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Tanja liest
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eBook736 Seiten10 Stunden

Tanja liest

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Über dieses E-Book

Personen mit Lese- und Rechtschreibschwäche kann heutzutage geholfen werden, erwachsenen wie heranwachsenden. Es gibt Therapien, es gibt Vereine, Selbsthilfegruppen, und auch die Schulen sollten in der Regel auf solche Problematiken eingestellt sein.
Ich habe das anders erlebt, und das ist noch gar nicht so lange her. Es begab sich nämlich zu meiner eigenen Grundschulzeit, da ließen Lehrpersonen die mühsamen Elaborate klassenöffentlich verlesen – ohne Rücksichtnahme auf die Psyche der armen Kinder.
Das Erlebte ließ mich nicht los, und bevor es völlig verblasst, entschloss ich mich, eine Geschichte darum herum zu schreiben. Es geht nicht in erster Linie um Legasthenie, darüber ist schon viel geschrieben worden, aber die damaligen Ereignisse bilden den Ausgangspunkt.
Die Heldin der Geschichte befindet sich zu deren Beginn am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala, während ihr alter Schulkamerad Roger am genau entgegengesetzten Pol sich befindet.
Zufällig treffen sie sich nach vielen Jahren wieder und – wie sollte es anders sein? – verlieben sich ineinander.
Doch beide haben Geheimnisse voreinander: Tanja versucht, ihr Handicap und ihre bei ihr lebende Nichte vor Roger zu verbergen, und Roger fürchtet, dass sein Reichtum und seine Macht Tanja verschrecken könnte. Beide ahnen nicht, dass ein fünfjähriges Mädchen gleichzeitig Tanjas Nichte und Rogers Freundin ist.
Nachdem das dann klar ist, erlebt Tanja, was ökonomische Macht und ein starker Charakter so alles bewirken können: ein Parteitag einer ehemals linken Partei jubelt Roger zu, eine Landesregierung zerbricht an seinem Willen und die Kanzlerin muss um ihre Macht fürchten. Doch Tanja scheut die Verantwortung, die Roger ihr gerne in seinem Wirtschaftsreich überließe, bis Roger einer rätselhaften Krankheit anheimfällt.
Durch diesen Umstand greift sie in die Weltenläufte ein und findet endlich die Rolle, die ihr zusteht.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum5. Sept. 2016
ISBN9783741847974
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    Buchvorschau

    Tanja liest - Reiner W. Netthöfel

    cover.jpg

    Text: Copyright by Reiner W. Netthöfel

    Umschlaggestaltung: Copyright by Reiner W. Netthöfel

    Verlag: Reiner W. Netthöfel

    Oststr. 13

    44534 Lünen

    paliopily@googlemail.com

    Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    Tanja liest

    Die Frau erwachte schweißgebadet, wie so häufig. Wie fast immer. Ihr Gesicht war ganz nass, wie so häufig, wenn sie nachts erwachte. Wie fast immer. Die Nässe auf ihrem Gesicht war zwar auch salzhaltig, war aber kein Schweiß. Wie fast immer. Doch diesmal war sie nicht von ihren eigenen Schreien, ihrem eigenen Weinen aufgewacht, wie sonst fast immer, wenn sie von der dunkelhaarigen Frau mit der großen Nase geträumt hatte, die ihr fast jede Nacht zuraunte, dass es ihr ja leider nicht mehr erlaubt sei, ihr ihre Rechtschreibfehler und die verunglückte Grammatik aus dem Leib zu prügeln, oder sie davon geträumt hatte, dass wieder einmal die ganze Klasse sie ausgelacht hatte, weil ihre Aufsätze oder Diktate, die die Frau mit der großen Nase öffentlich vorlesen ließ, wegen der vielen Fehler schlichtweg nicht verstanden werden konnten, sondern von dem Weinen des Kleinkindes, das neben ihr in einem einfachen Kinderbett lag. Bestimmt aber war die Kleine von den Schreien und dem Weinen der Frau aufgewacht. Der Mond schien durch das vorhanglose Fenster, so dass die Frau kein Licht zu machen brauchte, um das Mädchen zu sich herüberzuholen und es zu beruhigen. Bald darauf schlief die Kleine an ihrer Seite wieder ein.

    So ginge das jedenfalls nicht weiter; nicht jede Nacht könnte sie dafür verantwortlich sein, dass der Schlaf ihrer Nichte gestört wurde. Aber die Frau wusste nicht, wie Träume zu besiegen wären.

    Der Mann in dem schwarzen Anzug, dem weißen Hemd mit der silbernen Krawatte und der randlosen Brille verbeugte sich für europäische Verhältnisse ein wenig zu tief und zu lange. Weil das Blitzlichtgewitter ihn blendete, hatte er die Augen geschlossen. Er wusste, dass er sie sehr bald nie wieder öffnen würde. Dann setzte er sich umständlich an den kleinen Tisch mit einem Mikrofon. Der Tisch stand ziemlich einsam auf einer großen Bühne, die von schwarzen Vorhängen gesäumt wurde. Er räusperte sich und ruckelte an seinem Krawattenknoten. Im fernen Europa grinste ein anderer Mann die Mattscheibe eines Fernsehgerätes.

    „Ich bedaure zutiefst Ihnen mitteilen zu müssen, dass unsere Firma nun zu Wulvsen Industries gehört., erklärte der Japaner mit brüchiger Stimme. „Es ging nicht anders. Herr Doktor Wulvsen war … zu überzeugend. Der Mann schluckte einen dicken Kloß hinunter, weil er nicht nur eine Kehrtwende in der Unternehmensgeschichte zu erklären hatte, sondern auch sein persönliches Scheitern und das Ende einer Unternehmenskultur. Dann fing der Japaner lautlos zu weinen an.

    „Dieser Idiot mit seinem Kamikaze-Wahn!, schrie der Mann mit den ergrauenden Haaren seine Sekretärin an. „Man muss sich wegen des Wechsels von Eigentumsverhältnissen doch nicht gleich umbringen! Schicken Sie mir den zuständigen Abteilungsleiter. Und dann brauchen wir ja wohl so eine Art Presseerklärung.

    „Wir haben aber keine Pressestelle.", wandte die Sekretärin ein. Der Mann machte eine energische Geste.

    „Aber unsere Dependance in Japan hat eine. Die Erklärung wird mit mir persönlich abgestimmt. Ich rufe dann mal den japanischen Premierminister und den Tenno an. Machen Sie mir eine Leitung, werde denen mal klarmachen, dass wir nicht mehr im Mittelalter leben." Dann verschwand der Mann in seinem ‚Hölle‘ genannten Büro.

    Die Sekretärin tat, was ihr aufgetragen worden war. Sie gab die Order des Alten an die japanische Dependance weiter und verband ihn mit dem japanischen Regierungschef, wie schon so häufig.

    Die Verbindung mit dem japanischen Kaiser war dann ein ganz klein wenig komplizierter herzustellen.

    „Wer möchte mit dem Tenno sprechen?"

    „Doktor Roger Wulvsen."

    „Und wer ist dieser Dr. Roger Wulvsen?" Die Sekretärin setzte ein siegesgewisses Lächeln auf.

    „Dr. Roger Wulvsen ist der alleinige Inhaber von Wulvsen Industries, wenn Sie verstehen." Die Sekretärin hörte eine ganze Weile überhaupt nichts. Dann hörte sie ein Räuspern, und dann eine sehr belegte Stimme:

    „Entschuldigung. Vielmals. Ich bin neu. Selbstverständlich ist Seine Hoheit für Herrn Doktor Wulvsen zu sprechen."

    Dass Wulvsens wirtschaftliche Transaktion und die mortale Reaktion darauf  keine diplomatischen Verwicklungen nach sich zogen, lag nicht etwa an telefonischen Beschwichtigungen, denn er war auch hier sehr direkt geworden und hatte aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht, hatte sowohl dem Regierungschef als auch dem Kaiser erklärt, dass der Wechsel eines großen, japanischen Konzerns in den Besitz Wulvsens etwas völlig Normales wäre und noch lange kein Grund, sich etwas anzutun, schließlich würde der Konzern nicht zerschlagen, niemand verlöre seinen Arbeitsplatz und so weiter, und man solle doch, bitte sehr, endlich in der Moderne ankommen, sondern hatte einfach mit den vielfältigen wirtschaftlichen Beziehungen von Wulvsen Industries mit dem Inselstaat zu tun, bei denen Wulvsen an einem ziemlich langen Hebel saß.

