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Der Andere
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eBook725 Seiten10 Stunden

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Über dieses E-Book

Magnus Montanus hat gute Gründe, mit seinem Alter hinter dem Berg zu halten, und einer davon ist sein Alter selbst. Das ändert sich, als er zum ersten Mal seine fünfjährige Tochter trifft, die er vor einem Vierteljahrhundert quasi mit deren Großmutter gezeugt hatte. Die Großmutter trifft ihn dann auch nackt unter der Dusche und erinnert sich an ihn. Etwas problematischer ist ein hartnäckiger Familienchronist, der seine Vermutungen bestätigt sehen kann, eine indianische Historikerin, die ihre Hypothesen schließlich übertroffen sieht und ein cleverer Kriminalist, der sich zunächst einmal gar nicht für Montanus' Alter interessiert. Auf Montanus wird aber auch ein geheimer Geheimdienst aufmerksam, was nicht schön ist. Dass die Kanzlerin temporär zur Diebin wird, macht nichts, was ein übergroßer Künstler aber anders sieht. Anders sieht am Ende dieser Geschichte aber die Welt aus.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum22. Dez. 2014
ISBN9783737524094
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    Buchvorschau

    Der Andere - Reiner W. Netthöfel

    Impressum

    Der Andere

    Reiner W. Netthöfel

    published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    Copyright: © 2014 Reiner W. Netthöfel

    ISBN 978-3-7375-2315-8

    1.

    Worauf hatte sie sich da eingelassen? Sie saß in diesem winzigen, stickigen Hotelzimmer, das sie bezogen hatte, nachdem sie den Schlüssel von einem sie unverhohlen lüstern betrachtenden Kellner, einem alterslosen Kerl mit schütterem Haar, entgegengenommen hatte, und fühlte sich verzweifelt. Hätte nicht jemand anderes diese Reise antreten können? Der Familienrat hatte beschlossen, dass es an der Zeit sei, das Problem ein für allemal zu lösen, dass der Zeitpunkt jetzt gekommen wäre, den Schleier zu lüften, den Schleier, der über Ereignissen lag, die die Geschichte ihrer Familie entscheidend geprägt hatten und die, so schien es, mit einer bestimmten Person zusammenhingen, so unglaublich das klang. Mit einer einzigen Person.

    Holly öffnete den Koffer und räumte ihre Sachen in den einzigen Schrank, über den dieses Zimmer verfügte. Ihre Tochter Stefania fehlte ihr schon jetzt, einen Tag nach ihrer Abreise. Schon nach dem Start des Flugzeuges in New York waren ihr Zweifel gekommen. Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns, Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung, Zweifel an den Schlüssen, die aus den vorliegenden Indizien gezogen worden waren.

    Sie zog sich aus und betrat das Bad, in dem sie sich kaum drehen konnte, deponierte ihre Toilettsachen auf einer schmalen Ablage über dem kleinen Waschbecken und stellte die Dusche an. Wenigstens die funktionierte tadellos. Sie ließ das warme Wasser über ihren schlanken, braunen Körper laufen und schloss die Augen.

    Es war irrwitzig; wie konnten erwachsene Menschen nur so etwas annehmen? Sie waren einfach zu fantasiebegabt. Zu glauben, dass … Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Schließlich hatte sie selbst dem allen auch nicht Einhalt geboten. Alle waren wie besoffen gewesen von der Aussicht, endlich Licht ins Dunkel zu bringen. Alle, außer Mom.

    Mit dem zu harten Badetuch trocknete sie sich ab, brachte ihre Kurzhaarfrisur in eine ordentliche Unordnung, legte dezentes Makeup auf und betrat wieder das Zimmer. Auf ihrem schmalen Bett lag die Mappe. Die Mappe mit einer Kurzzusammenfassung der Geschehnisse, die sich in den letzten hundertfünfzig Jahren ereignet hatten. Ereignet haben sollten. Die Mappe mit den ersten Zeichnungen, den undeutlichen Zeitungsfotos aus dem letzten Jahrhundert und schließlich den aktuellsten Fotos und einer Biografie des Mannes, den sie morgen aufsuchen würde. Biografie, pah. Wenn das, was sie sich zusammengereimt hatten, sich zusammenfantasiert hatten, nur halbwegs stimmte,  war diese Biografie nichts wert. Nichts wert, weil unvollständig. Nicht nur lückenhaft, sondern sie ließ die längste Zeit des Lebens dieses Mannes einfach aus, als wenn es sie nicht gegeben hätte. Falls ihre Annahmen stimmten. Falls.

    2.

    Tom glaubte zu ersticken. Es war unerträglich heiß und stickig in dem Loch, in dem er seit Tagen hockte und wo ihn völlige Dunkelheit umgab, so dass er manchmal noch nicht einmal feststellen konnte, wo oben und wo unten war. Als sie ihn hier hineinsteckten, hatten sie ihm einen Eimer Wasser und ein Stück Brot vor die Füße geworfen, wobei ein Teil des Wassers über den Rand geschwappt war. Das Brot hatte er gegessen, aber von dem Wasser war noch ein Rest vorhanden, er wusste ja nicht, wie lange sie ihn noch hier sitzen lassen würden.

    Das Loch war quadratisch und hatte eine Kantenlänge von etwa einem Meter. So hoch war es auch ungefähr. Vielleicht ein wenig höher. Der Boden bestand aus harter Erde und die Seiten aus Brettern. Die Decke bildete eine Klappe aus schwerem, hartem Holz, die er nicht aufstemmen konnte, da sie verriegelt war. Anfangs hatte er seine Umgebung abgetastet, was aber, angesichts der beengten Verhältnisse, schnell erledigt war. Dann hatte er körperliche Bewegungen nahezu eingestellt, weil es, erstens, keinen Zweck hatte, und zweitens, weil er mit seiner Energie haushalten musste. Nur ab und zu zuckte er zusammen, wenn etwas über seine nackten Füße huschte, wobei es sich meistens um Insekten handelte, denn Säugetiere fanden keinen Spalt, um hier herein zu gelangen. Tom wunderte sich, warum er nicht längst erstickt war.

    Er dachte auch nicht viel nach, es hatte einfach keinen Sinn. Nachdenken konnte an seiner Lage nichts ändern. Er selbst trug keinerlei Schuld daran. Es war eben so. Es war so vorgesehen. Auch seine Zukunft hatte er nicht in der Hand, die lag in den Händen anderer, die er noch nicht kannte. Sein Leben war bisher immer fremdbestimmt gewesen, und daran würde sich jetzt und in Zukunft nichts ändern. Er kannte es nicht anders.

    Allerdings wanderten seine Gedanken immer wieder zu Sarah, die in einem ähnlichen Loch saß wie er, deren Lebensumstände seinen bis aufs Haar glichen und die einem ähnlichen Schicksal entgegensah.

    Tränen stiegen ihm in die Augen und sein Herz krampfte zusammen, wenn er daran dachte, dass sie getrennt werden würden. Sie kannten sich ihr Leben lang, sie waren miteinander aufgewachsen, hatten viel Schreckliches und einiges Schöne in dem Schrecklichen erlebt und waren sich einig, dass sie eine gemeinsame Zukunft haben wollten.

    Doch diese zaghaften und naiven Pläne waren durch den Tod der alten Salinger zunichte gemacht worden. Jetzt war alles offen. Es war nicht damit zu rechnen, dass sich jemand ihrer beider annehmen würde. Nicht in diesen Zeiten, das wusste selbst Tom.

    Sie hätten nicht das Recht, zusammenzubleiben, das war so. Ihresgleichen hatten überhaupt keine Rechte, sie waren abhängig von den Launen und der Gutmütigkeit oder dem Sadismus der anderen, die die Herren waren. So war es, und so würde es bleiben.

    Seit der alte Salinger beim Füttern der Hühner ums Leben gekommen war, war es bergab gegangen. Die Farm verlotterte und die Witwe musste nach und nach allen Grund und Boden und fast alles Inventar und Vieh verkaufen. Nur Sarah und Tom hatte sie behalten.

