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Ein herrliches Vergessen
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eBook398 Seiten5 Stunden

Ein herrliches Vergessen

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Über dieses E-Book

Als Willi geboren wird, in Straßburg im Kriegsjahr 1915, passt er nicht in die Lebensplanung seiner Eltern. Sie sind im Hotelgewerbe tätig, führen ein unstetes Leben und ihre Zukunft ist ungewiss. Der Kleine lernt, den Mangel an Zuwendung als Freiraum zu nutzen. Er verlässt sich zunehmend auf seine eigenen Kräfte und Ideen, Widerstände nimmt er als Herausforderungen an. Der junge Mann macht eine Ausbildung zum Kaufmann und lernt die Liebe seines Lebens kennen. Dann aber muss er in den Krieg. Nach dem Krieg schafft er es, mit einer umfassenden Vollmacht der Militärregierung ausgestattet, das erste der zerstörten Karlsruher Kinos wiederzueröffnen. Seine Familie und einige gute Freunde helfen ihm dabei.

Einfühlsam spürt die Autorin die Kraftquellen und Vorbilder ihres Helden auf, zeigt, wie die politischen Ereignisse Einfluss nehmen auf seine Entwicklung und wie sich seine ureigenen Charaktereigenschaften durchsetzen.
SpracheDeutsch
HerausgeberLindemanns
Erscheinungsdatum19. Dez. 2019
ISBN9783963080333
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    Buchvorschau

    Ein herrliches Vergessen - Petra Hauser

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    Für meinen Mann

    und für meine Töchter

    Petra Hauser wurde 1950 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg und war über 30 Jahre lang als Lehrerin vor allem in der Erwachsenenbildung tätig. Ihren ersten Roman „Das Glück ist aus Glas veröffentlichte sie 2009 (6. Auflage, 2015). Es folgte die Novelle „Falsche Wimpern (2011), der Roman „Die Tage vor uns (2012), der Krimi „Binokelrunde (2014), der Roman „Heimatstadt (2016, 2. Auflage) sowie 2018 „Das Geheimnis vom Weihnachtsgebäck.

    Petra Hauser

    Ein herrliches

    Vergessen

    Roman

    Lindemanns

    Sie liebten es, Pläne zu schmieden, und sie konnten dabei leicht ihren Horizont beliebig dehnen über das augenblicklich Sichtbare hinaus.

    1

    Am Tag seiner Geburt hätte keiner gedacht, dass er sich eines Tages für ein Glückskind halten würde. Sein Start war schwierig. Seine Mutter stieg in Eile aus einem Zug, noch weit außerhalb des Bahnhofs. Sie sah in der Dunkelheit nicht genau, wohin ihr nächster Schritt sie führen würde und fiel vornüber auf ihren Bauch, auf das Kind, das sie eigentlich noch zwei Monate dort bewahren sollte.

    Sie war eine energische Frau, rappelte sich auf und schüttelte die Hände ab, die sich an ihre Ellbogen hefteten, um zu helfen. Aber dann, ein bisschen später, als sie angekommen war mitten in Straßburg, wo sie ihren Mann besuchte, der dort derzeit arbeitete, wurde aus dem Druck in ihrem Bauch ein schmerzhaftes Reißen, das ihr fast den Atem nahm.

    Sie lag oben unterm Dach des Hotels in der Kammer, die man ihrem Mann zugewiesen hatte, wartete darauf, dass er käme, und biss die Zähne aufeinander. Zwischen den Krämpfen in ihrem Bauch gab es Ruhepausen. In einer solchen stand sie auf und lugte vorsichtig aus der Kammer hinaus, sah am Ende des Ganges eine junge Frau in einem Wandschrank hantieren. Gerade als diese sich umdrehte und ihr in die Augen blickte, begann das Stechen und Krampfen wieder und Käthe musste einen kleinen Schrei ausstoßen, bevor sie in die Knie ging.

    Die andere Frau kam herbei, half ihr auf, zog sie hinein ins Zimmer, hinüber zum Bett, das unter der Dachgaube stand. Sie erkannte die Lage richtig, ahnte auch schon, wen sie vor sich hatte. Das musste wohl die Frau des Chefkellners Georg sein, er hatte viel von ihr gesprochen, hatte ihr Bild herumgezeigt und ihre schönen Augen gelobt. Nicht dass sie selbst eine Gesprächspartnerin für Georg gewesen wäre. Sie huschelte nur immer möglichst im Hintergrund von einer Tätigkeit, die man ihr auftrug, zur anderen, war eine jener Personen, die unsichtbar und effektiv die Maschinerie des großen Hotels am Laufen hielten. Sie war eine Art Mädchen für alles, aber doch kein Mädchen mehr, deshalb erkannte sie sofort die ungewöhnliche Situation.