    „Das kann er doch nicht machen!", rief die Frau und drehte sich um. Sie stemmte die Hände auf die Spüle und atmete schwer.

    „Doch, kann er., erwiderte ihr Mann gepresst und gab damit preis, dass er sich mit seiner fristlosen Entlassung abgefunden hatte. „Ich habe einen schwerwiegenden Fehler gemacht, und in solchen Fällen sehen die Arbeitsverträge eine fristlose Kündigung vor. Seine Frau fuhr wieder herum und ihr Gesicht drückte Wut und Enttäuschung aus. Und Hoffnungslosigkeit.

    „Jeder hat eine zweite Chance verdient. Jeder. Der Alte ist doch noch relativ jung, der ist doch nicht so ein verknöcherter Griesgram. Der hat doch sogar so was Soziales studiert, der …"

    Ihr Mann lachte kurz und freudlos auf und unterbrach sie damit.

    „Er ist promovierter Sozialwissenschaftler, ja. Aber er leitet auch den weltgrößten Konzern, da bleibt für Sozialromantik kein Platz. Sagt er jedenfalls, und vielleicht hat er sogar recht damit. Wer solche Fehler macht wie ich, der fliegt, so ist das nun mal. Außerdem hatte er mich gewarnt. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und sprach leise weiter. „Ich kann noch froh sein, dass er mir nicht den Kopf abgerissen hat.

    „Verdammt! Er hat recht gehabt! Wie hatte er das wissen können? Das ist ein Ding der Unmöglichkeit!", schrie der Mann und raufte sich die Haare, denn schließlich ging es um seine Existenz und die seiner Mitarbeiter. So meinte er jedenfalls.

    „Bei Wulvsen gibt es nichts Unmögliches.", raunte sein Prokurist wissend.

    „Herr Iding, wollen Sie schon gehen?" Der kleine, bärtige Mittdreißiger stand etwas mühsam auf und wendete sich einem etwa Sechzigjährigen zu, der neben ihm stehengeblieben war. Der Bartträger wirkte nicht mehr ganz nüchtern. Andere Mittdreißiger sahen unterschiedlich interessiert zu ihnen herüber, und das waren durchaus einige, denn der kleine Saal beherbergte fast ausschließlich Mittdreißiger beiderlei Geschlechts und eine Handvoll älterer Herrschaften, und das lag daran, dass es sich bei der Gesellschaft um ein Klassentreffen handelte. Genauer gesagt traf man sich, um dem fünfzehn Jahre zurückliegenden Abitur zu gedenken.

    „Tja, Frank, das Alter macht sich allmählich bemerkbar. Es war aber schön, Sie haben das wunderbar organisiert. Nur schade, dass Roger nicht kommen konnte." Dieses Bedauern konnte zwar Frank, nicht aber einige andere der Anwesenden teilen.

    „Finde es gar nicht schade, dass Roger nicht hier ist.", raunte einer der anderen Mittdreißiger.

    „Genau, der würde einem nur die Schau stehlen, vor allem bei den Mädels.", pflichtete ein weiterer bei und dachte dabei an sein Pferd, seine Yacht und sein Haus.

    „Ich habe ihm letztes Jahr einen Kredit angeboten. Hoher, dreistelliger Millionenbetrag zu unverschämt günstigen Konditionen. Drei Wochen später habe ich ein Fax bekommen. Nicht mal unterschrieben. Von seiner Finanzabteilung. Wulvsen Industries brauche keine Kredite."

    „Können wir den Termin mit Wulvsen nicht noch absagen?", jammerte der Mann.

    „Zu kurzfristig. Außerdem wäre das unhöflich, und Unhöflichkeit kommt bei Wulvsen gar nicht gut, glaube ich.", erwiderte sie Frau kühl.

    „Der ist ja selbst wohl kaum die Höflichkeit in Person."

    „Das ist wohl so, aber er kann sich Unhöflichkeit leisten."

    „Ich habe Schiss, richtig Schiss.", schluchzte der Mann und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

    „So ein Kotzbrocken. Er ist ein Rüpel. Und so was will Doktor sein. Wir hätten ihn rauswerfen sollen."

    „Er ist Wulvsen. Wulvsen wirft man nicht raus, wenn man nicht lebensmüde ist."

    Der Gewerkschaftsmanager lockerte seinen Krawattenknoten, schlug mit dem Kaffeelöffel gegen ein Wasserglas und ließ sich auf einem Stuhl im Sitzungsraum nieder.

    „Kolleginnen und Kollegen, bitte setzt euch.", rief er mit gespielter Fröhlichkeit. Das taten die Kolleginnen und Kollegen dann auch gerne, denn die erwarteten mit Spannung die Informationen über den Ausgang der Verhandlungen.

    „Es ist spät geworden, aber das kennen wir ja von Verhandlungen mit Wulvsen. Vier Uhr morgens und der Mann wirkte immer noch so frisch, als sei er gerade erst aufgestanden. Und dabei saß er uns vollkommen alleine gegenüber., konnte der leitende Gewerkschafter seine Bewunderung nicht ganz verbergen, lachte dabei aber ziemlich gezwungen. Der Mann atmete einmal tief durch. „Er lässt uns als Organisation allerdings nicht in sein Unternehmen. Unruhe machte sich breit, Protestrufe waren zu hören, der Vorsitzende hob beschwichtigend die Hände. „Aber die Räte sind drin, und haben die gleichen Rechte wie in anderen Unternehmen.", versuchte er, Selbstverständliches als Außergewöhnliches zu verkaufen.

    „Es gibt aber keinen Vorstand oder Aufsichtsrat!", rief jemand. Der Obergewerkschafter nickte leicht.

    „Ja, aber die Räte sind wenigstens drin. Ich hätte es jedenfalls vor ein paar Stunden noch nicht für möglich gehalten, dass das ohne juristische Auseinandersetzungen geht.", bemühte der Vorsitzende einen Optimismus.

    „Das ist ja schließlich auch gesetzlich so vorgesehen.", schallte es ihm empört entgegen, so dass er resigniert seinen Kopf einzog.

    Thomas Winter schämte sich. Er war von der Organisation und ihrem Leitungsgremium ausgewählt worden, um mit dem rasant aufsteigenden Stern am Unternehmerhimmel zu verhandeln. Es sollte um das Verhältnis von Wulvsen Industries zu den Gewerkschaften gehen, um Tariflöhne und Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben. Das einzige, was Winter erreicht hatte, war, dass Wulvsen Betriebsräte zulassen würde. Das war zwar ohnehin Gesetz, aber Wulvsen hatte den Eindruck manifest erweckt, dass er darüber eine juristische Auseinandersetzung bis in die letzte Instanz herbeiführen wollte, doch schließlich hatte er sich überzeugen lassen. Das jedenfalls dachte Thomas Winter. Doch in den nächsten Wochen sollte sich herausstellen, dass Wulvsens Weigerung, nicht unbedingt nach Tarif zu bezahlen, sondern, wie er gesagt hatte, nach Leistung, anders gemeint gewesen war, als es verstanden worden war, und genau dieses Missverständnis sorgte im Nachgang dafür, dass Thomas Winter bald zum obersten Gewerkschaftsführer aufsteigen sollte, und das lag im Grunde genommen unter anderem daran, dass Thomas Winter, der Arbeitersohn, dem Konzernherrn bei den Verhandlungen einfach sympathisch geworden war, weil er sich ungekünstelt und geradheraus gegeben hatte und Wulvsen bei der Besprechung mit den Arbeitervertretern fast nostalgische Gefühle beschleichen wollten. Dem Gewerkschafter hatte er das aber natürlich nicht gesagt; weder das mit den Gefühlen noch das mit der Sympathie. Dass Wulvsen es geradezu ein Prinzip war, gute Leistung auch gerecht zu entlohnen, sollte sich jedenfalls erst viel später umfänglich erschließen. Ein Geheimnis blieb hingegen dauerhaft, dass sein Einlenken in der Betriebsratsfrage von ihm kalkuliert, seine diesbezügliche anfängliche Weigerung eine gezielte Finte gewesen war.