    Der Alte war in den Hühnerstall gegangen und hatte Futter ausgestreut, wobei er rückwärts ging. Dabei war er auf eine Harke getreten, deren Stiel in seinen Nacken geschlagen war. Durch den Schrecken verlor er das Gleichgewicht und stürzte rücklings in das einzige Fenster des Stalls. Dumm war, dass er sich im Fallen umdrehte, mit dem Gesicht durch die Scheibe schlug und sich an den stehen gebliebenen Scherben die Kehle aufschlitzte. Die Hühner waren froh über den rotbraunen Überzug, den die Maiskörner durch das umherspritzende Blut bekamen, und der eine Abwechslung in dem täglichen Einerlei der Nahrungsaufnahme bedeutete.

    Die Witwe, so raunten die Nachbarn, sei an ihrer schlechten Laune gestorben, weil sie sich selbst nicht leiden konnte. Hätte Tom gewusst, was die Nachbarn tuschelten, hätte er es nur bestätigen können, doch niemand fragte ihn.

    Missmutig und krumm hockte der Mann auf seinem Pferd, das bei genauerem Hinsehen manchem Zeitgenossen wegen seiner etwas ausgefallener Aufzäumung aufgefallen wäre. Er war auf dem Weg nach Norden, was ihm einerseits nicht schnell genug gehen konnte, andererseits sah er keine Veranlassung, im Galopp dahinzustürmen. Einige Wochen war er nun hier im Süden unterwegs, und er war davon nicht gerade erbaut. Die Sklaverei machte ihn wütend, die frömmelnden Weißen machten ihn wütend, die sonntags in die Kirchen strömten, um danach ihr schwarzes Eigentum aufs Grausamste zu misshandeln.

    Trotz der Wirren, die der Krieg auch in die Zivilgesellschaft hineingetragen hatte, fühlte er sich nicht unsicher, und zu diesem Gefühl trugen einige Ereignisse, die sich ein paar Jahre zuvor im Norden abgespielt hatten, entscheidend bei. Seit damals war er gewiss, dass ihm nichts passieren könnte.

    Er hatte im Augenwinkel etwas wahrgenommen und schnalzte deshalb kurz. Seine Pferde, ein Reit- und ein Packtier, blieben sofort stehen. Er schob die Hutkrempe hoch und richtete sich etwas auf. Am Wegesrand war ein Schild angebracht, das aus einem Brett mit einer Aufschrift bestand. ‚Slave Auction‘ stand darauf und ein Pfeil wies in eine bestimmte Richtung.

    Sollte er sich das antun? Einer inneren Stimme folgend, ritt er langsam in die vom Pfeil gewiesene Richtung, aber nicht, um sich Menschen zu kaufen.

    Tom wurde durch schwere Schritte geweckt. Jemand schob den Riegel der Deckenklappe beiseite und hob diese an. Reflexartig hob Tom einen Unterarm vor die Augen, um nicht von der gleißenden Sonne geblendet zu werden. Jemand löste die Kette von seinem Halsring, so dass sie jetzt von einer Wand des Lochs herabhing und befahl: „Los, Nigger, komm heraus."

    Umständlich und mit steifen Gliedmaßen krabbelte Tom aus dem Loch, um sich sofort nach Sarah umzusehen, die er ein paar Meter entfernt entdeckte. Seine Freundin stand bereits auf schwachen Beinen in der Sonne und auf staubigem Boden, eiserne Fesseln um die Knöchel und die Hände auf dem Rücken zusammengeschlossen. „Sarah!", rief er matt.

    „Halts Maul!, fuhr ihn der Aufseher an, fesselte seine Füße und Hände wie Sarahs und stieß ihn vor sich her. „Auf geht’s! Du auch, Niggerweib. Mit kleinen Schritten torkelten die beiden jungen Schwarzen vor dem Mann mit der Bullenpeitsche her, auf eine Scheune zu. Toms vorne offenes Baumwollhemd und die leinene Hose starrten vor Dreck und Sarahs einfachem Kleid ging es nicht anders. In der Scheune riss der Mann ihnen die Fetzen vom Leib und übergoss sie mit ein paar Eimern Wasser, was sie, ängstlich schweigend, über sich ergehen ließen. Worte hätten alles nur schlimmer gemacht.

    „Los, wascht euch! Und dann zieht die neuen Sachen an." Der Wärter betrachtete lüstern ihre nackten Körper. Tom war kräftig gebaut, mit breiten Schultern und ausgebildeter Muskulatur, während Sarah fast noch die Figur eines Mädchens hatte, mit schmaler Taille und kleinen Brüsten, die sie vor dem Weißen zu verbergen suchte.

    Nachdem sie sich notdürftig gesäubert hatten, bekamen sie neue Kleidung. Tom allerdings nur eine Hose, damit die potenziellen Käufer seinen kräftigen Oberkörper sehen konnten. Sarah durfte ihr Kleid nicht ganz hochziehen, damit die Herrschaften ihre kleinen Brüste sehen konnten. Dann wurden sie an der Vorderseite der Scheune auf ein Podest gestellt, vor dem sich einige weiße Menschen versammelt hatten.

    Ein paar Farmer waren dabei, die Arbeitskräfte suchten, ein eleganter Herr hatte seinen halbwüchsigen Sohn mitgebracht. Frauen fehlten. Die Gespräche erstarben, als der Auktionator die Versteigerung des letzten lebenden Inventars der Salinger-Farm eröffnete und „Tom und Sarah Salinger, geboren 1844.", ankündigte. Sarah stiegen Tränen in die Augen. Sie musste sich hier halb entblößt präsentieren, würde sehr bald von Tom getrennt und sah einem sehr ungewissen Schicksal entgegen. Doch zunächst einmal sah sie gar nichts, dies verhinderten die Tränen.

    Tom hingegen sah sich interessiert um, schließlich war es das erste Mal, dass sie verkauft wurden; er sah in die Gesichter der Leute. Einem dieser Männer würde er bald gehören. Männliche Arbeitssklaven waren gefragt, da die Söhne der Farmer im Krieg waren und jede Hand benötigt wurde, das wusste er. Da aller Blicke ausschließlich auf ihn gerichtet waren, bekam er Angst um Sarah. Die kleine Hoffnung, dass jemand sie als Paar kaufen würde, schwand. Sie würden getrennt werden und sich nie wiedersehen. Er warf einen raschen Blick auf das zarte Mädchen neben sich und seine Brust schnürte sich zu. Die Männer fingen an zu bieten. Tom fiel auf, dass einer nicht mitbot. Der Mann sah aus wie ein Reisender, unpassend unelegant, dafür praktisch gekleidet und unrasiert. Auf dem ergrauenden, nackenlangen Haar saß ein Hut, die Augen blickten aufmerksam und grau, die Nase war etwas lang und die Lippen aufeinandergepresst, was nicht auf eine entspannte Gemütsverfassung schließen ließ.

    In einiger Entfernung sah Tom zwei Pferde grasen, die nicht festgebunden waren wie die der anderen Bieter.

    Der Sohn tuschelte mit dem Vater und zeigte auf die lebende Ware, wobei er sardonisch lächelte. Dem Reisenden, der direkt hinter den beiden stand, war dies nicht entgangen. Der Vater bot jetzt auch für Sarah, aber Tom hatte kein gutes Gefühl dabei, wenn er in das Gesicht des dicklichen Knaben sah.

    Sarah dachte daran, sich umzubringen, wenn sie in die Hände dieses Pärchens geriet. Was sie nicht wissen konnte, war, dass sie sich damit würde beeilen müssen, falls der Vater sie erstehen würde, denn die beiden hatten weitaus Schlimmeres als ihren Tod mit ihr vor.

    Der Vater rief sein letztes Gebot, der Auktionator schlug zum ersten mit einem Hämmerchen auf sein Pult, Sarahs Augen füllten sich erneut und Toms Knie wurden weich, als er den hasserfüllten Blick des feisten Jungen sah und als sich der Reisende zu Wort meldete und eine Summe nannte, die deutlich über der des Vaters lag. Die anderen Interessenten, die sich schon abgewendet hatten, hielten kurz inne, um einen Blick auf den Fremden zu werfen, lupften die Augenbrauen und stapften dann unverrichteter Dinge davon zu ihrer Arbeit. Hier konnten sie nicht mithalten. Auch der Vater mit dem Sohne wendete sich enttäuscht ab.