    „Ich hole Hilfe", versprach sie, rannte mit klappernden Absätzen zur Treppe am Ende des Ganges. Wenige Minuten später kam Georg mit ängstlich aufgerissenen Augen in die Stube geplatzt und kniete sich neben Käthe. Mit der steifen Serviette, die sonst über seinem Unterarm hing oder schnell mal unter die Achsel geklemmt wurde – in der Eile hatte er sie nämlich mitgenommen –, tupfte er Käthes Stirn ab. Er hielt ihre Hand und presste ihre Finger heftig, als ob er ihr damit helfen könnte, den Schmerz zu ertragen, der aus ihren Augen schrie.

    „Die Wilhelmine holt die Sage-femme, die hier gleich um die Ecke wohnt. Es ist eine Freundin von ihr ...", stieß er aufgeregt hervor, ganz außer Atem vom Heraufrennen und auch vom Schreck, der sich seiner zu bemächtigen begann.

    „Die was?", stammelte Käthe.

    „Die Hebamme, Käthe."

    Und die wurde gebraucht, denn das Kind, der kleine Sohn von Käthe und Georg, wollte jetzt geboren werden. Jetzt sofort.

    Winzig klein und verknautscht lag er drei Stunden später im Arm seiner erschöpften Mutter, es war inzwischen drei Uhr nachts und der Sonntag hatte begonnen. Im Haus herrschte Stille. Dort oben unterm Dach wusch sich Hélène Pannier die Hände, raffte die Tücher zusammen, die Wilhelmine ihr gebracht hatte, warf sie auf den Boden und schob sie mit einem leichten Drehen ihres Fußes in die Ecke. Dann griff sie nach den Geldscheinen, die Georg zusammengesucht hatte, und steckte sie in die Tasche ihres Mantels. Sie zog ihn an, tätschelte Georg zum wiederholten Mal nun die Schulter und flüsterte: „Ça va, ça va venir, il va vivre! Je le vois dans les étoiles, ne te fais pas de souci!"

    Sie lächelte, dabei zeigte sie ihre ungewöhnlich weißen Zähne.

    „Ein Sonntagskind isch er, wenn das nit ein Glück isch."

    Hélène zwinkerte Georg noch ein letztes Mal zu. Befriedigt blickte sie hinüber zum Bett. Sowohl Käthe als auch Wilhelmine streichelten das kleine bläulich-graue knittrige Gesicht, griffen nach den winzigen Fingern und lächelten einander zu, als die sich um ihre Daumen rollten. Das braucht ein Menschlein, wenn es auf diese Welt kommt, dachte die Pannier, Aufmerksamkeit.

    Eine kleine rechte Hand und eine kleine linke Hand, beide hatten einen festen Griff. Die Augen hielt der Kleine geschlossen, die Lippen aufeinandergepresst. Er schien erschöpft, aber er war da, angekommen in dieser Welt. Der jungen Mutter ging es gut. Die Zeit der Schmerzen und des Stöhnens war vorerst vorbei für sie.

    2

    Georg, der frisch gebackene Vater, hatte die Stelle als Oberkellner im September des Vorjahres angenommen. Am 14. September 1914, genau an dem Tag, an dem Erich von Falckenhayn in Berlin die Oberste Heeresleitung übernahm. Für Georg war es eine Wintersaison, für den Kriegsminister begannen vier lange Jahre, an deren Ende er gescheitert und die ganze Welt eine andere sein würde.

