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Später, Lena, später
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eBook277 Seiten4 Stunden

Später, Lena, später

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Über dieses E-Book

Frauenemanzipation des 20. Jahrhunderts: Lena und Kjell kennen sich seit ihrer Kindheit, wo sie in einem kleinen Ort an der Küste von Trändelag im Norden Norwegens zusammen aufgewachsen sind. Als sie sich in der Kreisstadt auf dem Gymnasium wiedersehen, verlieben sich sich ineinander. Obwohl Lena zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung hegt, heiraten sie - die konservative Moral der fünfziger Jahre lässt ihr keine andere Möglichkeiten. Trotz aller Bemühungen Lenas, trotz des beruflichen Erfolgs ihres Mannes ist die Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aufgrund ihrer Unselbständigkeit ließ Lena sich in die Ehe mit Kjell drängen, wo sie jedoch kein Verständnis findet. Mit große Verständnis und Einfühlsamkeit folgt Anne Karin Elstad, eine der erfolgreichsten Autorinnen Norwegens, dem Lebensweg ihrer Heldin und erzählt wie es Lena schließlich gelingt, sich von überkommenen Normen zu befreien und einen neuen Anfang zu finden. AUTORENPORTRÄT Anne Karin Elstad wurde 1938 in Valsøyfjord in Nordmøre Norwegen geboren. Sie arbeitete als Lehrerin, bis sie 1976 ihren ersten Roman veröffentlichte. Elstad gehört mit Gaarder zu den bekanntesten und erfolgreichsten Schriftstellern Norwegen. Elstad war in ihrem Heimatland so populär, dass sie schon für Schlagzeilen sorgte, wenn sie nur ein Manuskript im Verlag ablieferte. Ihre Bücher sind in Norwegen Bestseller und verkaufen sich über eine Million Mal. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen für ihre Bücher erhalten. 2003 und 2006 hat sie unter anderem den norwegischen Leserpreis erhalten. Elstad starb am 4. april 2012. Insgesamt hat sie fünfzehn Bücher geschrieben. REZENSION "Elstads Buch liest sich wie der schwedische Erfolgsroman Hannas Röchet von Marianne Fredriksson." - Ostsee Zeitung "Anne Karin Elstad ist eine wahre Meisterin im Schildern von Einzelschicksalen." - Aftenposten "Anne Karin Elstad ist eine glänzende Erzählerin." - Aftenposten "Anne Karin Elstad bietet Lesehungrigen, Menschen, die nach Erzähltem süchtig sind, echten Lesestoff." - Aftenposten
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum24. Apr. 2015
ISBN9788711442159
Später, Lena, später

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    Buchvorschau

    Später, Lena, später - Anne Karin Elstad

    Saga

    1

    Lena lächelt schwach. Jetzt solltest du mich sehen, Kjell. Du würdest eine deiner unerschütterlichen Diagnosen stellen. Ich bin der Prototyp der einsamen Frau. Gefangen in meinen bitteren Gedanken, zusammengekrochen in meinem einsamen Sessel. Sogar ein Cognacglas ist dabei, um das Bild zu vervollständigen.

    Lena hält ihr Glas gegen das Licht, weiß, daß es keinen Sinn hat, zu Bett zu gehen. Abwesend dreht sie das Glas, sieht zu, wie die goldene Flüssigkeit im Schein der Lampe umherschwappt. Wieder lächelt sie. Du irrst dich, Kjell. Einsam war ich bei dir. Weißt du, daß ich eine Zeitlang das lähmende Gefühl hatte, in einem Ei zu leben? Nein, ich war nicht verrückt, nur besessen von diesem Gedanken. Alles sollte golden sein, gelb, ewiger Sonnenschein und wir im Ei, ich, du, die Kinder, unsere Freunde, unsere Umgebung. Was außerhalb war, ging uns nichts an. Nichts durfte häßlich sein. Noch jetzt habe ich Angst, wenn ich an diese Einsamkeit denke, an das ewige Sonnengelb im Ei.