    Der Reisende, der nicht den Eindruck machte, als könne er den Kaufpreis bezahlen, trat zum Auktionator und nestelte an seinem Gürtel, als der Adipöse ihn am Ärmel zupfte und fragte: „Dürfen wir wenigstens zuschauen?" Von unten sah der Knabe den Reiter mit rotem Kopf an.

    „Wobei zuschauen?", fragte der Fremde ahnungsvoll.

    „Wenn Sie sie langsam töten., lächelte der Dicke sadistisch. Der Reisende beugte sich zu dem Kleinen hinab, bohrte seinen Blick in dessen Augen und flüsterte sardonisch heiser: „Für wie viel, glaubst du, würde dich dein Vater hergeben? Fünftausend? Zehntausend? Ich hätte dann dreifaches Vergnügen. Die Röte des Mondgesichts wich einer angemessenen Blässe, seine Augen weiteten sich, sein Schritt wurde dunkel, sein Mund öffnete sich zu einem Schrei und dann rannte er davon und der Erzeuger hinterher. Um den Mund des neuen Sklavenbesitzers zuckte es, als er dies sah. Seinem neuen Eigentum allerdings kam dies nicht sehr hoffnungsvoll vor. Zufrieden nahm er die Urkunden, Schlüssel für die Handschellen und zwei Kälberstricke entgegen, ließ die Fußfesseln entfernen – „Habs eilig." – und führte seinen neuen Besitz an den um deren Hälse gebundenen Stricken zu seinen zwei Pferden, von denen eins ein Packpferd zu sein schien.

    An die beiden jungen Schwarzen hatte er noch kein Wort gerichtet, wobei er sich im Bereich des Üblichen bewegte. Tom rätselte noch, was ein Durchreisender wohl mit zwei Sklaven anstellen wollte und ahnte nichts Gutes, als ihm auffiel, dass sein neuer Besitzer keine Sporen trug, was nicht im Bereich des Üblichen lag. Ebenso unüblich schien Tom, dass der lederne Sattel, den der Mann jetzt besetzte, nicht über den üblichen Knauf verfügte, so dass er die losen Enden der Stricke in der Hand halten musste. Dachte der junge Mann nun, dass der Reiter ja auch das Packpferd an einem Strick hinter sich herziehen müsste, sah er sich getäuscht, denn das Tier setzte sich ganz von selbst in Bewegung und schritt hinter seinem Kollegen her.

    Am Ausgang des Geländes, auf dem die Auktion stattgefunden hatte, wartete der Vater mit dem Sohne, dessen Hose im Schritt dunkel eingefärbt war und der sich ängstlich an seinen Erzeuger klammerte, in einer prächtigen Kutsche auf das Trio.

    „Entschuldigen Sie sich sofort bei meinem Sohn.", forderte der Alte streng und mit einem Blick, der eine Portion Unsicherheit verriet. Der wollte eindeutig seinem ungeratenen Sprössling imponieren.

    „Wofür?", fragte der Reiter unschuldig, aber mit finsterem Gesicht.

    „Für die Beleidigung." Der Reiter lachte, zog einen kleinen Stab aus der Jackentasche, steckte diesen in den Mund und blies die Backen auf, worauf die Kutschpferde des Eleganten die Ohren spitzten und, mitsamt Kutsche und Ladung, davonstoben, als sei ein Ungeheuer hinter ihnen her, begleitet von dem Lachen des Bläsers und den erstaunten Blicken der bemitleidenswerten Geschöpfe, die jetzt hinter diesem an Kälberstricken hinterhertrotteten.

    Das tagelange Hocken in den Löchern war einem raschen Voranschreiten nicht gerade förderlich, und so ging es nur langsam voran. Hinzu kamen die Hitze, der Durst und der Hunger der beiden Entrechteten. Doch Tom und Sarah, die anderes gewohnt waren, warteten vergebens auf antreibende Flüche oder gar Schläge; sie hatten sogar den Eindruck, als verlangsame ihr neuer Herr das Tempo, wenn der merkte, dass die Stricke sich strafften. Sie warfen sich heimlich Blicke zu, die ihre Überraschung nicht verbargen. Nach zwei Stunden hatten sie die letzten menschlichen Behausungen hinter sich gelassen, und freies Gelände und hin und wieder eine Ansammlung von Bäumen, die nicht Wald genannt werden konnten, lösten bestellte Felder und Weiden ab. Menschen waren sie in der letzten Stunde nicht mehr begegnet. Nun zügelte der Master sein Tier und auch das Packpferd blieb stehen, wie von Geisterhand gestoppt.

    Der Master ließ die Strickenden, leichtsinngerweise, wie seine beiden Sklaven fanden, fallen und stieg vom Pferd herab. Er setzte den Hut ab und legte ihn auf den Sattel, dann wandte er sich grauhaarig seinem neuen Besitz zu. Atemlos und verschwitzt sahen die beiden ihn ängstlich an. Was würde jetzt folgen? Eine Machtdemonstration, um klarzumachen, wer der Herr ist? Doch der Master griff in eine Tasche seiner leichten, ledernen Jacke und zog den Schlüssel heraus, den er erhalten hatte. Er trat hinter Sarah und dann hinter Tom und löste die Handschellen, die er weit hinter sich ins Gras warf. Dann zog er ihnen die Stricke von den Hälsen und begutachtete die Halsringe, die sie zum Zeichen ihrer Unfreiheit trugen. „Hm.", brummte er verärgert. Tom fing an zu zittern, was nicht an den Temperaturen lag, sondern daran, dass er mit dieser Situation nicht umzugehen wusste. Er hatte mit allem gerechnet, nur damit nicht. Was jetzt folgen würde, dürfte ihr unmittelbarer Tod sein. Dann löste der Master einen Packen vom Rücken des Packpferdes und verschnürte ihn hinter dem Sattel des Reitpferdes.

    „Schon mal auf einem Pferd gesessen?", fragte er, ohne jemanden anzuschauen, mit sonorer Stimme.

    „Ja, Master.", antworteten die beiden schüchtern und verständnislos. Der Master löste eine Trinkflasche vom Reitpferd und hielt sie Sarah hin.

    „Durst? Sarah stand wie versteinert vor ihm, die Hände immer noch auf dem Rücken verschränkt, als wären sie noch gefesselt,  und sah ihn mit großen Augen an. Er hob die Flasche leicht an und schüttelte sie. „Was ist? Ihr müsst doch Durst haben., meinte er sanft. Sarah konnte immer noch nicht reden.

    „Das ist Masters Flasche, Master.", wandte Tom leise ein und rieb sich verlegen die Handgelenke.

    „Das ist mir bekannt." Er sah Tom in Erwartung weiterer Aufklärung über Sarahs Verhalten an.

    „Nigger dürfen nicht aus den Flaschen der Weißen trinken.", flüsterte Tom. Der Master ließ die Flasche sinken und holte tief Atem.

    „Ach so., meinte der Master. „Ihr habt Durst und hier ist Wasser drin. Um an das Wasser zu kommen, müsst ihr die Flasche nehmen und daraus trinken. Ganz einfach., belehrte er sie. Tom senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

    „Und wenn ich es euch befehle?"

    Das Mädchen wisperte:  „Ja, Master." Sarah nahm jetzt vorsichtig die dargereichte Flasche und trank ein wenig, immer auf der Hut, sollte sie ein unvorhergesehener Schlag sie treffen. Es traf sie aber nichts. Dann wollte sie rasch dem Master die Flasche zurückgeben, wie, um damit eine mögliche Ursache für Ungemach loszuwerden.

    „Trink, Mädchen, trink. Ist noch was da.", ermunterte sie der Weiße sanft. Sie trank und reichte die Flasche an Tom weiter, nachdem der Master ihr dies mit einer Geste angedeutet hatte.

