Die kleine Liebe: Roman
Von Jürg Schubiger
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Über dieses E-Book
L., eine Abkürzung für Laetizia, versucht zu erkunden, was die anderen offensichtlich längst auswendig kennen: das Alltägliche. Aus ihren Beobachtungen entsteht eine befremdende Beschreibung unserer Welt und der Spielregeln unseres Zusammenlebens. In einer Mischung von Heiterkeit und melancholischer Hintergründigkeit entwickelt Jürg Schubiger die Biografie dieser Frau.
Er erzählt von den Eltern, die auch dann nicht das Gleiche meinen, wenn sie das Gleiche sagen; von Gian, den sie sich in ihre Träume wünscht; von Markus, der so lange ihr Freund ist, bis sie in ihm nicht nur keine grosse Liebe, sondern auch keine kleine mehr zu finden vermag; von Susann, die für fast jedes Problem gleich mehrere Lösungen bereithält; und von der Malerin Agnes Martin, deren Bilder L. manchmal richtiger erscheinen als die Wirklichkeit.
Mit stilistischer Meisterschaft erzählt Jürg Schubiger L.s Geschichte in Szenen und Episoden, hinter deren Leichtfüssigkeit und Eleganz sich das ganze Gewicht eines Menschenlebens verbirgt.
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Buchvorschau
Die kleine Liebe - Jürg Schubiger
Liebe
Wenn L. sich vorstellte, sagte sie: El, von Laetizia, El Punkt. Die so Angesprochenen antworteten nach einem Zögern: Aha. Manche verstanden gar nichts, was man an ihrer doppelten Freundlichkeit merkte.
Es musste Julius, der etwas ältere Bruder, gewesen sein, der die Abkürzung früh schon aufgebracht hatte. Schliesslich beharrte nur der Lehrer noch auf dem vollen Namen. Er wurde L. so fremd, dass sie sich innerlich nach dem Menschen umschaute, den man mit Laetizia ansprach. In ihrer Umgebung wusste man gerade noch, dass L. ein Anfang war, aber kaum mehr wovon. An einer Hochzeitstafel wurde ihr Platz scherzhaft oder ahnungslos mit „Elle" angeschrieben.
Nach jenem Fest bekamen die Gäste eine kleine Auswahl von Fotos zugeschickt. Das Hochzeitspaar, sie in Rosa, er in Schwarz mit rosa Fliege, unter dem Portal der Kirche. Die Köpfe der Brautleute über vier Händen, die mit einem Ehering beschäftigt waren. Ein Bild von L. fand sich auch darunter. Sie hob ein Champagnerglas dem eines Mannes entgegen. Ein Lichtreflex sass ihr wie Vogeldreck auf dem Brillenrand. Der Cousin an ihrer Seite lehnte sich zurück, um ihrem Glas und ihrem Lächeln den Weg freizugeben. Das Bild lag lange herum. Als L. es schliesslich in ihrer Fotoschachtel versorgte, wusste sie nicht mehr, wer jener Mann mit den schönen Zähnen gewesen war.
L. sann über die Regeln für den Gebrauch des Lächelns nach.
Wenn eine Frau einem Mann mit ihrem Lächeln zuvorkam, war das verkehrt. Hatte der Mann sich der Frau aber zugewandt und zeigte er Interesse, so mochte ein Lächeln am Platz sein. L. wusste nicht, ob diese Regel noch galt, überhaupt oder nur in bestimmten Fällen. Und für wen sie noch galt.
Alte Personen und Kinder durften unbedenklich angelächelt werden, soviel war immerhin klar. Auch das konnte allerdings schieflaufen. In der Strassenbahn hatte L. eine alte Frau gesehen, mit dicken Fussgelenken und vermutlich auch dicken Füssen. Ihre gelblichen Schuhe standen dicht beisammen wie auf einem Schuhgestell. L. lächelte die Alte an. Ermutigend. Das Lächeln hatte keinen Erfolg. Die Frau starrte zurück, unter einem Hut hervor, der in sorgfältiger Pflege welk gewordenen war. Man hätte daraus schliessen können, das Lächeln sei ein Fehler gewesen. Doch das hätte sich genauso vom Starren der alten Frau sagen lassen.
Wenn weder Alte noch Kinder zugegen waren, suchte man für seinen Blick am besten eine Richtung, aus der kein anderer Blick entgegenkam. Man schaute in die Zeitung, auf den Boden, durch das Fenster oder allenfalls in das Gesicht eines Menschen, der sich mit der Zeitung, dem Boden, der Aussicht beschäftigte.
Was man durch das Fenster sah, war oft von Plakaten verstellt. Manche offerierten ausgerechnet den Blickdialog, den man vermeiden wollte. Eine Frau, eindringlich und lebensgross, empfahl ein Feinwaschmittel. Mit schrägem Kopf schaute sie L. in die Augen, hielt sich dabei etwas rotes Wollenes an die Wange.