    Beim nächsten Schluck merkt sie fröstelnd, daß sie genug hat. Doch, Kjell irrt sich. Sie hebt das leere Glas, betrachtet es. Auch hierin irrt er sich. Sie trinkt selten, allein fast nie. Wenn sie es tut, endet es normalerweise mit derselben Grübelei.

    Bald fünf Jahre ist sie schon mit den Kindern allein.

    Anfangs waren die Gedanken an ihr Leben mit Kjell, an ihren Aufbruch und dessen Folgen wie Stacheldraht, der sich in ihr müdes Gehirn bohrte. Sie wehrte sich dagegen, denn ihr neuer Alltag, die Kinder und die Stelle forderten alles, was sie an Energie und Stärke aufbringen konnte. Also verdrängte sie diese Gedanken. Baute eine Sperre zwischen sich und allem, was gewesen war, auf, zwang sich, für den jeweiligen Tag und für das, was vor ihr lag, zu leben. Erst jetzt, nach diesen fünf Jahren, wagt sie, das Verdrängte wieder hochkommen zu lassen. Jetzt gleiten die Bilder ruhiger an ihr vorbei, einige deutlicher als die anderen, aber es tut nicht mehr weh. Die scharfen, schmerzhaften Kanten der Erinnerungen scheinen abgeschliffen zu werden, jedesmal ein bißchen mehr, jedesmal, wenn sie nachgibt und den Gedanken freien Lauf läßt.

    2

    Sie waren in einem kleinen Ort an der Küste von Tröndelag aufgewachsen. Lenas Eltern betrieben dort den lokalen Gemischtwarenhandel. Sie hatten das Fährbüro und ein Stückchen Land, genug für ein paar Kühe und fünf, sechs Schafe. Für Lena und ihre drei Brüder herrschte nie Überfluß, aber wie Kjell litt sie nicht unter der beengten Finanzlage, die in den Nachkriegsjahren eher die Regel als die Ausnahme war.

    Kjell war der Sohn des Bezirksarztes. Das verlieh ihm natürlich Status und Autorität. Er war drei Jahre älter als Lena, mit ihren Brüdern befreundet. In der Schule war sie im Vergleich zu ihm ein kleines Kind und sie bewunderte ihn. Als sie dreizehn war, besuchte er schon die erste Klasse des Gymnasiumsa. Sie erinnert sich noch jetzt daran, wie er in den ersten Weihnachtsferien nach Hause kam, fremd und erwachsen. Ihre Bewunderung kannte keine Grenzen! Er war einer der wenigen, die aufs Gymnasium gingen, und auch das verlieh ihm einen Status, der ihn die meisten anderen weit überragen ließ.

    In diesen Jahren war sie aus der Ferne in ihn verliebt. Eine Verliebtheit, die mit den Ferien kam und ging. Als sie alt genug war, um Parties zu besuchen, tanzte er mit ihr, knutschte bisweilen ein bißchen, aber auf eine herablassende Weise, die sie damals schrecklich verletzte. Sonst fand sie keinen Fehler an Kjell. In ihren Augen war er vollkommen.

    Nach der Grundschule half sie ihren Eltern ein Jahr lang im Laden. Ihre Mutter meinte, sie sollte das Abitur machen. Der Vater war unwillig, die Jungen ja, aber Lena, als Mädchen ... Doch in diesem Punkt gab die Mutter nicht nach, und irgendwie gelang es den Eltern, allen Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. „Ausbildung" – das bedeutete Abitur. Für den Rest mußten sie selber sorgen. Lena war die einzige aus ihrem Jahrgang, die aufs Gymnasium kam. Das war für sie ein Wendepunkt. Es war der erste Schritt, der sie vom Heimatort und den Jugendfreundschaften entfernte.

    An einem strahlenden Augustmorgen 1955 steht Lena vor dem schwarzen Brett des Gymnasiums und sieht ihren Namen auf der Liste derer, die die Aufnahmeprüfung bestanden haben. Sie läßt sich von der Menge, die sich vor der Liste zusammendrängt, herumbschubsen. Die Gesichter flimmern vor ihren Augen. Sie hat es geschafft!