    „Mach sie ruhig leer, Junge. Tom trank gierig das lauwarme Wasser und gab verlegen die leere Flasche zurück. Der Master verstaute sie, sah in den Himmel und fragte: „Geht doch. - Kennt ihr euch hier aus?

    „Ja, Master., antwortete Tom mit gesenktem Blick. Der Master wies nach vorne, den Reitweg entlang und meinte: „Der Weg führt nach Norden. Es ist noch ein paar Stunden hell, dann müssen wir unser Lager richten. Gibt es einen geeigneten Platz?

    „Es gibt einen Bach." Der Master nickte.

    „Gut. Sarah sitzt hinter mir, du nimmst das Packpferd."

    „Aber …" Der Master sah Tom belustigt an.

    „Ist das auch verboten?", fragte der Master mit einem Schmunzeln, das die beiden nicht sahen, denn sie betrachteten intensiv den Boden, auf dem sie standen. Tom nickte und war sehr erstaunt, als der Weiße lachte, Sarah beim Aufsitzen half, sich selbst aufs Pferd setzte und langsam voranritt. Tom beeilte sich aufzusitzen.

    Das Packpferd, an dessen Mähne sich Tom festhielt, hatte die Vorausreitenden bald eingeholt. Sarah saß etwas hilflos hinter ihrem neuen Master und wusste nicht, wo sie die Hände lassen sollte; sie wollte sich zwar irgendwo festhalten, fand aber nicht die richtigen Punkte, um ausreichend Sicherheit zu bekommen.

    „Du kannst die Arme um mich schlingen.", brummte der Master, der spürte, wie Sarah stocksteif wurde.

    „Mach schon."

    Wäre den dreien ein Mensch begegnet, hätte sich diesem ein Bild geboten, was sicherlich einzigartig in diesem Landstrich gewesen wäre: ein gemischtrassiges Familienidyll.

    Selbst hundert Jahre später wäre ein Weißer, der mit zwei schwarzen Jugendlichen einen Ausritt unternimmt und sich von einem schwarzen Mädchen mit dürren Armen umklammern lässt, eine Zeitungsmeldung wert gewesen.

    Tom, der noch vor ein paar Stunden in einem Erdloch festgekettet war und sich ausgemalt hatte, von Sarah getrennt zu werden, saß nun ohne Handfesseln auf einem Pferd und verstand die Welt nicht mehr. Wäre er ein besserer Reiter gewesen, hätte er nur den Vorsprung des Masters größer werden lassen müssen, um sich unbemerkt davon zu machen und mitsamt dem Packpferd und dem, was es trug, zu verschwinden. Es gab aber gute Gründe, dies nicht zu tun. Der erste war Sarah, ohne die er nirgendwohin gehen würde. Der zweite war, dass er kein guter Reiter war und das Pferd nicht kannte. Der dritte war seine Neugier auf einen Mann, der es zuließ, dass ein Sklave, den er gerade gekauft hatte, alleine und ungefesselt auf seinem Packpferd reitet.

    Die drei entluden die Pferde an einer grasigen Stelle an einem munter dahinplätschernden Bach, als das noch unglaublichere geschah: der Weiße entkleidete sich vor seinen Sklaven und ließ seine Kleidung und auch seine Waffen offen in ihrer Nähe liegen. Die beiden hatten noch nie einen nackten Weißen gesehen und stellten erstaunt fest, dass zumindest dieser ähnlich gebaut war wie ein schwarzer Mann. Der gottähnliche Status weißer Männer schien dann wohl doch in der Hautfarbe begründet zu sein.

    „Wollt ihr nicht auch ein Bad nehmen?", fragte er, doch Sarah und Tom blieben eine Antwort schuldig, sondern sahen beschämt zu Boden. Er suchte eine tiefe Stelle und tauchte genüsslich in die kühle Flut, tauchte unter, tauchte auf, prustete und sah zum Ufer, wobei er die beiden dabei ertappte, wie sie sich schnell abwendeten, weil sie ihn mit offenen Mündern beobachtet hatten. Er hockte sich ins Bachbett und schaufelte mit beiden Händen Wasser zu ihnen hinauf, was sie noch mehr verwirrte, dann ging er kopfschüttelnd an Land.

    „Ist es verboten, mit Weißen in einen Bach zu steigen?", fragte er und sah nur große Ratlosigkeit, dann scheuchte er sie lachend ins Wasser.

    Er beobachtete sie, wie sie nackt im Bach saßen. Beobachtete ihre scheuen Blicke, ihre zaghaften Berührungen. Dann verließ er diskret seinen Platz. Als er nach ein paar Minuten wiederkam, lagen sie sich in den Armen, küssten sich und weinten. Er drehte noch eine Runde.

    Erfrischt und sauber saßen sie bald um ein flackerndes Feuerchen und aßen eine Kleinigkeit. Die Schwarzen hatten sich zunächst abseits im Dunkeln niederlassen wollen, aber das ließ der Weiße nicht zu.

    „Wir müssen reden., war seine Begründung, „Und ich habe keine Lust, mit der Dunkelheit zu reden. Oder ist es auch verboten, dass ein Weißer mit seinen Sklaven redet?

    Das Reden war jedoch nicht so einfach, wie der Weiße sich das vorgestellt hatte, denn seine beiden Sklaven wagten nicht, ungefragt das Wort an ihn zu richten und auf seine Fragen gaben sie recht einsilbig Antwort. Und obwohl sie jetzt im schwachen Schein des Feuers saßen, war das Weiße ihrer Augen fast das Einzige, was er von ihnen sehen konnte. Sie hatten die Knie hochgezogen und die Arme darum gelegt, wie, um sich zu schützen; keiner traute sich, ihn offen anzusehen, nur hin und wieder trafen ihn versteckte und verschämte Blicke.

    „Warum redet ihr nicht mit mir? Bin ich ein Untier?, fragte er ruhig. Sie schauten sich an und nickten sich gegenseitig  zu. Die zarte Sarah nahm allen Mut zusammen und antwortete leise und mit gesenktem Blick: „Master ist der ungewöhnlichste Weiße, den wir jemals kennengelernt haben. Der Angesprochene grinste hintergründig. Wenn sie wüsste, wie recht sie hat, dachte er.

    „Das will ich gerne glauben, ich bin ja schon eine Weile im Land und habe so dies und das beobachtet. Aber ihr solltet wissen, dass es auch Leute wie mich gibt."

    Die beiden sahen ihn mit großen Augen an und er sah die tausend Fragen, die sie hatten, und die sie sich nicht zu stellen trauten.

    „Jaja, schaut nur. Ich bin nicht der einzige auf der Welt, dem die Hautfarbe egal ist. Ein paar andere gibt es schon noch."

    „Wir kennen keinen.", flüsterte die kesse, scheue Sarah.

    „Glaub ich dir, wird sich aber ändern." Sarah schaute auf.

    „Wir werden andere kennenlernen?"

    „Will ich meinen."

    „Warum tut der Master das alles?"

    „Was denn?", fragte der unschuldig.

    „Wohin reisen wir, Master?" Jetzt hatte auch der Junge Mut gefasst.

    „Nach Norden."

    „Dorthin, wo es keine Sklaven gibt?"

    „Genau."

    „Master müsste uns dann frei lassen?"

    „Wird wohl so sein." Tom scharrte mit den Füßen.

    „Warum hat Master uns dann gekauft?"

    „Wäre es euch lieber gewesen, von diesem Lackaffen mit dem fetten Sohn lebendig gehäutet zu werden?" Sie schraken zusammen.

    „Schon gut, schon gut. - Ihr mögt einander, nicht wahr?", schmunzelte er.

    „Nein!", riefen sie protestierend wie aus einem Munde und griffen gleichzeitig gegenseitig nach ihren Händen. Der Weiße lachte.

    „Ihr könnt es doch ruhig zugeben, habt keine Angst. Ich habe euch eben beobachtet. Ihr seid glücklich miteinander.  Auch deshalb habe ich euch gekauft. Ich mag die Liebe und ich gönne sie euch. Ich erfreue mich an eurem Glück. Aber Liebe und Glück werden erst durch Freiheit schön."