    Ein hellbrauner Briefumschlag wechselte seinen Besitzer, indem er über einen Tisch geschoben wurde.

    „Das ist die Anzahlung, zwanzigtausend, wie vereinbart. Lassen Sie sich Zeit, arbeiten Sie gründlich und zuverlässig. Niemand darf Verdacht schöpfen. Sie haben etwa ein Jahr Zeit, dann sollte Wulvsen Industries langsam in ernste Schwierigkeiten geraten." Der neue Besitzer eines hellbraunen Briefumschlags schüttelte leise lächelnd den Kopf und flüsterte:

    „Ich weiß schon, was ich zu tun habe. Ich werde einen schleichenden Prozess vermeiden. Zu viele Angriffspunkte über eine relativ lange Zeit, so etwas weckt Misstrauen, und der Alte ist misstrauisch, das können Sie mir glauben. Wulvsen wird mit einem Knall untergehen."

    Es hatte geklingelt. Eindeutig. Deshalb riss Wulvsen die Augen auf und schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims, was aber wenig nutzte, denn in der Bibliothek war es dunkel. Nicht ganz, aber es brannte nur eine kleine Lampe und die Sonne war längst untergegangen. Mürrisch stand der Industrielle aus seinem Nachdenksessel auf und trat an den Kamin. Einundzwanzigvierzig, also fast mitten in der Nacht. Wer würde es wagen, ihn jetzt noch zu stören, und das unangemeldet? Er hasste unangemeldete Besucher. Beruflich und auch privat. Er hatte gerade eine neue Struktur für Mittelamerika ersonnen, danach hatte er es zugelassen, dass sich das Bild seines Vorzimmers ohne Rehbein, seiner bisherigen Sekretärin, skizzenhaft in seinem Hirn entwickelte, und wollte eigentlich jetzt mal ein paar Minuten gar nicht denken. Der Ruhestörer würde sich warm anziehen müssen. Sehr warm. Er machte die Musik aus. Entschlossen schritt Wulvsen zur Haustür und schaltete einen kleinen Monitor ein. Vor dem Tor stand ein Mensch, den Wulvsen als so ungefähr einzigen in die Kategorie Freund einzuordnen bereit war.

    „Jürgen. Was machst du um diese Zeit hier? Waren wir verabredet?"  Die beiden Männer reichten sich die Hände, wobei Jürgen Link seinen Freund unsicher anschaute und Wulvsen sich nicht zu einem Lächeln zwang, schließlich waren er und Jürgen Freunde und kein Liebespaar.

    „Nein, wir sind nicht verabredet, aber ich muss mit dir reden.", gestand Link. Eine zarte Neugier überdeckte nun Wulvsens Ärger, der ohnehin geschrumpft war, nachdem er gemerkt hatte, dass seinen Freund offenbar etwas bedrückte. Dennoch fand er die Spontaneität und den Zeitpunkt des Besuchs immer noch nicht gut. Sie gingen in die Küche und setzten sich an den leeren Küchentisch.

    „Ein Bier kann ich dir anbieten, aber zu essen ist, glaube ich, nichts da." Link winkte ab.

    „Bier reicht." Wulvsen holte zwei Flaschen und setzte sich Link gegenüber. Eine Weile schwiegen sie trinkend.

    „Was führt dich also zu mir?", fragte Wulvsen nach einer Minute, weil er alles andere für Zeitverschwendung hielt. Entschlossen nahm Link noch einen Schluck aus der Pulle, dann legte er seine Hände auf den Tisch und starrte sie an.

    „Wie du weißt, kümmere ich mich seit einiger Zeit um Obdachlose.", begann er.

    „Hm.", knurrte Wulvsen, weil er genau dies für eine der vielen überflüssigen sozialen Marotten seines Freundes hielt.

    „Den Leuten geht es wirklich dreckig, besonders in der kalten …" Wulvsen machte eine unwirsche Geste.

    „Niemand muss bei uns obdachlos werden, und Arbeit gibt es auch genug; ich weiß das, bin schließlich Unternehmer. Du kennst meine Meinung dazu.", sagte er bestimmt. Link schaute ihm jetzt ins Gesicht.

    „Ja, ich kenne deine Meinung, aber nicht alle sind selbst schuld an ihrer Lage; das ist meine Erfahrung, ich habe dir schon oft davon erzählt."

    „Hast du.", gab Wulvsen zu. Link schaute wieder auf seine Hände, die immer noch auf dem Tisch lagen.

    „Letzte Woche sind zwei Neue bei uns aufgetaucht. Zwei Männer. Beide haben vor kurzem gebaut, beide sind entlassen worden, ohne Abfindung. Von dem Arbeitslosengeld konnten sie ihre Kredite nicht mehr bedienen. Ihre Häuser sind weg, ihre Frauen sind weg, mittlerweile auch das Arbeitslosengeld. Weil sie monatelang versucht haben, ihre Verhältnisse zu ordnen, mit den Banken verhandelt haben, um ihre Familien gekämpft haben, haben sie Vermittlungsangebote der Arbeitsverwaltung nicht angenommen. Die kümmert sich mittlerweile nicht mehr richtig um sie, auch deshalb, weil sie keine feste Adresse mehr haben …" Wulvsen setzte seine Bierflasche geräuschvoll ab.

    „Was habe ich damit zu tun?", fragte er scharf. Link sah ihm in die Augen, die lauernd und eiskalt blickten.

    „Du hast sie entlassen." Wulvsen lehnte sich mit versteinerter Miene zurück.

    „Bist du hier, um mir deswegen Vorhaltungen zu machen? Wenn ich jemanden entlasse, habe ich meine Gründe, das weißt du. Außerdem ist das rechtlich immer vollkommen sauber, auch das weißt du. Ich entlasse Leute nicht aus Jux."

    „Ich weiß, aber Herr …" Wulvsen schnellte vor und näherte sein Gesicht dem seines Freundes.

    „Ich will keine Namen hören, Jürgen. Keine Namen. In meiner Firma gibt es Regeln. Diese Regeln stehen in den Verträgen und in diversen Anweisungen. Außerdem gibt es mich. Wer die Regeln einhält und seine Leistung erbringt, hat nichts zu befürchten …"

    „Du hast manchmal Launen.", hielt Link dagegen. Wulvsens Augen weiteten sich.

    „Das gebe ich gerne zu., rief er. „Das ist ja wohl nur menschlich. Der vorliegende Fall hat aber nichts mit meinen Launen zu tun. Meine Firma ist keine Selbstfindungsgruppe. Ich beschäftige erwachsene Menschen, die in der Regel genug Lebenserfahrung haben, um zu wissen, dass der Chef kein Seelsorger ist. Sein kann. In meinem Fall auch nicht sein will. Das wissen alle, die bei mir arbeiten. Wem das nicht gefällt, der kann gehen; das aber tun erstaunlich wenige, denn ich zahle gut, wie du weißt. Ich entlasse auch verhältnismäßig selten …

    „Du musst ja auch nicht betriebsbedingt kündigen, weil es deinem Konzern und den Töchtern gut geht.", ereiferte sich Link. Wulvsen grinste ihn an.

    „Ist doch schön. Wenn es der Firma gut geht, geht es auch den Beschäftigten gut. Jedenfalls materiell. Alles andere ist Privatsache."

    „Aber diese beiden Männer …" Wulvsen winkte energisch ab.