    Ein Kellner verpflichtete sich oft nur für eine Saison, einen Sommer, einen Winter. Man konnte dieses Leben unstet nennen, wenn man nichts verstand vom Hotelgewerbe. Es war ein Wanderleben, dem der Artisten vergleichbar; der Beruf des Kellners hatte schließlich auch etwas vom Künstlerischen an sich. Wenn man an die Kleidung dachte: schon das eine Camouflage! Die Miene, die nichts von Emotionen verraten durfte. Nichts vom Ärger über unverschämtes Herrengehabe mancher Gäste, nichts von der Bewunderung für die schönen Damen, denen man den Teller vorlegte, sich dabei über sie beugte, über ihr Dekolleté und ihren Duft und den wunderbaren Glanz ihrer Haare, die künstlichen Blüten und Schleierchen, die es schmückten. Nichts von der Verachtung für die Herren deutschen Offiziere, die sich gerade hier in Straßburg so gebärdeten, dass man sich wirklich schämen musste, ein Deutscher zu sein. Das Wort „Wackes, das allgemeine Schimpfwort für die alteingesessenen Elsässer, wurde nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern laut und ungeniert ins Tischgespräch eingeflochten. Mit Herablassung. Das machte man dem Kaiser und seinen Beamten nach. Gerade ein Jahr war es her, dass ein Gericht hier in Straßburg in seinem Namen entschieden hatte gegen die Menschlichkeit und für die Macht des Militärs. Einem jungen schnöseligen Unteroffizier, der sein arrogantes Gehabe auf die Spitze getrieben und damit im Geschichtsbuch unter dem Titel Zabern-Affaire einen Platz gefunden hatte, wurde Recht gegeben: „Der Rock des Kaisers muss unter allen Umständen respektiert werden, hatte sogar der Reichskanzler Bethmann-Hohlweg in Berlin verfügt. Und nun hatte man den Salat: Krieg! Einige Tage vor der Geburt des Kindes hatte die 16. Division bei Soissons ordentlich eins auf die Haube bekommen und noch bevor es laufen konnte, würden viele Soldaten auf schreckliche Weise hingemetzelt sein, erstickt am Giftgas, dem neuen Kampfmittel, das diesen Krieg eskalieren ließ.

    Die hoheitsvollen einstudierten Gesten der Kellner, ihr Auftritt! Das schnelle Dahingleiten auf glänzend gewichsten Schuhen, die einstudierten Gesten, das Jonglieren von Tabletts voller Teller, Tassen, Gläser, Gefäße mit Speisen, die den Mund wässrig machen, aber ja nicht den des Trägers. Ein Ober, der etwas auf sich hielt, musste so daherkommen, als ob er leere Teller trüge. Es sollte ihm nicht anzumerken sein, ob er die Zusammenstellung der Speisen billigte, ob er daraus Schlüsse zog auf den Speisenden oder sich heimlich ins Fäustchen lachte, weil er dessen Ignoranz durchschaute. Einen Nouveau-riche konnte er durchaus schon an der Wahl seiner Speisen, besonders an der Wahl der dazu gehörigen Getränke erkennen, wie dick auch immer der Brillant seiner Krawattennadel sein mochte.

    Georg war Oberkellner. Hier im alten Traditionshaus, wo die Mächtigen noch abstiegen, um sicher zu sein, so behandelt zu werden, wie sie sich fühlten: als Herren, und weil sie von solchen Kellnern bedient werden wollten, denen man ihre Erfahrungen ansah an ihrer undurchsichtigen Miene.

    Was für ein Glück, dass Georg nicht hatte in den Krieg ziehen müssen, dem er von Anfang an nicht hatte zustimmen können. Da war die Krankheit, die ihn wenige Tage nach der Hochzeit erwischt hatte und die Käthe in Angst und Schrecken versetzt hatte, doch zu etwas nutze gewesen. Als junge Witwe sah sie sich schon, dachte an den Tod der Mutter, das Husten, das Blut im Taschentuch, das Ringen um Atem, das Röcheln, den hageren Griff nach ihrem Arm, der langsam nachließ, und an diesen letzten langen Blick voller Fragen und flehender Apelle, denen sie nichts mehr hatte entgegensetzen können als ihr Zittern und ihre Tränen, das alles sah sie sich wiederholen. Aber dann ging’s ihm besser, dem Georg. Er musste nicht sterben. Er nahm sie eines Tages wieder in den Arm und sagte: „So schnell wirsch du mich nimme los", in seinem alemannischen Dialekt, das kam selten vor, fast gar nicht, weil er doch fast ein Herr war, ein weltgewandter. Nur nachts hüstelte er noch, keuchte und zog hörbar die Luft ein, nach der ihm verlangte; sie stellte ihm ein Glas Wasser ans Bett und harrte neben ihm aus, bis er sich wieder niederlegte, sie in den Arm nahm, und so schliefen sie beide wieder ein. Bei der Musterung, das war nur wenige Wochen später, hörte man das Geräusch auf seiner Lunge und schüttelte den Kopf. Nein, so einen konnten sie nicht gebrauchen im Heer, einen, der einen Todeskeim in sich trug und damit die Wehrkraft zu zersetzen drohte. Das war dem Georg nur recht gewesen. Es hatte ihm so ganz an der Begeisterung seiner Altersgenossen gefehlt.