    „Was heißt das?", fragte Sarah und sah ihn zum ersten Mal offen und interessiert an.

    „Das heißt, dass ihr frei sein werdet, dass ihr ein Paar sein werdet, dass ihr eine gemeinsame Zukunft haben werdet."

    „Das gibt es für uns nicht.", meinte Tom resignierend. Der Weiße sah beide eindringlich an.

    „Hört zu, ihr seid mein Eigentum. Als solches nehme ich euch mit in die Nordstaaten. Dort werde ich euch sofort freilassen."

    „Und dann? Was sollen wir dann machen? Sollen wir Master dienen? Als freie Menschen?", sprach Tom mutig und ohne Vorwurf. Der Weiße winkte ab.

    „Ich bringe euch zu einem Freund. Ich kenne ihn schon lange. Er ist Schmied dort oben. Ihr werdet bei ihm leben und arbeiten, wenn ihr wollt."

    „Wir wissen gar nicht, was wir wollen.", erklärte Sarah.

    „Ihr werdet es lernen. Er sah ihre Skepsis. „Ich werde euch einen freien Willen lehren.

    „Heißt das, dass Master noch bei uns bleiben wird?"

    „Sicher, unsere Reise wird wohl noch ein paar Wochen dauern; wir fangen sofort mit dem Lernen an."

    „Können wir nicht bei Master bleiben?", fragte Sarah.

    „Bleibt ihr doch."

    „Master hat gesagt, wir sollen zu einem Freund von Master."

    „Ja, denn ich lebe nicht hier, bin nur zu Besuch, um mich umzusehen. Ich komme von weit her, aus Europa." Der Weiße sah in verständnislose Gesichter.

    Es folgte eine Stunde Geografie, an deren Ende die beiden Sklaven so erschöpft waren, dass sie auf die Seite sackten und nebeneinander einschliefen, was aber nicht an dem Unterricht, sondern an den Umständen der vergangenen Tage lag. Der Weiße deckte sie sorgfältig zu und legte sich dann ebenfalls zur Ruhe.

    Sarah erwachte, als die Sonne bereits ankündigte, einen warmen Tag zu bereiten und sah sich um. Tom lag neben ihr und schlief noch, etwas weiter lag der Master und schnarchte, die Pferde grasten in einiger Entfernung. Ihre Hände waren nicht gefesselt. Sie hatte nicht geträumt. Jedenfalls nicht alles. Es stimmte, dass sie nicht mehr in dem Erdloch hocken musste. Es stimmte, dass sie und Tom zusammen waren, so sehr zusammen, wie noch nie.

    Es stimmte, dass sie den außergewöhnlichsten Weißen kennengelernt hatten. Es stimmte, dass dieser Weiße ihr neuer Master war. Es stimmte, dass der neue Master versprochen hatte, sie freizulassen. Oder hatte sie das geträumt? Hatte schon jemals ein Master seine Sklaven freigelassen? Sie wusste es nicht.

    Sicherlich geträumt war jedoch, dass Tom und sie ein kleines Häuschen besaßen und gemeinsame Kinder hatten, die in Freiheit aufwuchsen und auf des Masters Schoß saßen. Sarah seufzte tief und spürte, wie eine Hand sich sanft auf ihre Schulter legte.

    „Sarah?"

    „Hm?"

    „Was passiert mit uns?"

    „Wir reiten nach Norden."

    „Das meine ich nicht. Ich meine … insgesamt. Was ist geschehen?"

    „Vielleicht … ist das der Anfang von … Glück?" Tom küsste zärtlich Sarahs Nacken.

    „Wer ist er?", flüsterte er und Sarah betrachtete den weißen Mann mit einem Anflug von Zärtlichkeit.

    Als er  erwachte und die Augen aufschlug, hockten die beiden, ihn aufmerksam beobachtend, vor seinem Lager.

    „Na, ihr zwei, gut geschlafen?" Tom zeigte seine weißen Zähne.

    „So gut, wie lange nicht."

    „Schön."

    „Master?"

    „Hm?"

    „Master hat uns nicht gefesselt in der Nacht. Er hat alle Waffen herumliegen lassen …" Tom erschrak über seine eigenen Worte. So durfte er nicht mit seinem neuen Besitzer reden. Der Master jedoch lachte.

    „Wenn du meinst, ich sei sorglos, irrst du. Ich habe keine Angst vor euch, warum solltet ihr mir etwas tun? Das würde eure Lage nicht verbessern. Außerdem weiß ich, dass ihr gute Kinder seid."

    „Woher will Master das wissen?", fragte Sarah mit Interesse. Er schaute ihr lange in die Augen und streichelte ihre Wange.

    „Ich habe viel Lebenserfahrung." Er erhob sich und streckte seine Glieder.

    „Ihr heißt jetzt übrigens anders." Erstaunen in schwarzen Gesichtern. Er lachte.

    „Na ja, ich habe euch gekauft, infolgedessen habt ihr jetzt meinen Namen. Montanus."

    Sie brachen auf und folgten ihrem Weg nach Norden. Sie kamen langsam, aber stetig voran, da ein schnelleres als Schritttempo nicht zu leisten war und sie menschliche Ansiedlungen zu vermeiden suchten und daher den einen oder anderen Umweg in Kauf nehmen mussten. In Kauf nahmen sie ebenfalls die erstaunten bis missmutigen Blicke der Menschen, denen sie begegneten und die augenscheinlich daher rührten, dass ein weißer Master seine schwarzen Sklaven reiten ließ, aber dem Master war das egal. Diese Gleichgültigkeit ihres Masters machte insofern Eindruck auf die beiden Schwarzen, dass sie bei solchen Begegnungen im Laufe der Zeit keine lähmende Angst mehr verspürten, sondern ganz auf ihren Master vertrauten, der mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein die ihnen Begegnenden angrinste und grüßte.

    Mussten sie ihre Vorräte auffrischen, spielten sie allerdings die gewohnten Rollen, so dass sie wenig Aufmerksamkeit erregten, was ihnen ganz lieb war. Montanus kleidete sie auch neu ein, weil es, wie er sagte, im Norden durchaus kalt werden konnte.

    Zu diesem Zweck betraten sie einen Kramladen in einem winzigen Ort, der nur aus ein paar windschiefen Hütten bestand, von denen eine durch ein selbst gezimmertes Schild als Geschäft ausgewiesen war. Ein schmächtiger Mann mit stechendem Blick stürzte sich auf die einzigen Kunden, die er offenbar hatte, denn ansonsten war die Hütte, die aus zwei Räumen zu bestehen schien, menschenleer. Der Schmächtige, der ein verschossenes weißes Hemd, eine fadenscheinige Hose und Holzpantinen trug, zeigte auf die Schwarzen und sagte zu Montanus: „Die dürfen hier aber nicht rein." Hierbei verschlang er Sarah geradezu mit Blicken, was Montanus sehr missfiel.

    „Um die geht’s aber., brummte er kurz angebunden, worauf der Krämer seinen Widerstand, wohl der Aussicht auf ein Geschäft wegen, aufgab. Er führte Montanus und Tom zu einer Ecke, in der Herrenkleider gestapelt lagen. „Suchen Sie sich was aus, die Damensachen sind im Nachbarraum; ich gehe mit der Niggerin. Da Tom sich sofort auf den Stapel stürzte, trat Montanus ihm beratend zur Seite, während der Krämer Sarah am Arm packte und sie in den anderen Raum, der durch einen Vorhang von dem einen abgetrennt war, zog. Plötzlich drangen unterdrückte Schreie durch den Vorhang zu den beiden Männern. Tom ließ die Sachen fallen, die er gerade in der Hand hielt und stürzte auf den Vorhang zu, wobei er „Sarah! rief. Montanus stürzte hinterher und rief: „Tom!

    Hinter dem Vorhang sahen sie Sarah nackt auf einem Stapel Damenkleider liegen und vor ihr stand, mit dem Rücken zum Vorhang, der Krämer mit heruntergelassener Hose in eindeutiger Position und zeigte den Eintretenden sein faltiges Hinterteil.