    „Ich weiß, wen du meinst. Sie haben Fehler gemacht. Nicht einen, Plural. Ich habe sie warnen lassen. Wenn sie sich ihren Aufgaben nicht gewachsen gefühlt haben, hätten sie um Versetzung bitten können; das hätte ich mitgemacht. Haben sie aber nicht, und deshalb mussten sie gehen. Link öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Wulvsen war noch nicht fertig und hob den Zeigefinger. „Von einem erwachsenen Menschen mit halbwegs vorhandener Intelligenz ist zu erwarten, dass er sich selbstkritisch analysieren und einschätzen kann; ferner ist zu erwarten, dass er für sein privates Handeln eine Risikoabschätzung vornehmen kann. Wer sich überschuldet, ist selbst schuld. Jedenfalls darf er sich dann im Job keine Fehler erlauben, die ihn den Job kosten könnten. Diese Erkenntnisse erwarte ich von erwachsenen, gut ausgebildeten Menschen, und solche beschäftige ich ausnahmslos. Link sah seinem Freund in die Augen, nickte traurig und stand auf. Er stützte sich auf dem Küchentisch ab, beugte sich zu Wulvsen und meinte:

    „Manchmal glaube ich, du magst dich noch nicht einmal selbst." Wulvsen lachte trocken.

    „Mit Sympathie hat das nichts zu tun. Mit Sympathie kann man keinen Weltkonzern führen, glaube mir, das geht nur mit kühlem Verstand." Link nickte und verließ mit dem Hinweis, dass er wisse, wo die Tür sei, das Haus.

    Wer ist Doktor Roger Wulvsen? – Von Alfred Kerr

    Dumme Frage, finden Sie? Sie kennen die Antwort? Klar, jeder weiß, wer Roger Wulvsen ist, schließlich haben wir alle mit ihm zu tun. Von Kindesbeinen an. Von der Wiege bis zur Bahre, sozusagen.

    Stimmt, ein Leben ohne Wulvsen-Produkte ist kaum vorstellbar, es sei denn, man lebt völlig autark, baut sein eigenes Gemüse an, züchtet Vieh, kleidet sich mit Selbstgestricktem  aus Wolle von den eigenen Schafen, verzichtet auf Elektrizität und die davon abhängigen Geräte, geht nur zu Fuß, und das nur im eigenen Wald. Aber selbst dann ist nicht sicher, dass Wulvsen Industries nicht doch irgendwo die Finger im Spiel hat.

    Wulvsen bestimmt also unser Leben, mal mehr, mal weniger. Meistens mehr.

    Das, an sich, muss ja noch nichts Schlimmes sein. Zugegeben, Wulvsen ist in manchen Bereichen des Wirtschaftsgeschehens nahe daran, Monopolist zu sein. Wirklich störend ist das bisher nicht gewesen. Nichts deutet darauf hin, dass er seine in manchen Branchen oligarchische Stellung dazu missbraucht, Preise zu diktieren. Noch nicht. Und manches von dem, wo ‚Wulvsen‘ draufsteht, ist ja durchaus nützlich, ja, sogar lebensrettend.

    Aber hier soll es nicht um die Produkte von Wulvsen Industries gehen, sondern um den Mann, der Wulvsen Industries ist.

    Roger Wulvsen ist der einzige Komplementär einer Kommanditgesellschaft ohne Kommanditisten; das heißt, ihm gehört der ganze weltumspannende Laden alleine. Außerdem ist er der einzige Chef; nach seiner Pfeife tanzen alle.

    Und das, das ist mehr Gewissheit als Spekulation, sind nicht nur die Firmenangehörigen.

    Wer hat sich nicht schon einmal über die Körpersprache von Politikern, auch sehr hochgestellten, und anderen Konzernchefs amüsiert, wenn diese in Gegenwart von Roger Wulvsen Fernsehauftritte haben oder sich zum Gruppenfoto aufstellen?

    Ja, Wulvsen versteht es, selbst mit verbundenen Augen und gefesselten Händen, virtuos auf der Klaviatur der Macht zu spielen.

    Bisher allerdings deutet nichts darauf hin, dass er seine Macht missbraucht, und zwar in dem Sinne, dass er dem Volk oder dem Staat schaden würde. Er könnte also vielleicht sogar, wie die Bundeskanzlerin und die Bundesminister, ohne gekreuzte Finger deren Amtseid mitschwören, denn sein Einfluss ist sicher nicht geringer. Vielleicht sollte die Bundesregierung so etwas für Wirtschaftsführer mal in Erwägung ziehen.

    Dass er ein frühkapitalistischer Ausbeuter ist, haben schon viele versucht ihm nachzusagen. Sie sind gescheitert, weil sie dafür keine Belege beibringen konnten. In der Tat lehrt zum Beispiel ein Blick in seine ausländischen Dependancen, gerade die in den Entwicklungsländern, dass sich Wulvsen löblich von der Konkurrenz abhebt. Er zahlt fair und die Arbeitsbedingungen sind ordentlich.

    Andererseits, und auch das ist mehr Gewissheit als Spekulation, beherrscht er seinen Konzern als alleiniger Machthaber im Stil eines autoritären Führers. Manche werfen ihm Diktatur und Tyrannei vor und können allerdings dafür Belege vorweisen.

    Mit oder unter ihm zu arbeiten dürfte also kein Zuckerschlecken sein, aber das kann jeder wissen, der sich auf ihn einlässt; seine Arbeitsverträge sprechen eine deutliche Sprache.

    Vielleicht braucht es einen solchen Charakter, um das zu leisten, was Wulvsen geschafft hat, und das ist ja durchaus anerkennenswert.

    Aus ein paar Familienbetrieben innerhalb weniger Jahre und nahezu ohne Fremdkapital einen Weltkonzern geschmiedet zu haben, ist ohne Beispiel.

    Wir erinnern uns an Entscheidungen von ihm, von denen wir alle annahmen, dass sie das Ende von Wulvsen Industries bedeuteten. Sie haben sämtlich letztlich nur zur Prosperität des Unternehmens beigetragen.

    Wir kommen nicht an Wulvsen vorbei, und damit meine ich nicht nur seine Produkte. Er versteckt sich ja nicht. Er ist zu Gast auf Empfängen, bei Politikern und in den Medien, das aber seltener. Ob er bei den Politikern immer ein gern gesehener Gast ist, kann bezweifelt werden, denn er ist ihnen ja nur zu oft unbequem.

    Roger Wulvsen ist also ein erfolgreicher und mächtiger Unternehmer, der sein Unternehmen, um es euphemistisch auszudrücken, mit harter Hand führt.

    Doch kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: wer ist der Privatmann Roger Wulvsen?

    Um einen bekannten Literaturkritiker zu bemühen: wir wissen es nicht. Jedenfalls fast nicht.

    Bis zu seinem Eintritt ins Geschäftsleben finden sich hier und da Spuren des Menschen Roger Wulvsen. Wir finden sein Bild in einer Festschrift seines Abiturjahrgangs, seine Dissertation findet sich in wissenschaftlichen Bibliotheken und als Restexemplare auch noch im Buchhandel. Eine Menge Freunde scheint er jedoch auch als Schüler und Student schon nicht gehabt zu haben, jedenfalls bekennt sich niemand dazu.

    Festzustehen scheint, dass mit seinem Namen weder Stiftungen noch Vereine in Verbindung gebracht werden können, Veranstaltungen, die dem Amusement oder der Kultur dienen, soll er für Zeitvergeudung halten, sein Leben führt er eher bescheiden, denn er protzt nicht mit auffälligen Immobilien, Yachten oder dergleichen mehr, obwohl er das durchaus könnte.

    Alles weitere ist reine Spekulation.

    Es ist anzunehmen, dass er nicht verheiratet ist und keine Kinder hat. Seine sexuellen Präferenzen sind unbekannt. Die in die Redaktionskonferenz gestellte Mutmaßung, dass die Firma sein Hobby sei, blieb unwidersprochen. Unwidersprochen blieb auch die gar nicht mal flapsig gemeinte Bemerkung, er ginge zum Lachen in seinen Keller. Über seinen Gesundheitszustand gibt es noch nicht einmal Gerüchte.

    Das Einzige, was als fast gesicherte Erkenntnis gelten kann, ist, dass er gerne gut isst.

    Doch das beantwortet die Frage nicht:

    Wer ist Roger Wulvsen?

    Wulvsen ließ die Zeitung sinken. In seinem Kopf spielte sich nun dreierlei ab:

    Zufriedenheit darüber, dass eine Frage nicht hatte abschließend beantwortet werden können.

    Unzufriedenheit darüber, dass der Artikel keinen Anlass für juristische Schritte seinerseits bot. Und Schadenfreude über die Unfähigkeit von Journalisten.