Auf der Flucht vor weiteren Angeboten entdeckte L. schliesslich Randsteine, Rinnsteine, Treppenstufen und, nach einer überwachsenen Mauer, die das ganze Fenster füllte, plötzlich den Fluss, sein Flimmern zwischen Geländerstäben. Sie seufzte verwundert. Der Dunst vor den Fassaden am anderen Ufer war zugleich dicht und transparent. Die bis in Ritzen und Nischen verstreute Helligkeit sammelte sich unvermittelt in einem Fensterflügel, in ein paar Wellenrippen zu starker Glut.
Ein Mann, der ihr schräg gegenüber sass, in der Weste eines Kämpfers, in Hosen, die überall, auch den Schenkeln entlang, mit Taschen versehen waren, schien das Lächeln, das L. nun irritiert auf ihren Wangen spürte, auf sich zu beziehen. Er machte ein aufgeheitertes Gesicht. Sein Mund verzog sich, die Lippen sahen aus wie schlecht aufeinander genäht. Sicher gab es Dinge, die er besser konnte als das Freundlichsein. L. dachte an Handwerkliches, an Verletzungen auch, die dieser Mensch sich bei der Arbeit zuzog. Er hatte zwar noch alle Finger, stellte sie fest, je fünf an jeder der kartoffelhäutigen Hände, aber wie lange noch? Der Mann beobachtete sie von unten herauf, während er im Innern der Weste nach einem Gegenstand grub. Er zerrte ein gefaltetes Papier hervor, stiess dabei mit dem Ellenbogen gegen die Wagenwand. Er schaute L. weiterhin an. Dann starrte er auf das Papier, ohne es zu entfalten.
L. war ausgestiegen. In einer wegen Bauarbeiten verengten Gasse stauten sich die Passanten. L. bemerkte, wie ein Bauarbeiter und ein kleines Mädchen sich in die Gesichter blickten, einen Moment lang: er mit zwei staubigen Brauen, sie mit zwei Kinderaugen, ohne ein Lächeln, mehr oder weniger ohne alles, was sonst dazu gehört, und das war, dachte L., auch eine Möglichkeit.
Unter dem dunklen Laub von Kastanienbäumen sah L. eine Frau, die einen angenagten Apfel in der Hand hielt. Er gehörte offensichtlich dem Kind, dem sie den Kinderwagen überlassen hatte. Mit seinen ausgestreckten Armen erreichte es nur knapp die aufsteigenden Bügel des Lenkers. Es schob mit ganzer Kraft. Das Trottoir neigte sich auf eine Kante zu. Ohne den Griff loszulassen, stolperte das Kind hinter dem Wagen her und dann Kopf voran in seine Polster hinein, als das Gefährt über den Randstein kippte. Das Ganze sah aus wie ein Spiel, das „Verkehrsunfall" hiess und zu dem auch der krachende Flügelschlag der erschrockenen Tauben gehörte. Die Frau streckte dem schreienden Kind eine Hand entgegen, mit der anderen, die zwischen Zeigefinger und Daumen weiterhin den angebissenen Apfel hielt, manövrierte sie den Wagen auf das Trottoir zurück. Da das Kind die Hand der Frau brüllend verweigerte, nahm sie es mit einem Ruck auf den Arm. Den Blick zur Bremsvorrichtung gesenkt, trat sie auf den Arretierungshebel, während das Kind sie mit gespreizten kleinen Fingern auf den Hinterkopf schlug. Die Frau hielt ihm den angebissenen Apfel vor den Mund. Das Kind stiess ihn weg, er fiel zu Boden und rollte ein Stück.
L. war stehengeblieben. Sie hob den Apfel auf und reichte ihn der Frau, die ihn, ohne den Kopf zu wenden, mit einem hastigen Dank ablehnte. Da das Kind nun aber beide Händchen nach dem Apfel ausstreckte, wusste L. nicht, was tun. Sie versteckte den Apfel einstweilen hinter dem Rücken. Das erneute Aufbrüllen bedeutete wohl, dass das Kind sich betrogen fühlte. L. liess den Apfel fallen. Das sollte unbemerkt geschehen, doch es wurde sofort registriert. Der Apfel war unübersehbar an der leersten Stelle des Platzes liegengeblieben.
Die Frau verstaute das Kind, die strampelnden Füsse voran, im Kinderwagen. Das gelang ihr fast mühelos, da das Kind sich für L. zu interessieren begann. L. lächelte ihm einen Abschiedsgruss zu.
Die Zweige der Kastanien nickten. L. sah dunkle Wolkenschnüre.
Manchmal glaubte sie, nicht richtig begriffen zu haben, wie man leben soll, Tag um Tag, mit anderen und mit sich selbst. Was wann zu tun, zu unterlassen und zu sagen war.
L. hätte nicht erklären können, wie sie zu dieser Vorstellung kam. Ihre Eltern hatten über das Nötige stets Bescheid gewusst. Was der Vater wusste, wich allerdings ab von dem, oder wich dem aus, was die Mutter wusste. Wenn sie behauptete, der Wagen, in dem der Nachbar mit seiner neuen Freundin eben vors Haus gefahren war, sei gemietet, stellte der Vater fest: ein Ford.
Bei der Neuen, sagte die Mutter, handle es sich um eine der Töchter aus dem roten Haus.
Beer, sagte