    Montanus hielt Tom zurück, der sich wutentbrannt auf den Schmächtigen stürzen wollte und sagte laut, aber beherrscht: „Sie stochern in meinem Eigentum herum; das mag ich nicht."

    Der Krämer drehte sich mit einem schiefen Grinsen um und meinte: „Ich bezahle auch.", was ihm nicht das Wohlwollen des Masters einbrachte, wohl aber einen Schlag von dessen flacher Hand ins Gesicht, der ihn taumeln ließ. Mit einem Sprung war Montanus bei ihm, packte ihn am Kragen seines Hemdes und näherte sein Gesicht den fauligen Zähnen des Besitzers des entblößten Hinterteils.

    „Wir werden uns nehmen, was wir brauchen, und ich werde angemessen bezahlen. Du wirst hier drinnen bleiben, ich will dich nie wieder in der Nähe der schwarzen Lady sehen. Wenn das jetzt, heute, oder irgend wann einmal geschehen sollte, bist du ein toter Mann.", raunte er drohend und drückte den Notgeilen auf eine Kiste.

    Seine beiden Sklaven zogen sich rasch die ausgesuchten Sachen an, er legte ein paar Scheine auf einen Tisch, und dann verschwanden sie.

    Die nächsten Stunden ritten sie schweigend nebeneinander her.

    Beim Absatteln am Abend wollte Montanus von Sarah wissen, wie es ihr ginge und sie druckste ein wenig herum. „Es war nicht das erste Mal., flüsterte sie. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. Es wird vielleicht auch nicht das letzte Mal gewesen sein, dachte er. „Master?

    „Hm?"

    „Es hat mich noch nie jemand ‚schwarze Lady‘ genannt."

    „Dann wurde es Zeit.", sagte er und wandte sich ab.

    Die Abende am Feuer nutzte er, um sie auf ihr neues Leben vorzubereiten und ihr Selbstbewusstsein zu stärken.

    Am Nachmittag des achten Tages war in der Ferne ein Grollen zu hören.

    „Ein Gewitter.", bemerkte Tom, immerhin ungefragt. Montanus schüttelte den Kopf.

    „Geschützdonner.", brummte er.

    „Der Krieg?"

    „Hm."

    „Wie weit ist es noch?"

    „Bis wohin?"

    „Zur Grenze?"

    „Kann nicht mehr weit sein." Schweigend ritten sie weiter, allerdings nicht mehr so sorglos wie zuvor. Der Master blickte sich häufig um und suchte mit Blicken den Horizont ab; außerdem griff er ungewöhnlich häufig nach seinen Waffen.

    Der Nachmittag wollte vom Abend abgelöst werden, als sie in der Ferne eine Staubwolke entdeckten, die sich rasch näherte. Bald schon konnten sie den Verursacher der Wolke erkennen, der sich rasch als Reiter in Uniform entpuppte, der sein Tier zu äußerster Anstrengung antrieb. Als er das Trio erblickte, zügelte er kurz sein Pferd, um dann mit ungebrochener Geschwindigkeit auf sie zuzurasen. Früh genug sah Montanus, dass der Uniformierte einen langen Revolver zog und auf sie anlegte. Es war ein Mitglied der Südstaatentruppen. Die drei sprangen von ihren Pferden.

    „In Deckung!, rief Montanus und stellte sich gleichzeitig schützend vor seine Schützlinge. Mit den Worten „Die Nigger sind der Grund für das Schlachten!, drückte der Mann zweimal ab.

    Eine Kugel ging fehl, die andere traf zufällig, denn erstens konnte man mit diesem Schießprügel nicht richtig zielen und zweitens befand sich der Mann in vollem Galopp, Montanus‘ Brust. Tom, der sich unmittelbar, quasi als Sandwichfüllung, hinter Montanus und vor Sarah befand, spürte, wie bei dem zweiten Knall ein Zucken durch den Körper des Weißen ging, der daraufhin sofort zusammensackte. Während der Soldat weiterstürmte, sank des Masters Kopf auf dessen Brust, der Körper jedoch zu Boden und Tom auf seine Knie, zwischen die der Kopf des Masters zu liegen kam. Sarah schrie erst, dann fing sie an zu schluchzen und fiel neben dem leblosen Körper ebenfalls auf die Knie, um verzweifelt die Hände auf die Brust des nicht mehr atmenden Mannes zu legen, der reglos und mit geschlossenen Augen, dafür mit offenem Mund, vor ihr lag. Ein schwacher Blutstrahl aus der winzigen Wunde spuckte ein Projektil aus und versiegte dann. Sarah nahm nichts mehr wahr und ließ ihrer Verzweiflung freien Lauf. Der Mann, der sie vor kurzem gekauft und der ihnen die Freiheit in Aussicht gestellt hatte, der sie ‚schwarze Lady‘ genannt hatte, war tot. Sie würden abermals verkauft werden. Dieser Weiße, der erlaubt hatte, dass sie ihre Arme um ihn schlang, lebte nicht mehr. Dieser Master mit der sanften Stimme, der sie all die Zeit niemals streng angesprochen hatte, atmete nicht mehr.

     In diesem Augenblick schoss ein Trupp Kavallerie an ihnen vorbei. Einige Soldaten, ebenfalls Südstaatler, sahen kurz und ohne Gefühlsregung zu dem Trio herüber, und schon waren sie vorbeigeritten. Die Wunde blutete nicht mehr und dann geschah etwas Seltsames. „Sarah, schau!", forderte Tom seine Gefährtin auf und deutete auf das Eintrittsloch, das sich jetzt langsam schloss. Beider Blick war starr auf die Wunde gerichtet und Sarah war jetzt vor Erstaunen still. Als die Wunde vollständig geschlossen war, hob und senkte sich der Burstkorb des Weißen wieder und er schlug mit einem Seufzer die Augen auf. Sein erster Blick galt Tom, der zweite Sarah, dann zog ein Lächeln über sein Gesicht.

    „Das, meine Lieben, dürft ihr niemandem erzählen.", murmelte er heiser und versuchte, sich hochzurappeln. Seine Begleiter schienen wie erstarrt, Sarah sah ihn an, als wäre er eine Erscheinung, womit sie nahe bei der Wahrheit lag, aber sie nicht ganz traf, Tom starrte immer noch auf den runden Punkt, der einmal eine Schussverletzung gewesen war.

    „Tom, kannst du mir mal aufhelfen?" Tom schien nichts gehört zu haben.

    „Na, dann nicht.", raunte er und stemmte sich mühsam auf die Knie. Als Tom dies endlich bemerkte, sprang der junge Mann auf, griff dem alten beherzt unter die Arme und zog ihn hoch.

    „Danke. Geht also doch." Montanus sah die immer noch knieende, ihn immer noch anstarrende Sarah von oben an. Sie gab gurgelnde Laute von sich.

    „Was hat sie gesagt?", fragte er Tom. Er erhielt keine Antwort. Montanus reckte sich.

    „Ist etwas passiert, nachdem ich getroffen wurde?" Keine Antwort.

    „Kinder, Papa hat etwas gefragt." Tom fuhr seine Linke aus und deutete in die Ferne.

    „Männer.", hauchte er.

    „Wie interessant., meinte der Wiederauferstandene halb verärgert, halb belustigt.  Dann erzählte Tom stotternd von dem Kavallerietrupp. Montanus dachte kurz nach und entschied dann: „Aufbruch. Lasst uns die Südstaaten schnell verlassen. Als seine Sklaven immer noch keine Anstalten machten, sich zu rühren, befahl er: „Master sagt: aufsitzen!" Schmunzelnd beobachtete er, wie die beiden wie in Trance die Pferde bestiegen. Als er selbst im Sattel saß, wollte Sarah wie gewohnt ihre dünnen Arme um seinen Leib schlingen, schien aber davor zurückzuschrecken; sie ließ die Arme wieder sinken.

    „Ich bin kein Geist, Sarah, und ich bin nicht mehr verletzt. Halte dich also fest." Sarah glaubte ihm zwar nicht, legte aber trotzdem fast trotzig ihre Arme um ihn. Sie fühlte seinen festen Körper und dachte, ein Geist ist er tatsächlich nicht. Was sie nicht wissen konnte, war, dass er dem aber ziemlich nahe kam.