    Das mit den juristischen Schritten würde er allerdings prüfen lassen.

    Die Frau wurde von ihrem Wecker geweckt, worüber sie sehr froh war, denn die Nächte endeten für sie, seit das Kind bei ihr war, nicht mehr so oft mit einem Albtraum. Sie träumte zwar noch diesen schrecklichen Traum, aber es war längst nicht mehr so schlimm wie vorher, vorbei waren die Schreie und die Tränen. Sie ging im Traum einfach souveräner mit den Vorhaltungen der Lehrerin um und das heißt, dass sie sie zunehmend einfach ignorierte. Das Kind schlief noch in seinem Bettchen und die Frau streichelte zärtlich über sein Köpfchen. Sie war sich ziemlich sicher, dass die Kleine maßgeblich damit zu tun hatte, dass sie die Vergangenheit langsam, aber sicher in den Griff bekam; zumindest nachts in ihren Träumen. Möglicherweise lag das an der Erziehungsverantwortung, die ihr zugefallen war, aber sie fand, dass es das nicht alleine war; für sie hing das mit dem Charakter des Kleinkindes zusammen, so seltsam sie das auch finden mochte. Vielleicht würde sie ihr Trauma eines Tages sogar ganz überwinden können. Und vielleicht würde sie sogar dessen eigentliche Ursache beseitigen können. Bei der allmählichen Überwindung des Traumas war ihr ihre Nichte schon jetzt eine unbewusste Hilfe, das wollte sie glauben. Was die Ursachenbeseitigung anlangte, würde das Mädchen in nächster Zeit jedoch keine Hilfe sein können, dafür war es noch zu jung.

    Der Ärger eines ereignisreichen Arbeitstages, an dem er seinen südamerikanischen Leitern erst ihre Bilanzen und dann die Leviten gelesen hatte, der eine unschöne, aber für ihn erfolgreiche Konfrontation mit dem niederländischen Wirtschaftsminister mit sich gebracht hatte, und der konsternierte bis zitternde Abteilungsleiter nach der morgendlichen Lage hinterlassen hatte, musste heraus, und so schlüpfte Wulvsen, sobald er zu Hause war, in seine Laufsachen und lief los. Seine Runde führte ihn an einem Kinderspielplatz vorbei, der menschenleer war, bis auf ein kleines Mädchen mit dunklem, lockigem Haar, das konzentriert etwas im Sand eines Sandplatzes baute. Komisch, dachte Wulvsen, keine Aufsicht weit und breit. Er schüttelte den Kopf über die Nachlässigkeit mancher Eltern, warf dem Kind noch einen letzten Blick zu, erinnerte sich, dass er es schon einmal gesehen hatte und lief seines Weges.

    Dass die Zeit der Routine bald der Vergangenheit angehören würde, deutete sich Wulvsen am nächsten Morgen zart an, denn beim Zähneputzen rekapitulierte er, dass er seit seinem gestrigen Lauf das Bild des einsamen Mädchens einfach nicht mehr aus seinem Kopf bekam.

    Dass seine Gedanken sich verselbständigten, kam so gut wie gar nicht vor, und er glaubte, selbst sein Unterbewusstsein gut im Griff zu haben, so dass das Ergebnis seiner morgendlichen Rekapitulation ihn zu Gegenmaßnahmen im Normalfall veranlasst hätten, und die hätten seinen Denkapparat betroffen. Doch diesmal fasste er einen anderen, und wie sich im Verlauf zeigen sollte, viel weitergehenden Entschluss, und das hatte damit zu tun, dass sich zu dem Bild des einsamen, gelockten Mädchens eines aus seiner eigenen Vergangenheit zuweilen gesellte, das Bild nämlich eines weinenden Mädchens, das lange, glatte schwarze Haare hatte.

    Die Klassenlehrerin verteilte die Arbeiten. Die anfängliche Stille im Klassenraum wich immer mehr einem allgemeinen Geraune, je mehr der kleinen Hefte an die Schüler verteilt wurden. Obwohl Roger Wulvsen sein Heft bereits erhalten hatte, legte die Lehrerin zum Schluss noch ein weiteres Heft vor ihn auf den Tisch. ‚Tanja Kiel‘ stand in ungelenken Lettern auf dem Etikett.

    „Lies uns doch einmal Tanjas Aufsatz vor, Roger.", forderte die Lehrerin ihren besten Schüler auf und grinste hämisch. Roger schlug das Heft auf und erschrak. Wie sollte er das vorlesen? Groß- und Kleinbuchstaben schienen wahllos aneinandergereiht und teilweise verkehrt herum geschrieben. Manche Buchstabenfolge ergab gar keinen Sinn, Sätze waren kaum zu erkennen. ‚Chinesisch‘ nannten sie das.

    Schweißgebadet und mit hochrotem Kopf beendete Roger seine Lesung unter dem Gejohle der Klasse. Außer der Unleserlichkeit dessen, was da auf dem Papier stand, hatte das Gefeixe und das Gelächter, in das er schließlich befreit einfiel, dazu geführt, dass er am Ende kaum noch lesen konnte. Frau Steyer nickte zufrieden, was soviel bedeuten sollte, dass dies ein schlechtes Beispiel für einen Aufsatz war, ein ganz schlechtes, dem nachzueifern sie dringend abriet.

    Ein Mädchen hatte den Kopf in den auf dem Tisch liegenden Armen vergraben und weinte bitterlich.

    Nicht viel anders war es, wenn es darum ging, aus dem Lesebuch vorzulesen. Die Lehrerin wusste, wie sie die Stimmung heben konnte.

    „So, nun zu den Hausaufgaben. Ihr solltet die Geschichte auf Seite 8 lesen. Wer möchte vorlesen? Einige Kinder meldeten sich heftig. Die Lehrerin lächelte süffisant. „Nein Roger, nicht du. Sie wendete sich einem schwarzhaarigen Mädchen zu, das sich jetzt wünschte, nicht anwesend zu sein. „Tanja wird uns vorlesen."

    Nach fünf Minuten grölte die Klasse und das Mädchen weinte hemmungslos.

    Er hasste diesen kleinen Wichtigtuer, diesen Studiendirektor, der sich dazu berufen fühlte, zukünftige Lehrer auszubilden, und in seinen Seminaren nichts anderes tat, als Fachliteratur zu referieren und bei Unterrichtsbesuchen es nicht wagte, den jeweiligen Schulleitern in die Augen zu sehen. Doch nun wurde es interessant.

    Der kleine Studiendirektor war ernst geworden und sah eindringlich in sein Auditorium.

    „Niemals, meine Damen und Herren, niemals dürfen Sie eine Schwäche eines Schülers  vor der Klasse öffentlich machen. Niemals. Sie dürfen niemals einen Schüler bloßstellen. Vor allem nicht vor seinen Mitschülern. Sie glauben gar nicht, was Sie damit anrichten können."

    Eine Hand flog in die Höhe.

    „Ja bitte, Herr Doktor Wulvsen." Der kleine Studiendirektor wurde noch ein wenig kleiner, denn er hatte hohen Respekt vor dem Fabrikantensohn mit dem Doktortitel und das lag im wesentlichen an diesem Titel, aber auch an dem an Arroganz grenzenden Selbstbewusstsein des Doktors.

    „Seit wann ist das pädagogische Erkenntnis?", lautete die knappe Anschlussfrage. Der Studiendirektor sammelte sich kurz.

    „Seit Comenius dürfte das einhellige Meinung sein. Zumindest in der pädagogischen Lehre und Forschung. Das können Sie bei Muth nachlesen. Der Kursteilnehmer nickte. „Gibt es einen besonderen Grund für Ihre Frage, Herr Doktor Wulvsen?, wagte der Kursleiter eine Frage.

    „Nein.", behauptete der Doktor.