    Käthe, Georgs Frau, jetzt auch Mutter seines Sohnes, dem die beiden durch die Eile seiner Ankunft überrascht einfach die Namen des Vaters gaben, Georg und Wilhelm, nur in vertauschter Reihenfolge, also Wilhelm Georg, Käthe wurde trotzdem die Sorgen, dass ihr Ehemann doch noch Soldat werden, doch noch an die Front gehen musste, wo die Männer starben wie die Fliegen, erst los, als es aus war mit Schießen und Sterben und auch mit dem Kaiser und der alten Zeit.

    3

    An diesem Sonntag jedoch, am 20. Januar 1915, hatte sie andere Gedanken. Es wurde schon hell, da wachte Käthe auf, spürte hinter sich Georgs warmen Körper, hörte die tiefen Atemzüge, sah vor sich das winzige Bündel. Atmet er überhaupt noch, der kleine Sohn? Ja, man sah, dass sich die Nasenflügel ein winziges bisschen blähten, und dann wieder wurde die kleine Nase schmaler, es zuckte um seine Lippen. Der Winzling zog seine Stirn in Falten. Er ließ wieder locker, eines seiner Ohren schien zu zittern. Als Käthe sich zurechtrückte, öffneten sich die beiden Fäustchen, die Finger spreizten sich schreckhaft. Langsam löste sich die Spannung danach wieder. Käthe griff nach der Hand ihres Sohnes. Ein tiefes warmes Glücksgefühl erfüllte sie, als sich diese Hand um ihren Finger schmiegte, ihn festhielt. So verharrten sie eine Weile, fest miteinander verbunden. Dann weckte sie ihren Mann, schubste ihn aus dem Bett, öffnete ihre Bluse und legte sich das Köpfchen an die Brust, so wie Madame Pannier es ihr in der Nacht noch erklärt hatte, streichelte mit dem Finger über die Wangen des Kleinen, zog an seinem winzigen Kinn. Er reagierte nicht.

    Mit den Augen verfolgte sie Georg, wie er sich Wasser aus dem Krug in die tönerne Schüssel leerte und davor stand mit nacktem Oberkörper. Er rührte Seife an, schäumte sie sich auf die Wangen mit dem Dachshaarpinsel, das war ihr erstes Geschenk an ihn gewesen. Extra nach Stuttgart war sie gereist, um dort zu kaufen, wo auch die Herren zu Fürstenberg Kunden waren. Er öffnete nun das Rasiermesser und schaute dabei in den kleinen Spiegel, den er an den Fensterrahmen gehängt hatte. Sie freute sich an seinen Bewegungen, freute sich, dass er ihr Mann war, freute sich, dass sie in dieser Nacht eine richtige Familie geworden waren, weil sie ihm einen Sohn geboren hatte. Dann wieder beugte sie sich über das Kind und ihre Seligkeit verpuffte wie ein Zündholzflämmchen.

    „Georg, wo soll ich hin? Hier kann ich doch nicht bleiben? Und mit dem Kind wieder raus in die Kälte ... stundenlang in diesen überfüllten Zügen sitzen, auf den zugigen Bahnsteigen warten, zwischen all den vielen Menschen, die sich schnäuzen und husten, und man weiß nicht, welche Krankheiten sie verbreiten ..."

    „Heute bleibst du auf jeden Fall hier. Die Pannier wird nachher noch einmal nach dir schauen. Bis morgen habe ich mir was überlegt. Lass mich nur machen."

    Lass mich nur machen, das war typisch Georg, machen wollte er, immer machen. So wie der Kaiser und der Adel, den er doch verachtete, den er einen „alten Zopf" nannte. Endlich müsse das Geschick des Landes in die Hände aller gelegt werden. Man brauche endlich auch eine Republik; so wie die Franzosen müsse man es machen. Allenfalls aber wie die Engländer, die den König auf einen dekorativen Sockel gestellt hatten, wie eine Art lebendiges Denkmal stand er dort und jeder konnte ihn anschauen, aber er konnte nichts mehr anrichten.