    Auf dem Schulhof bilden sich nach und nach zwei Gruppen. Die Erfolgreichen in unbändiger Freude. Andere, die genauso viel investiert, aber verloren haben, versuchen, sich so unsichtbar wie möglich zu machen, manche spielen die Erhabenen, aber nach und nach verschwinden sie alle. Still, jeder für sich, gehen sie zu ihren Quartieren und packen für ihre bittere Heimreise. Lena fröstelt. Es hätte genauso gut sie treffen können. Nun begreift sie erst richtig, wie entscheidend dieser Tag ist. Noch einmal würde sie es nicht schaffen. Die Alternative wäre die Handelsschule ...

    Für den Moment strömt so viel auf sie ein, daß sie sich nicht richtig freuen kann. Sie muß zurück auf ihr Zimmer, muß jetzt allein sein.

    Die Arme unter dem Nacken verschränkt, liegt sie auf dem Bett und starrt die Decke an. Was ist das für ein Sommer gewesen! Sie war so glücklich, als ihr Vater damit einverstanden war, daß sie aufs Gymnasium ging. Sie hat gelernt und sich vorbereitet. Stein, ihr nächstältester Bruder, der in diesem Jahr Abitur macht, hat ihr geholfen, und nie ist ihr der Gedanke gekommen, sie könnte durchfallen. Deshalb war es ein Schock, herzukommen. Ein Schock, zur Prüfung zu erscheinen und zu wissen, daß danach nur wenige von ihnen dabeisein würden. Die Furcht hat ihr die ganze Zeit wie ein Stein im Magen gelegen. Die Furcht, die alle hinter unbekümmertem Gelächter und Albernheiten verborgen haben. Und dann dieser Tag, ihr Name bei denen, die bestanden hatten, die starren Gesichter der Durchgefallenen.

    Nachmittags holt sie Stein und Kjell vom Bus ab. Die beiden sind eng befreundet, gehen in dieselbe Klasse und wohnen zusammen bei Kjells Tante im Souterrain. Lena begleitet sie, hilft mit dem Gepäck, und nun freut sie sich nur noch. Jetzt erst begreift sie, daß sie nun dazugehört. Lachend und scherzend hören die beiden Jungen ihren Wortschwall. Über diese Aufgabe und jene, und ob sie sich überhaupt vorstellen können, wie schrecklich alles war?

    Mit hüpfendem Pferdeschwanz tanzt sie zwischen ihnen, ein großes, schmales Mädchen in ärmelloser Bluse und engen Jeans. Sie spürt, daß heute mehr als je zuvor in ihrem Leben ihr Tag ist.

    Die erste ausgelassene Freude wich bald Ernst und Arbeit. Eine Sache war es, aufgenommen zu werden, eine andere, auch weiterzukommen. Die erste Klasse war eine buntgemischte Gruppe. Die Schüler kamen aus unterschiedlichen Verhältnissen, ihr Alter schwankte um zwei bis drei Jahre. Die Ältesten waren fast ausschließlich Jungen. Die meisten hatten nur die Grundschule besucht. Im Laufe eines Jahres sollten sie aufholen, was die anderen in zwei oder drei Jahren Realschule gelernt hatten. Nur ein paar Glückskinder hatten weitergehenden Unterricht erhalten.

    Sie wußten, daß die anderen in der Klasse die Realschüler einholen mußten. Dieser Druck lastete die ganze Zeit auf ihnen, schuf aber auch eine besondere Gemeinschaft. Sie nahmen nichts als gegeben hin. Vom ersten Tag an herrschten Arbeit und Ernst.

    Auch sonst gab es viele Gemeinsamkeiten. Alle hatten wenig Geld. Sie holten ihre Essenspakete, die mit dem Bus von zu Hause kamen, und sie drehten jede Krone um, die die Eltern ihnen schicken konnten.