    Erst sehr viel später, und zwar während seiner Ausbildung, wurde ihm also wirklich bewusst, hatte er aus berufenem Munde gehört, was er getan hatte; wobei er mitgewirkt hatte, und dass das steyersche ein ganz übles Beispiel für missverstandene Pädagogik gewesen war, und er fühlte sich schuldig, eine Rolle dabei gespielt zu haben, und dazu noch keine löbliche. Doch was hätte er tun sollen mit seinen acht, neun Jahren? Hätte er sich geweigert, hätte jemand anderes gelesen und die Schmach wäre für Tanja die gleiche gewesen. Das Einzige, was er machen könnte, wäre, sich bei Tanja zu entschuldigen. Irgendwann. Das würde sein Gewissen beruhigen und ihr vielleicht ein wenig Mut zurückgeben, den sie in diesen Augenblicken damals scheibchenweise verlor. Aber dafür müsste er sie erst einmal finden und treffen.

    Roger Wulvsen war kein geborener Unternehmer. Zunächst aus kindlichem Desinteresse, und dann aus Gründen jugendlicher Opposition hatte er sich für die elterliche Firma nicht interessiert. Er liebte die Literatur und interessierte sich für gesellschaftliche Zusammenhänge, die, das erkannte er bald, von wirtschaftlicher Tätigkeit nicht nur wesentlich mitgeprägt werden, sondern deren materielle Grundlage diese ist. Diese Interessen führten dazu, dass er seine akademische Ausbildung in Fakultäten absolvierte, in denen Fabrikantenkinder eher selten anzutreffen waren, was seine Integration in gewisse Kreise, denen er sich zunächst gerne zurechnen wollte, nicht einfach machte. Die Vorbehalte der anderen gegenüber seiner Herkunft indes führten bei Roger Wulvsen nicht zu bestimmten Anpassungsprozessen, sondern dazu, dass er, aus einer Art Metasicht, diese Kreise einer genaueren Beobachtung schon bald unterzog. Das Ergebnis war, dass er zwar prinzipiell weiterhin deren Ziele für erstrebenswert hielt, nicht jedoch die vorgeschlagenen Wege dorthin, und die Erkenntnis, dass es eine ganze Menge Menschen in diesen Kreisen gab, die eher wenig authentisch diese Ziele vertraten.

    Er jedenfalls nahm sich vor, diese von ihm für prinzipiell erstrebenswert gehaltenen Ziele in dem von ihm für den einzig vernünftig befundenen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Rahmen, und das wäre der aktuelle und über viele Jahrzehnte bewährte, nicht aus den Augen zu verlieren und, wenn möglich, auch umzusetzen, und dabei möglichst authentisch zu bleiben. Zu dieser Zeit konnte er noch nicht wissen, dass ihm dies auch zu großen Teilen gelingen, er selbst jedoch den Blick hierauf zunächst wesentlich verstellen sollte.

    Zum Ende seines Studiums war er also sozial und politisch ein Heimatloser, was jedoch durch ein tragisches Familienunglück sich ändern sollte.

    Durch jene Tragödie nämlich fiel dem jungen Mann von heute auf morgen Verantwortung zu.

    Und Macht.

    Er musste aus dem Stand sich nicht nur um das mittelständische Unternehmen der Eltern kümmern, sondern ebenfalls noch um die ähnlich großen einiger Verwandter, die auch durch das Unglück betroffen worden waren, und bewies dabei soviel Geschick, dass er innerhalb weniger Jahre hieraus einen internationalen Konzern geschmiedet hatte, dem nichts anderes als Erfolg die Zukunft versprach.

    Ob es die familiäre Tragödie, die unerwartet auf ihn zugefallene Herausforderung, die neue gesellschaftliche Stellung, seine bis dahin nicht erfolgte Festlegung der eigenen Verortung in dem sozialen Gefüge, die eigene Bindungslosigkeit, oder alles zusammen und einiges mehr waren, was seinen Charakter in jener Zeit prägte, kann für das weitere Geschehen als nicht erheblich genug gelten, um hier weiter gründlich analysiert werden zu müssen.

    Fest steht, dass er als junger Mann, fast völlig auf sich allein gestellt, Aufgaben zu bewältigen hatte, an die er zuvor nicht einmal im Traum gedacht hatte und er es mit Menschen zu tun bekam, die er vorher bestenfalls namentlich kannte.

    Jedenfalls entschied er sich, sei es aus Selbstschutz, Unsicherheit oder unbedingtem Erfolgswillen, seinen Weg mit einer gewissen Unnachgiebigkeit zu gehen, was ihm nicht immer Freude oder Freunde machte, die er aber, aufgrund fehlender früherer Festlegungen, ohnehin, mit einer späten Ausnahme, nicht hatte; allerdings fehlten sie ihm auch nicht.

    Diese Haltung erfuhr positive Verstärkung durch den Erfolg, den er zunehmend hatte, und der dazu führte, dass nicht nur er selbst sein Handeln als richtig und zielführend empfand, sondern der auch seine Umgebung veranlasste, über manches an seinem Verhalten hinwegzusehen. Die, die das nicht taten, spielten bald keine Rolle mehr, und nach einer Weile war es dann eindeutig zu spät, daran etwas zu ändern.

    Doch es wäre weit gefehlt zu meinen, er spielte eine Rolle in dem Sinne, dass er den unerbittlichen und unnahbaren Unternehmer nur gab. Er musste nichts spielen.

    Ihm war durchaus bewusst, dass sein Regiment mit früheren Verhaltensidealen wenig zu tun hatte, aber er glaubte,  und das mit einigem Recht, dass er ein gerechtes Regiment führte, wobei mancher Betroffene hierzu sicher eine andere Meinung hatte.

    Roger Wulvsen, der ehedem Heimatlose, hatte sich selbst eine Heimat geschaffen, eine eigene Welt sozusagen, und die war durchaus in der Lage, der übrigen Welt, der Welt der anderen also, ihren Stempel gehörig aufzudrücken.

    Auf jeden Fall setzte er in seinem Imperium um, was er nach wie vor für richtig hielt, nämlich dass jedem Menschen eine Chance zustehe, die dann aber in eigener Verantwortung und unter Respektierung der anderen zu nutzen sei. Dass er hierbei förderte, war allerdings selten offensichtlich, weil er mit seiner Art der Förderung auch immer eine Forderung verband, da diese beiden Aspekte seiner Meinung nach unbedingt zusammengehörten, denn sein Fordern war durchaus dominant und wurde entsprechend wahrgenommen, so dass der andere Aspekt scheinbar bestenfalls ein Schattendasein führte. Hierbei spielte sicherlich sein Charakter eine Rolle, und der verbat es ihm einfach, sein förderndes Engagement zu kommunizieren, weil er auf Lob durchaus verzichten konnte. Doch diese Klandestinie sollte aufgrund späterer, zunächst zaghafter, dann intensiverer sozialer und zwischenmenschlicher Kontakte von ihm nicht aufrecht erhalten werden können.

    Martha verabschiedete sich von den Erzieherinnen und ihren kleinen Freunden und Freundinnen, dann setzte sie sich vor dem Kindergarten auf eine Bank. Ihre Tante würde in ein paar Minuten kommen und sie abholen.

    Sie hatte sich kaum gesetzt, als sie einen Mann mit einem Streifen Stoff um den Kopf in Sportkleidung auf sich zulaufen kommen sah. Er sah kurz zu ihr und lief weiter.

    Martha hatte sich ein wenig erschrocken, als sie seinen Gesichtsausdruck gesehen hatte. Einen Augenblick hatte sie daran gedacht, noch einmal in die Tagesstätte zurückzugehen, aber als er dann vorbeilief und keine weitere Gefahr von ihm auszugehen schien, änderte sie ihre Pläne.

    Ähnlich wie Martha hätten durchaus auch Erwachsene reagiert, wenn Roger Wulvsen mit grimmiger Miene auf sie zugelaufen gekommen wäre, und so hielt sich die Fünfjährige also ziemlich tapfer, als sie der Gefahr trotzte. Doch die Zeit der Prüfungen hatte erst begonnen.

