, Pavels Fröhlichkeit war ansteckend. Sein Abschied würde ihr schwer fallen. Pavel war immer da, wenn sie Hilfe brauchte, und er verstand etwas von seinem Fach. Wie viele Nächte hatten sie sich gemeinsam mit dem Spritzen oder Beregnen der Obstbäume um die Ohren geschlagen? Bei Hagelschlag oder Wanzenbefall der Bäume bangte er genauso wie sie um den Ertrag. Im Laufe der Jahre hatte er sich ihr Vertrauen redlich verdient.

    Nachdenklich schaute Charlotte ihren Mitarbeiter an, sie beide kannten sich schon so lange, dass er fast zur Familie gehörte, und er war eine liebe und treue Seele. Also warum sollte sie nicht wenigstens etwas für ihn tun können?

    „Pavel, ich kann bei Helge ein gutes Wort für dich einlegen, bestimmt würde er dich gern übernehmen."

    „Oh, Charlie. Ich immer arbeite gern für dich, aber nicht für Köpke. Ich habe nichts gegen Helge. Aber sein Vater? Dem Alten ich nie getraut, ich sag dir, der ist nicht koscher!"

    Scheinbar meinte er das ernst, doch sie wollte nicht mit ihm streiten, und so ließ sie das Thema fallen.

    „Also gehen wir beide bald in Rente", bemerkte sie trocken.

    „Ja. Ich freu mich auf meine süße Enkel. Kann sie

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