    Es war harte Plackerei. Spätabends saß sie manchmal weinend über ihren Büchern. Ein bißchen Englisch hatte sie schon vorher gelernt, alles andere war neu. Englisch, Deutsch, Mathematik, Grammatik – alles wurde zu einem unbegreiflichen Brei zusammengerührt. Manchmal kamen Stein und Kjell ihr zu Hilfe, doch sie zeigten dabei gereizte Ungeduld. Beide hatten in ihrem letzten Jahr mehr als genug zu tun, in den freien Stunden wollten sie von der Schule nichts hören. Selber hatten sie keine Angst davor, Lena um Hilfe zu bitten. Es fing ganz klein und harmlos mit einem Hemd an, das sie einfach nicht richtig sauber bekamen. Ob Lena vielleicht so lieb sein könnte? Sie war so lieb, und ehe sie es begriffen hatte, war daraus eine Gewohnheit geworden. Sie räkelten sich auf ihrem Sofa, und Lena stand am Waschbecken und scheuerte verdreckte Socken und eklige Fettränder in graugelben Nylonhemden. Zu protestieren fiel ihr nicht ein, auch wenn die Hausaufgaben darunter zu leiden hatten.

    3

    Die erste Zeit ist erfüllt von so viel Neuem, so vielem, das zum ersten Mal geschieht. Die erste Klassenarbeit, der erste Aufsatz und – das erste Schulfest.

    Mit ein paar Klassenkameradinnen ist Lena den ganzen Samstagnachmittag mit Vorbereitungen beschäftigt. Haare legen, bügeln; herausgeputzt ziehen sie los.

    Der Tanz hat schon angefangen. Lenas Hände werden vor Nervosität schweißnaß, als sie sieht, wie gut die anderen tanzen. Auf den Festen zu Hause hat sie sich auch zögernd am Swing versucht, aber das hier ist etwas ganz anderes. Eben hat sie sich noch so gut gefühlt, in weißer dünner Bluse, schwarzem Rock mit breitem Gummigürtel und roten Ballerinaschuhen. Jetzt kommt sie sich unbeholfen und verloren vor.

    Als Kjell sie auffordert, würde sie sich am liebsten verstecken, traut sich aber nicht, ihre Unsicherheit zu zeigen. Dieser erste Abend ist so wichtig! Sie ist steif vor Konzentration.

    „Ganz ruhig!" sagt er und grinst, und nach und nach löst sie sich. Sie macht Fehler, falsche Drehungen, kümmert sich aber nicht darum, läßt sich von der Musik mitreißen. Routiniert führt er sie durch mehrere Tänze, und sie muß sich zusammenreißen, damit er nicht merkt, wie begeistert sie ist. In der letzten Zeit hat sie bemerkt, daß Kjell sie mit anderen Augen ansieht. Sie ist Gymnasiastin, nicht mehr die Kleine aus dem Laden zu Hause. Noch immer bewundert sie ihn, ist auch in ihn verliebt, hält sich aber sorgfältig an die Regeln. Wenn er anfängt, sich für sie zu interessieren – und sie spürt, daß er das tut – darf sie ihre Chancen nicht durch zu großen Eifer ruinieren. Auf ihre Weise kann sie an den Fäden ziehen, aber den Anstoß muß er geben.

    Als ein langsamer Tanz gespielt wird, konzentriert sie sich ganz darauf. Eng tanzen, aber nicht zu eng, weich sein, aber nicht zu weich, über neutrale Themen reden.

    „Quasselstrippe!" sagt er.

    „Bin ich das?" lacht sie und sieht ihm in die Augen, und als er sie fester an sich drückt, als sie seine Wange an ihrer spürt, wird ihr ganz warm.

    Sie weicht seinem Blick aus, als er sie an ihren Platz bringt, verbirgt ihre leuchtenden Augen, die sie verraten würden. Das hat sie gelernt, das können sie alle. Als er sich für den Tanz bedankt, fragt sie kurz: „Pflichttanz?"

    „Nenn’s, wie du willst, antwortet er leichthin. „Muß ja aufpassen, daß sich das Lamm unter den Wölfen wohlfühlt.

    Danach lösen sich Lenas Spannungen. Ein Abiturient hat sie akzeptiert, und nun bemerken sie auch andere. Einer nach dem anderen fordert sie auf, und glücklich läßt sie sich mitreißen. Jetzt kann sie aufatmen, die Schande, den ganzen Abend Mauerblümchen spielen zu müssen, ist ihr erspart geblieben.