    Ja, der Georg kannte sich aus in der Welt. Mit der RMS Lusitania war er zweimal in Amerika gewesen, das er die „Vereinigten Staaten" nannte, weil er genau wusste, dass es nicht ein großes Land war so wie vielleicht Frankreich oder Russland, sondern eine Vereinigung vieler ganz verschiedener Länder. New York hatte er erlebt, bei Tag und bei Nacht. Bei seiner zweiten Überfahrt überredete ihn sein Bruder Albert, der auch auf der Lusitania angeheuert hatte, zu einem Abenteuer. Mit Zügen und Kutschen gelangten sie in den heißen feuchten Süden nach New Orleans. Nur mal so, um die schönen Frauen mit der goldbraunen Haut und dem schwarzen glänzenden Haar, den unergründlichen dunklen Augen und blitzenden weißen Zähnen zu erleben, hautnah. Danach wäre man ein anderer Mensch, behauptete Albert, wer hatte ihm das wohl erklärt? Nach einer heißen Nacht ging es weiter nach Jacksonville, dort nahm sie ein stinkender Fischkutter auf. Sie köchelten in einer winzigen Kombüse für die sieben Mann Besatzung zwei warme Mahlzeiten, verdienten sich damit den Rückweg nach New York und kamen eben noch rechtzeitig an, um wieder an Bord der Lusitania zu gehen und ihren Frack überzustreifen. Zuvor hatten sie sich im Hafen eine Handvoll teure Seifen und Essenzen gekauft, um den verdammten Gestank aus den Haaren, den Nägeln und von der Haut zu schrubben. Das Publikum auf der Lusitania parlierte in Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch, Russisch. Man lachte miteinander, war von Musik umgeben, von Glanz, von Luxus, der auch die Leute im Dienstbereich einbezog. Wenn sie abends todmüde in ihre Kojen fielen, begannen sie sofort zu träumen von all dem Aufregenden, was sie tagsüber gesehen und erlebt hatten.

    „Ja, Käthe, die schöne große Welt ist voller Wunder. Wie blöd muss man sein, wenn man Krieg anzettelt, wenn man sich gegenseitig totschießt, die Brücken sprengt, die Äcker verwüstet. Das ist doch wie im Mittelalter!"

    Das hatte ihr der Georg nicht nur einmal erklärt. Die Mehrheit der Menschen wollte den Krieg nicht, behauptete er. Mochte sein, dass er was von der großen weiten Welt gesehen hatte, mochte sein, dass er wusste, dass Amerika in Wirklichkeit aus vielen Ländern bestand, und zwar aus sehr viel mehr und sehr viel größeren als unser kleines Europa, aber was den Krieg betraf, da täuschte er sich. Käthe wusste es besser und sie wusste es so gut, dass sie gleich wieder einmal einen Streit hätte anzetteln können. Sie hatte gehört, wie sie Hurra schrien und „endlich" sagten, endlich dürfen wir zeigen, wie sehr wir unsere Heimat lieben, dürfen sie verteidigen mit diesen Händen, und wenn wir dabei draufgehen sollten. Wir wollen gerne Helden sein, wollen gerne, wenn es sein muss, sterben für unser Vaterland.

    „Dieser Krieg ist ein Irrsinn! Was will der Kaiser denn? Mehr Land, mehr Einfluss, mehr Vermögen, mehr Macht?"

    „Sie sagen, dass es nicht darum geht, sondern darum, uns gegen den Feind zu verteidigen."

    „Und wer soll das sein, der Feind?"

    „Der Serbe, halt."

    „Der Serbe? Wenn schon, dann musst du die Serben sagen, denn das sind genauso Menschen wie wir, verschiedene Menschen, verstehst du, Käthe? Du bist doch sonst nicht auf deinen Kopf gefallen, ich hätte wirklich gerne, dass du manchmal nachdenkst, bevor du was sagst! Und weißt du denn, was die Serben uns getan haben, sagen wir mal dir und mir? Sind sie unsere Feinde? Nichts haben sie uns getan. Sie sind wie du und ich. Warum also sollen wir sie bekriegen? Weil irgendeiner von ihnen irgendwo dort unten einen österreichischen Prinzen und seine Frau getötet hat, sollen wir hier unsere Köpfe hinhalten? Stell dir mal vor, jetzt geht es auch noch gegen die Franzosen, weil die sich mit den sogenannten Feinden verbündet haben, und dann auch noch gegen die Engländer und die Russen. Und welche Franzosen, und welche Engländer sind das denn?"

    Käthe wusste schon, was Georg als nächstes Argument ins Feld führen würde. Der eigentliche Feind für den Kaiser und die Seinen in diesem Krieg, das war die europäische Kultur. Das waren diejenigen, die wissen, wie man lebt, richtig lebt, wie man diniert, was man trinkt, wie man eine edle Virginia raucht, wie man ein Champagnerglas hält, wie man sich beim Klang des Pianos lächelnd einer Dame zuwendet, ihr tief in die Augen sieht, ihren Liebreiz lobt, nicht allgemein, sondern zum Beispiel die Augen im Besonderen oder die Lippen oder die kleinen Ohren, die unter den gekringelten Löckchen hervorschauen, wie man sie schließlich verführt, wie man mit dem Zucken der Braue, der rechten oder der linken, dem Kellner ein Zeichen gibt, wenn man einen Wunsch hat und ihn äußern möchte. Er wusste Bescheid darüber. Aus eigener Anschauung konnte er die Kultivierten von den Banausen unterscheiden. Kultur kannte keine Nationalität, sie war eine Nation in sich.