    Bei gutem Wetter sah sie den Mann, dem sie zu diesem Zeitpunkt eher böse als gute Absichten zu unterstellen bereit gewesen war, nämlich fast jeden Tag, immer sah er kurz zu ihr, mitunter verfinsterte sich seine Miene, so dass sie sich hilfesuchend umsah, aber nie passierte etwas, bis er ihr, nach ein paar Tagen, freundlich zuwinkte, was sie beim dritten Mal zögerlich mit einer entsprechenden Geste beantwortete. In der zweiten Woche setzte er sich kurz zu ihr und sprach ein paar Worte mit ihr, was er dann mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder tat. Seine Worte waren gar nicht böse und er hatte eine angenehme Stimme, aber mit Männerstimmen hatte Martha wenig Erfahrung. Und je näher Martha den grimmigen Läufer kennenlernte, desto mehr entzauberte der sich und war dem Kind ein netter Gesprächspartner und Zeitvertreiber. Doch auch er bekam etwas von Martha, ohne es allerdings zunächst zu merken.

    Martha hatte nicht das zweite Gesicht, sie war nicht übernatürlich begabt, oder so etwas. Sie war allerdings sehr intelligent, und sie war sehr interessiert an anderen Menschen, was jedoch nicht mit einer Neugier, die manchmal als unangenehm empfunden wird, verwechselt werden sollte. Ihr reichte es schon, sich mit anderen zu unterhalten, und schon vermochte sie sich ein Bild zu machen, obwohl sie erst fünf Jahre alt war. Später sollte sie diese Gabe durch ein einschlägiges Studium auch auf ein wissenschaftliches Fundament stellen.

    Nachdem Martha nun ihren ersten Schrecken überwunden hatte, begann sie, die Gespräche mit dem fremden Mann zu genießen, denn jedes von ihnen brachte ihr Roger Wulvsen, allerdings auf verschlungenen Umwegen, näher, obwohl ihre Themen von eher kindlicher Belanglosigkeit zunächst waren.

    Ihr Interesse an ihm war schon gerade deshalb geweckt, weil er ihr zunächst einen Schrecken eingejagt hatte, als sie ihn die ersten Male gesehen hatte und weil er sich später in ihren Gesprächen als nett und einfühlsam präsentierte. Und daher legten die ersten Treffen bereits Martha den Gedanken nahe, dass es sich bei dem Fremden um eine -  Martha hätte dies damals anders formuliert, denn ihr Wortschatz war der eines Kindes – mindestens ambivalente Persönlichkeit handelte, obwohl sie Themen wie zum Beispiel Charaktereigenschaften überhaupt nicht ansprachen und auch Wulvsen hierzu einem Kind gegenüber überhaupt keine Veranlassung sah, das sollte erst später kommen.

    Die abendliche Auseinandersetzung mit seinem Freund hatte Wulvsen nicht kalt gelassen, aber dabei ging es ihm weniger um die von Jürgen betreuten Menschen, sondern um dessen Ansatz. Es war auch nicht die erste derartige Auseinandersetzung gewesen, sie hatten eben zu manchen Themen unterschiedliche Auffassungen. Aus diesem Grunde vertieften sie diese Themen bei ihren Zusammenkünften in der Regel auch nicht, aber eben manchmal schon, und dann machten sie sich gegenseitig ihre Standpunkte klar. Da beide keine missionarischen Eiferer waren, hinterließen diese Auseinandersetzungen keine bleibenden Schäden, so dass sie sich danach noch immer in die Augen schauen konnten, dennoch sah sich Wulvsen bemüßigt, seinem Freund seinen Standpunkt noch einmal schriftlich nahezubringen, ohne damit eine Entschuldigung oder Rechtfertigung zu verbinden, denn dazu sah er keinerlei Veranlassung.

    Wulvsen setzte sich also an seinen heimischen Schreibtisch, zog einen Bogen Briefpapier aus einer Schublade, denn er wollte dem Freund handschriftliche Mitteilungen machen, nahm einen teuren Füllfederhalter und begann schwungvoll, Buchstaben zu Wörtern und Worte zu Sätzen zusammenzufügen, die insgesamt einen inhaltsreichen Text ergaben.

    Er warnte Jürgen ausführlich vor den Gefahren der Sozialromantik, Schwerpunkt Romantik, und bot zum Schluss beiläufig an, mal darüber nachdenken zu wollen, ob er nicht in Zukunft darüber nachdenken könnte, Jürgens Projekte zu unterstützen, die dann aber strengstens subsidiär angelegt sein müssten.

    Wulvsen ahnte nicht, wie bald und wie sehr er in solche Projekte verstrickt werden sollte.

    Mit einem Image ist es so eine Sache. Ein Image kann etwas Zutreffendes über einen Menschen aussagen, oder den Menschen verzerren. Ein Mensch kann wesentlich selbst zu der Ausgestaltung seines Images beitragen oder es seinen Mitmenschen überlassen, sich ein solches Bild zu machen. Auf jeden Fall muss ein Image nicht in jedem Fall mit der Realität übereinstimmen, muss nicht alle Facetten eines Menschen berücksichtigen; es kann vorurteilsbehaftet sein, es kann schönfärberisch sein, es kann diskreditieren, es kann überhöhen. Kurz: der Übereinstimmungsgrad eines Image mit dem ihm zugrundeliegenden realen Charakter kann höher oder niedriger sein.

    Bei Roger Wulvsen war dieser Grad sehr hoch.

    Er galt als durchsetzungsstark bis zur Brutalität.

    Er galt als streng bis zur Menschenverachtung.

    Seine strategischen Schachzüge hatten manchmal etwas Intrigantes.

    Seine Unfreundlichkeit nannten manche Verachtung.

    Sein Beharrungsvermögen Sturheit.

    Seine Ausdauer maschinenhaft.

    Seine Ahnungen Hexerei.

    Seine Entscheidungen genial.

    Seine Kompromisslosigkeit autistisch.

    Seine Umgangsformen rücksichtslos.

    Seine Launen cholerisch.

    Seine Art der Unternehmensführung rüpelhaft zu nennen, wäre keine Übertreibung gewesen.

    Roger Wulvsen wusste das alles, und er fand, dass es hinreichend passte, ihn zu charakterisieren. Er war nämlich tatsächlich so, und er dachte gar nicht daran, etwas daran zu ändern, denn sein Erfolg bestätigte ihm jeden Tag, dass er richtig handelte, und er wusste, dass er gewissen Prinzipien folgte, und Ungerechtigkeit konnte man ihm schwerlich vorwerfen, was ihm überaus bewusst war. Den Vorwurf, ein Misanthrop zu sein, hätte Wulvsen energisch und weit von sich gewiesen.

    Ein enorm wichtiger Aspekt, den er selbst nur zu gern verdrängte und an den er nach der ersten Zeit des Erfolgs schon gar nicht mehr dachte, spielte nämlich bei einer solchen Betrachtungsweise, die er sich sehr gerne zu eigen machte, keine Rolle. Dieser Aspekt war der, dass nämlich, als der Erfolg sich einstellte, und Wulvsen auch deshalb seine Verhaltensmuster, denen er eine entscheidende Rolle in seiner Erfolgsgeschichte zuzumessen bereit war, für nicht überdenkenswert hielt, jeglicher Widerspruch langsam aber sicher erstarb. Zunächst in der Firma, dann aber auch darüber hinaus, in der Politik, der Wirtschaft und Gesellschaft, verstummten die, die zu widersprechen anfangs gewagt hatten, dann entweder durch sein robustes Verhalten oder die Tatsache, dass er fast immer Recht behielt, seinen unbedingten Erfolg, oder wegen all dieser Dinge zusammen, entweder resignierten, oder aufgaben, oder einfach begannen, ihn zu bewundern. Seine leitenden Angestellten funktionierten, sie erfüllten die ihnen übertragenen Aufgaben, was wiederum dem Erfolg des Konzerns nicht abträglich war, und das war die Hauptsache. Punktum. Widerspruch wagten sie nicht, was aber den Bilanzen nicht schadete.

    Ihm fehlte also, beruflich wie privat, das Korrektiv, wenn man von gelegentlichem Widerspruch seines Freundes Jürgen und seiner Sekretärin einmal absah; darüber hinaus hatte er schließlich kaum noch ähnlich tiefe soziale Kontakte.