    Wenn sie mit anderen tanzt, flirtet, spürt sie Kjells Augen und sie lacht übermütig. Das geschieht ihm recht! Er soll ja nicht glauben, sie käme angelaufen, sowie er mit den Fingern schnippt. Sie denkt daran, wie oft er ihr gegenüber überlegen und gleichgültig gewesen ist, als sie noch zu Hause war. Jetzt kann sie sich rächen, so tun, als sähe sie ihn nicht, doch ein Teil von ihr weiß die ganze Zeit, wo er sich gerade befindet.

    „Lena, das ist hier nicht so wie zu Hause. Du solltest vielleicht ein bißchen vorsichtiger sein. Eine Neue kriegt hier leicht einen schlechten Ruf. Verstehst du, was ich meine?" fragt Kjell, als er sie wieder auffordert.

    Sie lächelt, aber sie versteht, was der Zorn in seinen Augen für sie bedeutet. Und für den Rest des Abends tanzen sie zusammen. Tanzen eng, tanzen weich, denn jetzt darf sie das. Er bringt sie nach Hause. Sie treffen sich am nächsten und am übernächsten Tag. Jetzt sind sie zusammen, endlich. Sie wird bald siebzehn und hat einen festen Freund.

    4

    Alles, was von außen kam, beeinflußte sie ungeheuer stark, Filme, Reklame, Mode, ein glattes Äußeres, den Idealen so nah wie möglich. Mädchen sollten sexy sein, trotzdem aber von reizender Unschuld, eine Mischung aus Marilyn Monroe und Doris Day. Jungen sollten stark sein, einen schmalen Hintern und breite Schultern haben. An Aussehen und Betragen wurden Forderungen gestellt. Auf der Tanzfläche wurde das Mädchen im Petticoat herumgeschleudert, wobei ihre Unterhose bis zur Taille zu sehen war; nervös konzentrierte sie sich auf ihre Beine, ihre Schenkel, ihren Po, ob alles gut genug war. Gleichzeitig sollte sie „anständig" sein. Um mit einem netten Jungen gehen zu können, mußte sie einen fleckenlosen Ruf haben.

    Heute, nach all den Jahren, kann Lena erkennen, wie brutal dieser Druck auf ihnen allen gelastet hat. Damals nahmen sie es als gegeben hin, waren in einem Muster gefangen, das ihnen nicht bewußt war. Und dazu hatten sie noch die Schule, die Höchstleistungen forderte.

    Sex wurde in Filmen, Reklame und Illustrierten vermarktet. Sie sprachen darüber, aber meistens sehr oberflächlich. Niemand traute sich, Unsicherheit, Unwissenheit oder Angst preiszugeben.

    In der Schule wurde von Mädchen und Jungen das gleiche verlangt. Draußen waren sie streng nach Geschlechtern getrennt und völlig unterschiedlichen Anforderungen unterworfen. Wenn ein Junge von einer zur anderen flatterte und lauthals mit seinen Eroberungen prahlte, wurde das akzeptiert und festigte seine Position. Wenn ein Mädchen dasselbe tat, fiel sie sofort unter die Kategorie Freiwild, und ihre Chancen, das attraktive Ziel „fester Freund" zu erreichen, sanken beträchtlich. Sie sollte zwar rechts und links flirten, um ihre Attraktivität und Popularität unter Beweis zu stellen, aber sie sollte Grenzen ziehen können. Bei vielen Mädchen führte das zu einer zynischen Einstellung den Jungen gegenüber. Sie benutzten ihr Geschlecht als Waffe. Da sie immer wieder mit äußerlichen Maßstäben gemessen wurden, nahmen sie den Jungen gegenüber Kampfhaltung ein. Einen Jungen zum Kochen zu bringen, um ihn dann verschmähen zu können, wurde zum sichtbaren Sieg, und sie rächten sich damit unbewußt für ihre eigene verwundbare Lage. Sie kamen nie auf die Idee, daß ein Korb für einen Jungen, der sie zum Tanz aufforderte, eine ebenso große Demütigung war wie das Mauerblümchen-Dasein für ein Mädchen. Im Kampf um Status war das erlaubt. In einem Kampf, in dem die Jungen die Stärkeren waren, weil sie das Recht hatten zu wählen. Die mutigsten Mädchen konnten sich durch Körbe rächen. Wer einen Tanz nach dem anderen sitzen blieb, konnte sich das nicht leisten, egal wer der Junge auch sein mochte.