    Diese Spitzfindigkeiten gingen Käthe zu weit. Sie fürchtete sich auch davor, dass Georg sich mit solchen Reden um Kopf und Kragen brachte. Was wollte er damit erreichen? Ein eigenes Hotel, ein Haus mit Klasse, in dem alles flutschte wie geschmiert. Gute Küche sollte sich verbinden mit perfektem Service, sodass diejenigen abstiegen, die er kannte von den Kreuzfahrtschiffen und den Seebädern, in denen er sich hochgedient hatte. So ein Haus zu formen und zu führen und sein eigen zu nennen, das wollte er.

    „Und du machst dann den Grand-Cru-Cri, dein Schaumsoufflé, das du für die kleine Fürstenberg bei ihrer Verlobung kreiert hast, Käthchen, und noch andere solche Wunder, und du scheuchst die zwei oder drei Kaltmamsellen, die wir haben, vor dir her und ziehst nebenbei noch den Piccolo am Lift an den Ohren, wenn er seine Augen nicht unter Kontrolle hat, seine Schuhe nicht poliert sind, und ich lege die Speisenfolgen fest und der Oberkellner schlägt die Haken zusammen, wenn er am Getrappel meiner Schritte hört, dass ich mich nähere ..."

    Der Georg war ein Phantast, er war größenwahnsinnig, jedenfalls ein Pragmatiker war er nicht. Deshalb hatte er sich wahrscheinlich auch dazu entschieden, sie zu seiner „besseren Hälfte" zu machen und nicht die kleine Geraldine. Die machte ihm nämlich auch schöne Augen. Eine herrliche Sarah-Bernard-Eisbombe konnte sie zubereiten, mit Baiser-Splitter und Haselnusskrokanthagel verziert. Käthe hatte sie wirklich beneidet darum. Aber Geraldine kam immer zu spät und oft wurde sie nicht fertig mit dem, was sie vorhatte. Sie schmiss lieber alles hin und schrie dann hysterisch, kein Dessert heute, nur Kaffee und drei Tage alte Nussbissen, weil das Geplante nicht geklappt hatte. Alles oder nichts. Das war ihre Devise. Darin glich sie Georg. Käthe hatte das manchmal gespürt, wenn sie sich freitagabends im Dienstzimmer trafen und die Arrangements des Fürstenbergschen Haushaltes besprachen, in jenem Frühling 1913, in dem Georg als erster Diener dort engagiert war. Solche Kapricen konnte sie sich nicht leisten. Sie war ein Pflichtenmensch, ein Arbeitstier, keine Diva.

    4

    Käthe war zufrieden mit ihrem Platz in der Welt. Als sie mit sechszehn Jahren, gerade war ihre Mutter nur zwei Jahre nach dem Vater an einer schweren Lungenentzündung gestorben, in der Fürstenberg’schen Küche auf Vermittlung einer entfernten Verwandten hin als Küchenhilfe eingestellt wurde, erfüllte sie das mit Stolz. Sie wurde beobachtet von der Köchin. Vier Jahre später bat sie darum, während der sommerlichen Abwesenheit der Fürstenfamilie – man verbrachte mehrere Monate an der Ostsee, um sich dort mit seinesgleichen zu treffen und vermischen – im Hotel Post eine Ausbildung zur Kaltmamsell mitzumachen, sieben Wochen und eine Prüfung, davon hatte sie reden hören, denn ihre Ohren hielt sie immer offen. Ihre Begabung für Desserts und Torten hatte nicht nur die Köchin entdeckt – so gewährte man ihr diese Bitte gern. Ihre Strebsamkeit, ihr Sinn für Ordnung, für das rechte Maß und ihre Courage im Umgang mit den Lieferanten, all das zeichnete sie aus als jemanden, von dem noch mehr zu erwarten wäre. Sie kam zurück mit einer Urkunde im Gepäck und voller Heimweh nach dem Fürstenberg’schen Haushalt und fand dort Geraldine und auch den neuen Diener Georg. Staunend beobachtete sie das ständige Geplänkel zwischen den beiden. Bald schon aber mischte sie sich ein, wenn Geraldine alles hinschmiss, nahm wortlos den Topf und den Schneebesen und rührte die Creme weiter, dekorierte sie mit karamellisierten Mandeln und einigen mit aufgeschlitzten Vanillestangen blanchierten Apfelschnitzen, sodass doch noch was daraus wurde, was man servieren konnte. Nach einem dieser Geraldine-Gewitter bemerkte sie zum ersten Mal, dass Georgs Blick länger auf ihr ruhte als sonst. So lange nämlich, bis sich ihre Augen trafen, bis sie ihm mit einem Lächeln zeigte, dass ihr das gefiel, seine Aufmerksamkeit, dieses bisschen „Oho, so eine ist das, das sie darin vermutete, zu Recht, wie sich bald herausstellte, denn er suchte immer öfter ihre Nähe. Stellte sich neben sie, draußen hinterm Haus, mit seiner Zigarette in der Hand. Stützte ein Bein hinterrücks an die Hauswand und hob das Kinn, wenn er den Rauch ausstieß. Räusperte sich, begann dann eine belanglose Unterhaltung und schließlich stellte er ihr auch die ersten Fragen. Wo kam sie her? Aus Deggendorf? Da war sie also eine Bayerin? Man hörte es kaum, vielleicht nur an ihrem gerollten „r. Er kam aus Altenheim bei Lahr. Und so weiter und so weiter.