    Nach einer Weile passierten sie einen verlassenen, provisorischen Grenzposten und setzten ihren Weg bis zum Anbruch der Dunkelheit fort. Ein Feuer entzündeten sie heute nicht, und Montanus teilte Wachen ein. Ein unausgesprochenes Schweigegelübde ließ keinerlei Gespräch aufkommen, was sich aber bei Morgengrauen, als er zum Aufbruch drängte, änderte.

    „Master, er hat auf dich geschossen.", konstatierte Tom rückblickend.

    „Ja."

    „Ich habe gesehen, wie Männer aussehen, auf die geschossen wurde."

    „Ja."

    „Du warst tot, Master.", klagte Sarah. Montanus hörte mit der Herrichtung des Pferdes auf und drehte sich zu den beiden Erzählern um.

    „Ja, ich bin von einer Kugel getroffen worden und vielleicht war ich auch tot; aber nur eine Weile. Jetzt bin ich wieder lebendig und will hier weg."

    „Wer bist du, Master?", fragte Tom.

    „Master, was bist du?", fragte Sarah.

    „Ein Mensch, meine Lieben, ich bin ein Mensch.", erklärte der Weiße fröhlich.

    „Aber nicht wie wir, nicht wahr?" Die schlaue Sarah.

    „Nein, nicht wie ihr.", flüsterte er.

    Sie ritten über ein Gelände, dessen Boden aufgewühlt war. Hier und da lag ein Pferdekadaver, Sträucher und Bäume waren teilweise zerfetzt, Häuser zerstört und Scheunen niedergebrannt. Es roch nach Rauch und Tod.

    Bald jedoch wurde die Gegend freundlicher und als sie die erste Ansiedlung sahen, über der das Banner der Nordstaaten wehte, wussten sie, dass sie in relativer Sicherheit waren.

    Montanus begab sich mit seinen Schützlingen zum Richter, legte die Kaufurkunden vor und erwirkte Freilassungsurkunden.

    „Und jetzt müssen noch die Dinger da ab.", schmunzelte der Richter und zeigte auf die Hälse der jungen Leute, die völlig fassungslos waren. Ein Gerichtsmitarbeiter erschien mit einer großen Zange, die, wie er stolz verkündete, extra für diese Zwecke hergestellt worden war, da die Freilassung von Sklaven hier fast zum Tagesgeschäft gehöre, setzte sie gekonnt zweimal an und Sarah und Tom waren die Stigmata los. Zur  Feier des Tages ging man zu dritt in eine Art Gasthof, um zu essen und zu trinken. Niemand nahm hier Anstoß daran, dass Schwarze das Lokal betraten.

    „Die Leute sind alle so freundlich zu uns.", strahlte Sarah, worauf Montanus seine Gabel erhob.

    „Täuscht euch nicht. Nicht überall ist es, wie hier. Auch in diesem Teil Amerikas gibt es Feindschaft gegen die Schwarzen. Dass die Sklaverei hier abgeschafft ist, bedeutet nicht, dass alle Menschen Brüder sind. Und Schwestern."

    Da sie glaubten, es sich verdient zu haben, blieben sie über Nacht in dem Gasthof, um einmal in richtigen Betten zu schlafen und bekamen zu dritt ein Zimmer zugesprochen.

    Als das Licht gelöscht war und sie einem mehr oder weniger bierseligen Schlaf entgegenatmeten, wagte Sarah die entscheidende Frage mit fester Stimme in die Dunkelheit hinein.

    „Kannst du das erklären, Master?"

    „Ich heiße Magnus.", nuschelte Magnus zurück.

    „Magnus."

    „Was ist?", fragte er mit schwerer Zunge.

    „Ob du das erklären kannst."

    „Was?" War es Taktik, oder war er betrunken?

    „Dass du von den Toten auferstanden bist."

    „Ich war doch der einzige, oder?"

    „Du weißt, wie ich das meine."

    „Nein."

    „Soll ich es noch einmal erklären?"

    „Nein. Ich meine, nein. Nein heißt nicht, dass ich nicht weiß, was du meinst, sondern, dass ich es nicht erklären kann. Glaube ich."

    „Hast du keine Erklärungen für dich?"

    „Schon, aber die sind unreif. Ich arbeite daran."

    „Wirst du es uns sagen, wenn du die Lösung hast?" Tom schnarchte.

    „Wenn ihr es noch erlebt, werde ich es euch sagen." Er schien eindeutig betrunken, war es aber nicht. Er war nur müde.

    „Willst du damit sagen, dass wir eher sterben als du?" Sarah klang erstaunlich sachlich.

    „In diesem Falle erkläre ich es euren Nachkommen." Das klingt nun eigentlich nicht mehr betrunken, meinte Sarah.

    Er wusste damals nicht, dass er ein folgenschweres Versprechen gegeben hatte.

    Zwei Wochen später ritten sie gemächlich durch ein bewaldetes Gelände irgendwo zwischen den großen Seen und der Ostküste. Der leicht ansteigende Reitweg führte geradewegs auf eine große Lichtung, auf der sich ein Anwesen und mehrere Pferdekoppeln, auf denen einige Pferde grasten, befanden. Xavier de la Lotte hob den Kopf, als er die zwei Pferde gewahr wurde und ließ den Hammer sinken.

    „Pauline, il est la!", rief er in reinstem Französisch zum Haus hinüber, und die Schindeln des Hauses schienen zu vibrieren, in dessen Tür nun eine brünette Frau erschien und den Weg hinabschaute.

    „Magnus!", rief sie und stürzte den Reitern entgegen.

    Der Schmied, ein gewaltiger Mann mit einer roten Mähne, die er hinter dem Kopf zu einem Zopf gebunden hatte, warf den Hammer fort und verzog sein vollbärtiges Gesicht zu einem breiten Grinsen. Er hatte eine Lederschürze und eine ebensolche Weste an, darunter nichts, so dass seine mächtige Muskulatur gut zu sehen war. Auch er ging den Ankömmlingen entgegen.

    Magnus sprang vom Pferd und schritt den beiden lachend und mit ausgebreiteten Armen  entgegen. Zuerst umarmte er Pauline, dann den Schmied, der fast einen Kopf größer, aber sicher doppelt so breit war, wie Magnus. Sarah und Tom stiegen ab und blieben bei den Pferden. Das französischstämmige Paar wechselte ein paar Worte in ihrer Muttersprache mit Magnus, wobei Xavier das kleine Loch in Magnus‘ Hemd entdeckte.

    „Ist es wieder passiert?", fragte er besorgt.

    „Es ist wieder passiert, gleichzeitig ist nichts passiert, wie du siehst. – Ich habe euch zwei bezaubernde junge Menschen mitgebracht." Er winkte die beiden schüchternen Schwarzen herbei, die sich, zu ihrer Überraschung, ebenfalls an die unterschiedlichen Busen des Paares unversehens gedrückt sahen.

    Am Abend saßen sie alle um einen großen Tisch in der Wohnküche des Hauses um einen großen Topf Eintopf herum und aßen.

    „Es wäre schön, wenn ihr Sarah und Tom aufnehmen könntet.", sagte Magnus. Pauline sah Sarah lächelnd an und drückte ihre zarte Hand. Xavier schlug Tom auf die Schulter, der dies als Ritterschlag nahm und sich den Schmerz nicht ansehen ließ.

    „Sie werden sein wie unsere Kinder., versprach Xavier dröhnend, und ernst und leise fügte er hinzu: „Wie lange wirst du bleiben?

    „Ich bleibe noch eine Weile. Ich habe versprochen, ihnen Selbstbewusstsein beizubringen."

    Xavier lachte, was klang, wie Donnergrollen.

    „Da bist du der beste Lehrmeister."

    „Manches andere müsst ihr ihnen beibringen." Xavier und Pauline lachten zustimmend.