    Sie wurden selbstbezogen und körperfixiert. Die Jungen redeten von Titten und Beinen und Schenkeln, und selbst die hübschesten Mädchen litten unter schweren Komplexen. Immer fanden sie etwas an sich, das nicht gut genug war.

    Diese Haltungen nahmen sie mit sich ins Leben. Eine Scheinwelt aus ermüdenden Forderungen und falschen Idealen. Eine Glanzbildwelt, in der Unsicherheit hinter glatten und uniformierten Fassaden versteckt wurde.

    Doch nicht nur dadurch wurden sie geformt, auch die Atmosphäre im Gymnasium war etwas Besonderes. Die meisten von ihnen wohnten möbliert. Viele kamen wie Lena aus kleinen Orten, in denen es für die Jugend nur die Wochenend-Feste in den nahegelegenen Lokalen gab. Nun waren sie in einer völlig anderen Welt gelandet. Sechzehnjährige mußten auf sich selber aufpassen, Verantwortung für Geld und Schule tragen. Wer von der Realschule kam, wohnte schon seit zwei Jahren möbliert. Das gab ihnen Freiheit, machte sie aber auch frühreif. In der Auseinandersetzung mit der neuen Umgebung verloren sie den Kontakt zu alten Freunden und ihren Heimatorten. Die Konkurrenz der Samstagabende wurde zum immerwährenden Zustand.

    Die möblierten Zimmer hatten ihre eigenen Gesetze. Jungen genossen größere Freiheit als Mädchen, die von eifrigen Wirtinnen überwacht wurden. Einige durften keinen Herrenbesuch empfangen. Andere Vermieterinnen waren weniger streng in ihren Vorschriften und setzten eine Frist. Keine Jungen nach neun, zehn oder elf, je nach Dehnbarkeit der Toleranz. Ein Verstoß gegen diese Regeln bedeutete bestenfalls, daß Schule und Eltern informiert wurden. Schlimmstenfalls bedeutete es Kündigung des Zimmers – und in Fällen, die als extrem galten, den Verweis von der Schule. Das kam zu Lenas Schulzeit vor, passierte aber nur Mädchen. Sie kann sich an keinen einzigen Jungen erinnern, der von der Schule geworfen wurde. Jungen, die von der Schule abgingen, waren sitzengeblieben oder hatten die Lust verloren.

    Ein Mädchen mit einem solchen Schicksal war erledigt. Die anderen Mädchen sprachen darüber, waren im tiefsten Innern empört, hatten Mitleid mit ihr, wagten aber nicht, es zu zeigen. Sie stimmten in das verdammende Geheul ein, voller Angst, in dieselbe Kategorie eingeordnet zu werden, unter die diese Mädchen unweigerlich fielen. Sie sahen die Ungerechtigkeit, nahmen sie aber hin als einen Teil der Ordnung, der sie sich fügen mußten.

    Wenn jemand Lena damals gefragt hätte, ob sie glücklich sei, hätte sie ihn erstaunt angeblickt. Sollte sie denn nicht glücklich sein? Sie ging mit einem der attraktivsten Jungen der Schule. Außerdem machte er Abitur und hatte Erfolg. Das verlieh ihr Status, erleichterte die Zeit der Anpassung. Sie brauchte nur ins Zimmer gegenüber zu gehen, um den Beweis zu erhalten. Dort wohnte Synnøve. Sie kam von der Realschule, war eine Klasse über Lena und erschreckte sie zu Tode, als sie sie zum ersten Mal sah. Sie war umwerfend: schlank, attraktiv, selbstsicher, nonchalant. Lena fühlte, wie sie schrumpfte und unter Synnøves trägen, abschätzenden Augen, die sie mit einem einzigen überlegenen Blick maßen, zu nichts wurde.