    Am Tag als sie entlassen wurden, weil sich die Herrschaften für längere Zeit nach Afrika begeben wollten und das Haus leer stehen würde, kein Küchenpersonal, kaum Dienerschaft würde gebraucht in dieser Zeit, nahm er ihre beiden Hände und sah sie mit weit aufgerissenen Augen ernst an: „Geh mit mir Käthe. Ich hab’ was in München, im Hotel Continental. Vielleicht da oder ... München ist eine Riesenstadt, da gib es viele andere Möglichkeiten, da findest du was. Geh mit mir. Wenn wir es schaffen, dann ..."

    Ja, was dann? „Dann könnten wir doch heiraten, du und ich, dann wäre schon mal der erste Schritt geschafft." Der erste Schritt hin zum eigenen Hotel, von dem sie viel geredet hatten. Dass immer öfter ihre Vorstellungen ineinander rutschten und allmählich ein gemeinsamer Traum daraus wurde, die Ideen des einen sein eigenes Luftschloss auf die Traumfetzen des anderen bauten, das wurde Käthe erst bewusst, als er diesen Vorschlag machte.

    So landeten sie also in der Vorweihnachtszeit 1913 in München. Am 12. März 1914, noch war kein Krieg in Sicht, noch stand ihnen eine Zukunft offen, die all ihre Träume einschloss, gingen sie aufs Standesamt, nur sie beide und der Herr Schmelzle aus Lörrach und Edwige, das Zimmermädchen, die ihre Zeugen wurden. Diese beiden bezeugten, dass es keinerlei Gründe gäbe, diesen Mann und diese Frau nicht zu einer Einheit zusammenzugeben für gute und schlechte Zeiten und bis dass der Tod sie scheiden würde. Dann ging’s zurück in den Service. An Ringe hatte der Georg nicht gedacht und Käthe wollte ihn nicht daran erinnern, weil sie schon viel zu oft „aber" gesagt hatte, viel zu oft etwas anders oder besser wusste, sodass es manchmal richtiggehend knirschte zwischen ihnen. An Käthes Geburtstag dann, das war fünf Tage später, am 17. März, da zog er morgens in der Früh, es war noch stockfinster, etwas unterm Kopfkissen vor und drückte es ihr in die Hand. Kein Licht sollte sie machen, sollte es auspacken und mit den Fingern fühlen und raten. Das war ja lächerlich, einen Ring kann man doch erkennen, auch wenn man blind und taub und dumm und dämlich ist. Aber sie freute sich doch unheimlich. Einen Ring für sie hatte er gekauft. Er selber wollte keinen tragen. Der würde ihn behindern, meinte er und im Glück schluckte sie alle Einwände hinunter, steckte den schönen breiten Goldreif an und betrachtete ihn immer wieder versonnen mit geheimem Stolz und großem Glücksgefühl.

    Solche Erinnerungssplitter kamen und gingen, während Käthe eindöste, dann hochschreckte, weil sie Angst hatte, sich auf das kleine Geschöpf zu legen und seinen zaghaften Atemstrom zu ersticken. Mein Gott, nur das nicht! Er ist ab jetzt das Wichtigste in ihrem Leben. Bis an ihr Lebensende wird er ihrem Weg eine Richtung geben und sie wird nicht aufhören, den Tag zu preisen, an dem sie ihn geboren hat.