    Der Sommer verging mit entsprechenden Aktivitäten. Tom half Xavier und lernte dabei dessen Kunden kennen. Xavier war nicht nur der Mann fürs Grobe, als der er sich gab. Er konnte einen Wallach in die Knie zwingen, reparierte abends aber auch so manche Taschenuhr.

    Pauline nahm Sarah unter ihre Fittiche; sie unterwies sie in Haus- und Gartenarbeit und brachte ihr Französisch bei. Magnus lehrte sie Lesen und Schreiben und erklärte ihnen die Welt.

    Die beiden ehemaligen Sklaven genossen das neue Leben und blühten richtiggehend auf. Da sich herumgesprochen hatte, dass sie die ‚Kinder‘ des Schmieds waren, dazu noch überaus tüchtig und freundlich, erfuhren sie keinerlei Ressentiments wegen ihrer Rasse, doch Magnus ahnte, dass einschlägige Erfahrungen auf sie warteten.

    „Kommen Pauline und Xavier aus Frankreich?", wollte Sarah wissen, als sie mit Magnus einen Spaziergang machte. Sarah schritt unbeschwert neben Montanus her, als wenn sie gute Freunde wären. Was sie auch waren.

    „Eigentlich nicht. Ihre Großeltern sind dort geboren und als Kinder hier hergekommen. Sie haben mit ihresgleichen zusammengelebt und sich ihre Sprache bewahrt."

    „Warum sind sie nicht dort geblieben? Pauline sagt, Frankreich sei ein schönes Land."

    „Sicher ist es schön, aber es gibt Dinge, die einen veranlassen können, auch das Schöne zu verlassen."

    „Welche Dinge?"

    „Sie stammen aus einem Hugenottengeschlecht; die Hugenotten glaubten anders als die übrige Bevölkerung in Frankreich. Sie wurden deshalb verfolgt, viele wanderten aus. Xaviers und Paulines Familien lebten in einem kleinen Dorf in den Bergen und konnten dort viel länger als ihre Glaubensgenossen bleiben und ihren Glauben leben. Aber irgend wann ging das nicht mehr und sie wanderten aus."

    „Woher kennst du sie?" Magnus sah die junge Frau mit den wissbegierigen Augen lange an.

    „Sagen wir so: ich kannte ihre Familien." Sarah zog die Stirn kraus und überlegte.

    „Dann warst du vor langer Zeit schon einmal hier? Ich dachte, Xavier und Pauline seien so alt wie du …"

    „Es ist komplizierter, viel komplizierter." Sarah legte den Kopf schief.

    „So kompliziert wie deine Wiederauferstehung?"

    „Es hängt alles miteinander zusammen." Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her und Magnus merkte, dass Sarah noch etwas auf dem Herzen lag.

    „Wirst du uns verlassen?", fragte sie mit brüchiger Stimme. Ihre Unterlippe zitterte. Magnus sah zu Boden.

    „Ich muss. Ich kann nicht ewig hierbleiben. Ihr seid bei den beiden gut aufgehoben."

    „Wann?", hauchte sie. Magnus lachte, obwohl ihm nicht danach zumute war und legte einen Arm um sie.

    „Dieses Jahr nicht mehr."

    Draußen lag Schnee und Xavier war mit den jungen Leuten in den nächsten Ort gefahren, um dort eine Kutsche zu richten und Einkäufe zu tätigen. Magnus saß mit Pauline am brennenden Kamin, der wohlige Wärme ausstrahlte.

    „Du magst sie, nicht wahr?", fragte Pauline einfühlsam.

    „Ja, ich mag sie. Sehr sogar."

    „Wann wirst du abreisen?"

    „Im Frühjahr."

    „Sie bleiben hier."

    „Ja."

    „Sie lieben dich." Magnus schluckte.

    „Ich weiß. Er stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Manchmal ist es wie ein Fluch, Pauline. Ich würde sie so gerne mitnehmen, sehen, wie sie ihren Weg machen, sich entwickeln, ihre Kinder aufwachsen sehen. Es geht nicht. Wie oft habe ich schon in solchen Situationen gesteckt? Ich kann keine Menschen dauerhaft an mich binden, Pauline. Sie würden es nicht verstehen. Ihr gehört zu den ganz wenigen, die wissen, was mit mir ist. Diese Situationen machen mir klar, wie einsam ich wirklich bin. Auf Ewigkeit einsam.

    „Vergiss nicht, dass du schon vielen Menschen Glück gebracht hast, Magnus., versuchte Pauline den schluchzenden Mann zu trösten. „Unsere Familien hast du vor dem Verderben bewahrt; du hast uns aufwachsen sehen. Magnus setzte sich mit einem Ruck gerade hin und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

    „Du hast recht, Pauline. Andere Menschen glücklich zu machen, macht selbst glücklich, und ich habe allen Grund, glücklich zu sein. Aber manchmal habe ich auch schwache Momente. Ich bin nur ein Mensch." Bist du so sicher?, dachte Pauline, schlug aber etwas vor.

    „Du könntest doch in Kontakt bleiben; ihr könntet euch schreiben …" Magnus nickte.

    3.

    „Wie geht es Grandma, Darling?"

    „Sie schmollt und hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen."

    „Grüße sie trotzdem schön."

    „Mach ich, und dir viel Glück morgen."

    „Danke."

    Gedankenverloren und lächelnd legte Holly auf. Ihre Tochter. Stefania war erst fünf, aber so gescheit wie eine Zehnjährige. Holly war stolz auf sie. Weniger stolz war sie auf den Zeugungsakt, der Stefania hervorgebracht hatte, aber sie verscheuchte den Gedanken schnell.

    Sie würde sich jetzt herrichten und essen gehen, obwohl dies ihr Budget erheblich strapazieren würde. In der Nähe gab es ein gutes Restaurant und sie hatte einen Tisch ergattert. Gutes Essen und ein guter Wein würden sie auf andere Gedanken bringen. Das hatte sie nötig vor morgen.

    Sie zog ein hübsches Kleid und bequeme Schuhe an, warf noch einen Blick in den Spiegel, der ihr eine gut aussehende, junge Frau zeigte, und verließ ihr Zimmer.

    An der Rezeption, die neben dem Eingang zur Gaststube lag, verhandelte der Kellner mit einem jungen Paar, das Englisch mit Akzent sprach. Sie grüßte mit einem Kopfnicken und trat in den lauen Abend.

    Draußen atmete sie einmal tief durch. Sie genoss die angenehme Luft, die zwar warm war, aber nicht so stickig wie zu Hause.  

    Um diese Zeit war nicht mehr viel Verkehr und so konnte sie sich ein wenig umsehen. Es war hier völlig anders als zu Hause. Die Autos waren kleiner und fuhren schneller. Die Häuser waren nicht so hoch und die Straßen schmaler und enger bebaut. Außerdem war es wärmer, als ihr ein paar Leute einzureden versucht hatten, so dass sie dachte, ein paar Kilometer weiter wäre Sibirien.

    Nach ein paar hundert Metern schon erreichte sie das Restaurant, das in einem unscheinbaren, ja, hässlichen Backsteinbau untergebracht war. Umso positiver überrascht war sie von der geschmackvollen Inneneinrichtung, die die Räume großzügig ausnutzte. Von einem distinguierten Kellner wurde sie an einen Einzeltisch gebeten und bestellte zunächst ein Wasser. Das Lokal war etwa zur Hälfte gefüllt und die Gäste unterhielten sich meist leise. An den Tischen, auf denen Kerzen brannten saßen meist Paare. An einem etwas abseits gelegenen, größeren Tisch saß ein grauhaariger Mann alleine und mit dem Rücken zu ihr.

    Sie hatte einen Wein und ein Menü bestellt, der Preis war ihr egal, normalerweise würde sie nicht so viel für Essen ausgeben, als das fremdländisch aussehende Pärchen aus ihrem Hotel erschien und sich suchend umblickte. Der Kellner half und geleitete sie zu dem einzelnen Mann, den er höflich ansprach. Der Kellner trat zurück, als der Mann sich erhob und das Pärchen herzlich begrüßte. Holly konnte den Mann nicht sehen, denn der Kellner verstellte die Sicht. Das Pärchen machte jedoch einen glücklichen, wenn

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