    Sie kann es noch heute deutlich vor sich sehen. Synnøve stellte alles dar, was sie selber gerne gewesen wäre. Ihr honiggelbes Haar fiel in einer dicken Innenrolle auf ihre Schultern. Das glatte, hübsche Gesicht war goldbraun und perfekt geschminkt. Schwacher grüner Lidschatten vermittelte die Illusion eines grünlichen Schimmers in den blauen Augen mit den langen, dunklen Wimpern.

    In der ersten Zeit behandelte Synnøve Lena mit herablassender Überlegenheit, änderte ihr Verhalten aber, als sie Lenas Beziehung zu Kjell begriff. Nun akzeptierte sie Lena als Freundin. Lena erinnert sich noch an ihre Angst, als Synnøve und Kjell sich kennenlernten. Synnøve glitzerte. Sah ihn mit ihrem typischen von-unten-nach-oben-trägen Blick an. Jetzt merkte sie, wie gut er eigentlich aussah. Die dunklen, vorne gelockten Haare waren mit Frisiercreme zur genau richtigen halblangen Tolle nach hinten gebürstet, sogar im Winter war er braun. Synnøves blonder Kopf sah neben seinem dunklen so schön und richtig aus.

    Lena weiß noch gut, welches Bild sie damals von sich hatte. Natürlich war sie nicht zufrieden, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, sie war keine Schönheit, aber in ehrlichen Momenten konnte sie sehen, daß sie ein normal hübsches Mädchen war. Ihre hellbraunen Haare fand sie langweilig, aber sie waren dicht und glänzten. Meistens trug sie sie als Pferdeschwanz, an den Wochenenden offen, wenn sie sich durch eine Nacht mit Lockenwicklern gequält hatte. Der Pony fiel schwer über ihre ruhigen, grauen Augen. Kjell sagte, die Augen seien das Schönste an ihr. Er neckte sie oft mit ihrer Stupsnase, und sie fand ihre Wangen zu kindlich rund. Sie war groß, langbeinig und dünn. Trotzdem hatte sie schreckliche Angst davor, zuzunehmen. Ihre Brüste waren zu klein, ein Mangel, der durch Büstenhalter mit Einlage getarnt wurde. Normal, fand sie meistens, aber neben Synnøve kam sie sich wie eine graue Maus vor.

    Kjell durfte sie auf ihrem Zimmer besuchen, nur abends traute sie sich nicht, ihn hereinzulassen, wenn Stein nicht dabei war. Wenn die beiden zusammen kamen, schaute Synnøve immer herein. Kjell flirtete mit ihr, und in Lena brannte die Eifersucht. Es gehörte zum Spiel zwischen ihnen, es mußte so sein. Sei-dir-meiner-ja-nicht-zu-sicher hieß das Spiel. Sie wußte, daß er sie damit nur necken wollte. Trotzdem war sie vor Eifersucht außer sich. Bei der ersten Gelegenheit nahm sie Rache. Flirtete auf dem Schulhof, tanzte auf Festen lange eng mit anderen. Dann gab es Streit und Reue und stürmische Versöhnung. Manchmal wünschte sie, sie fände den Mut, ihm zu sagen, daß sie unsicher war, daß sie Angst hatte, ihn zu verlieren, daß ihr niemand anders etwas bedeutete. Aber sie wagte es nicht, wagte nicht, ihre Schwäche zu zeigen.

    Daran erinnert sie sich am besten, an die Unsicherheit, die Angst vor dem Versagen. Sie lernten nie, in solchen Fällen offen miteinander zu sein. Lernten es auch später nie.

    Lena erkannte bald, daß Synnøve Macht über sie hatte. Sie wußte auch, daß Synnøve sie benutzte. Sie als Hintergrund für sich selber benutzte, als Einstieg in die Gruppe um Kjell und Stein. In die attraktive Gruppe von Abiturienten. Trotzdem fühlte sie sich geschmeichelt, weil Synnøve sie zur Freundin haben wollte, geschmeichelt und ängstlich zur selben Zeit.

    Eines Abends

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