    Als um die Mittagszeit Hélène Pannier leise Georgs Kammer betrat und sich vorsichtig neben Käthe aufs Bett setzte, das Kindchen hochnahm, wie um Zwiesprache mit ihm zu halten, schreckte Käthe auf.

    „Wie isch das nun, hat er was getrunken, unser Prinz?"

    Käthe wusste es nicht. Sie sollte es nur immer wieder versuchen, sie sollte mit ihm reden, sollte ihm Lieder singen, das wäre wichtig, sagte die Hebamme.

    „Wir wollen doch nicht, dass er es sich noch einmal anders überlegt, n’est-ce pas?"

    Am Nachmittag, als die Dunkelheit sich in Georgs Kammer ausbreitete, klopfte es zaghaft an der Tür und Wilhelmine streckte ihren Kopf herein. Käthe war aufgestanden, hatte Ordnung gemacht im Zimmer, hatte die Windeln ausgewaschen und eine Schnur gespannt zwischen der Stuhllehne und dem Fensterkreuz, darüber die nassen Tücher gebreitet, voller Dankbarkeit für alles, was die Pannier ihr brachte, die winzigen Hemdchen, die weichen Moltontücher, die kleine Mütze aus zarter Lammwolle und die Zellstoffeinlagen.

    „Ich nehme dich mit, Käthe, mit zu uns nach Hause. Der Friedrich hat’s erlaubt. Er hat sowieso in der nächsten Woche Nachtdienst, da kann er tagsüber hier in Georgs Kammer schlafen. Allez, wir packen alles zusammen."

    So kam es also, dass der kleine Wilhelm Georg oder Willi, wie man ihn bald schon nennen würde, seinen ersten Wohnsitz an seinem zweiten Lebenstag schon verließ und umzog in den nächsten. In seinem Pass stand Geburtsort Straßburg. Einfach nur der Name der Stadt, dieser wunderschönen Stadt, die bis zum Ende des Deutschen Reiches noch dort hineingehörte, sodass er nicht als Franzose, wie man heutzutage denken könnte, sondern als Reichsdeutscher geboren wurde.

    5

    Käthe wurde aufgenommen von Wilhelmine und Friedrich in ihren zwei Zimmern mit Küche im Hinterhof der Boulangerie Chopard, so als ob sie ein Familienmitglied wäre. Diese Selbstverständlichkeit, mit der beide, Mine und Fried, wie sie sich nannten, Käthe annahmen und ihre Sorgen auch gleich mit übernahmen, rührte Käthe zu Tränen. Bevor Fried seinen Dienst antrat, aßen sie zu dritt auf dem großen Bett im Schlafzimmer und betrachteten den winzigen Willi, bestaunten jedes Zucken in seinem Gesicht.

    „Die Pannier hat gesagt, wenn er nicht bei dir trinkt, müssen wir versuchen, ihm einen Milchschleim zu kochen. Kuhmilch verdünnen, ein bisschen Haferflocken aufkochen, nur einen Teelöffel voll in einen halben Liter. Was meinst du Käthe, soll ich das versuchen?"

    Der Kleine kam Käthe schwach vor. Alle paar Minuten hielt sie ihr Ohr an seine Lippen, um die flachen Atemzüge wahrnehmen zu können. Ihre Sorge wuchs und wuchs und es wurde ein dickes schwarzes Gespenst daraus, das sich ihr bei Einbruch der Dunkelheit auf die Brust legte und sie davon abhielt zu schlafen.

    Nachts noch versuchten die beiden Frauen, ihm die gekochte Milch einzuflößen. Er trank in guten festen Zügen. Ganz ausgehungert kam er ihnen dabei vor. Aber dann ruckelte er mit dem Kopf und plötzlich schoss die Milch in hohem Bogen wieder aus dem winzigen Mund. Das Kind röchelte und hustete, Mine riss ihn Käthe aus der Hand und hielt ihn senkrecht, ging mit ihm herum mit energischen Schritten und sprach dabei beruhigend auf ihn ein.

    „Gell, gell, es wird alles gut, mein Kleiner, alles wird gut."

    Aber es wurde erst gut, als Fried am übernächsten Tag eine Ziege mitbrachte, als sie nach einem von der Pannier empfohlenen besonderen Verfahren Ziegenmilch verdünnt, aufgekocht

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