    Ihn störte also nicht, dass er als, um es euphemistisch auszudrücken, schwieriger Charakter wahrgenommen wurde, denn er war ein schwieriger Charakter, und er glaubte, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, dass Ereignisse in seiner Vergangenheit ursächlich dafür verantwortlich gewesen sein könnten und er dadurch den grundsätzlichen Glauben an das Gute im Menschen verloren hatte. Seit dieser Zeit nämlich, so dachte er, ohne das wirklich zu reflektieren, war er seiner Umgebung und seinen Mitmenschen nicht mehr unvoreingenommen gegenübergetreten, war nicht mehr die Blaupause gewesen, auf die jeder seinen Stempel drücken konnte. Seitdem hatte er alles und jeden einer kritischen Betrachtung zunächst unterzogen. So dachte er, und so könnte es tatsächlich gewesen sein.

    Der Kopfmensch Wulvsen fand das alles in Ordnung, und nach seiner Auffassung hätte das auch so weiter gehen können. Doch selbst die souveränsten Machtmenschen sind nicht immer in der Lage, alle Geschehnisse zu steuern. Manchmal merkt selbst diese Spezies nicht, dass ihr Dinge entgleiten, die sie voll im Griff zu haben wähnen.

    Dass er von manchen für einen Unmenschen gehalten wurde, störte ihn zunächst nicht, dann aber, ab einem gewissen Zeitpunkt, schleichend und von ihm selbst fast unbemerkt, immer mehr, so dass er Kompensation darin suchte, zunächst heimlich etwas zu tun, was gemeinhin Gutes genannt wird, und daran war ein kleines Mädchen nicht ganz unschuldig.

    Roger Wulvsen jedenfalls merkte es nicht, und als er es merkte, war es bereits zu spät, aber das machte ihm dann nichts mehr aus.

    „Rück mal, ich lege mich noch zu dir, bis du eingeschlafen bist." Martha machte Platz in dem für sie ohnehin zu großen Bett und Tanja legte sich neben sie. Tanja wusste, dass sie mit ihrer Nichte recht komplizierte Sachverhalte besprechen konnte; Sachverhalte, die selbst für Erwachsene nicht leicht zu durchdringen waren. Martha war zwar erst fünf, aber bei den Elternabenden der Tagesstätte hatten ihr die Erzieherinnen immer wieder versichert, wie intelligent Martha wäre. Und darüber hinaus, wie eine sich mal ausgedrückt hatte. Tanja wusste das. Sie wusste um die Intelligenz ihrer Nichte und sie wusste um das ‚darüber hinaus‘. Martha hatte manchmal etwas Magisches. Den gut gemeinten Rat, Martha auch zu Hause zu fördern, hatte sie schweigend und mit einem Lächeln entgegengenommen, hatte dann versichert, alles zu tun, was sie könnte. Aber das war eben nicht das Optimale. Bei weitem nicht.

    Martha schmiegte sich an ihre Tante.

    „Schade, dass du mir nicht vorlesen kannst."

    „Du wirst bald selbst lesen lernen, in der Schule. Ab dem nächsten Jahr.", sah Tanja in die Zukunft.

    „Schon, dann kann ich dir vorlesen.", schlug Martha vor.

    Die Zeiten, in denen sie sich geschämt hatte, Ausreden erfunden hatte, weil sie ihrer Nichte nicht vorlesen konnte, waren vorüber, was fast ausschließlich der Intelligenz und dem Einfühlungsvermögen Marthas zuzuschreiben war. Es waren bittere Momente gewesen, aber eines Tages hatte Martha gesagt: „Ich verstehe schon. Du musst nicht immer traurig sein deswegen." Und hatte sich an sie gekuschelt.

     „Ja, so machen wir es." Eine Weile schwiegen sie. Dann meinte Martha:

    „Du hast doch was." Tanja sah an die Zimmerdecke, dann auf ihre Hände, die auf der Bettdecke lagen.

    „Ich muss eine neue Arbeitsstelle annehmen.", nuschelte sie.

    „Warum?"

    „Mit den paar Stunden Putzen verdiene ich nicht genug; entweder brauche ich eine mit einer längeren Arbeitszeit, oder ich muss zwei Stellen annehmen. Ich wäre dann häufiger und länger weg."

    „Hm. Wenn es sein muss. Hast du denn schon eine neue Stelle?"

    „Bin noch auf der Suche. - Das beste wäre, wenn ich jeden Tag arbeiten könnte, vielleicht auch abends."

    „Auch Samstag und Sonntag und Ostern und Weihnachten?", fragte Martha erschrocken.

    „Nein., lachte Tanja. „Montags bis freitags, vielleicht auch mal samstags für ein paar Stunden.

    „Dann würde das Geld reichen?"

    „Es wäre knapp, aber es würde reichen, ja. Ich habe alles durchgerechnet." Martha schmunzelte zufrieden, denn rechnen konnte ihre Tante, das wusste sie. Tante Tanja brachte ihr seit einiger Zeit Rechnen bei, so dass sie im Kindergarten hohes Lob erfuhr, wenn es darum ging, spielerisch mathematische Aufgaben zu bearbeiten. Was Martha aber nicht wissen konnte, war, dass Tanja manchmal nicht ganz die Wahrheit sagte. Aber nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus einer Not. Denn Tanjas Putzjob war ihr alles andere als sicher und die Stellensuche gestaltete sich mehr als schwierig, und das hatte beides mit ihrem Handicap zu tun, denn schließlich konnte sie nicht von Tür zu Tür gehen und nach Putzstellen fragen.

    „Wie lange hast du noch?", fragte ihr Mann verschlafen. Rehbein sah ihren Herbert, der im Schlafanzug in der kleinen Küche stand, mitleidig an. Er war schon seit einem Jahr Rentner, stand aber immer noch mit ihr auf. Elke Rehbein schloss die Dose mit den Broten für den Alten. Einmal Käse, einmal Hartwurst, Streichmettwurst und Schokolade, wie fast immer. Manchmal variierte sie aber auch. Damit käme er in der Regel bis zum Abend hin.

    Rehbein schmierte ihm Brote, seit er die Firma übernommen hatte, da waren mütterliche Instinkte durchgekommen, denn in den ersten Tagen war es vorgekommen, dass er bis Feierabend überhaupt nichts gegessen hatte, und so etwas konnte sie nun gar nicht mit ansehen. Sie würde der Neuen sagen müssen, dass er Kaffee verabscheute.

    „Heute kommen meine Nachfolgekandidaten. In sechs Wochen dürfte ich die Dame eingearbeitet haben, dann ist Schluss. Sechs Wochen allerdings nur, wenn er sie in Ruhe lässt. Dagegen aber spricht die Erfahrung." Herbert kratzte sich am Kopf, nahm sie kurz in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

    „Hast wohl recht. Die wird Monate brauchen, um sich an das raue Klima zu gewöhnen, wenn sie es denn je schafft." Elke Rehbein seufzte und wendete sich wieder der Kaffeemaschine zu und konnte natürlich nicht wissen, dass es etwas anders kommen würde, als sie sich das dachte.

    Ella Olsson, Anfang zwanzig, intelligent, strebsam und aus Schweden, fuhr sich mit den Fingern der rechten Hand durch die widerspenstigen rotblonden Locken, während sie in den kleinen Spiegel in dem winzigen Bad des schuhkartongroßen Zimmers im Gästehaus des Konzerns schaute. Die Locken waren nicht zu bändigen, nur eine Kurzhaarfrisur könnte Abhilfe schaffen, gefiel ihr aber nicht. Sie hatte weder die Augenbrauen nachgemalt, noch ihre Wimpern verklebt; auch würde sie keinen Lippenstift benutzen oder gar Rouge auflegen. Sie sollten sie sehen, wie sie war, und dazu gehörte eine bequeme Hose und ein Pulli, kein Rock, kein Kleid, keine Bluse. Ihr einziges Zugeständnis war ein Jackett. Wenn sie mich nicht nehmen, dann nicht, dachte sie. Ich verbiege mich nicht. Sie verließ das Bad und zog sich ihre weichen, bequemen Wildlederschuhe an. Auch Pumps kamen nicht in Frage.

    Ella Olsson hatte sich diesen Schritt wohl überlegt. Es wäre an der Zeit, mal aus Skandinavien herauszukommen, diese Länder kannte sie gut genug. Sie war zwar in ihrem jungen Leben schon verhältnismäßig viel gereist, doch beruflich war sie irgendwie in Schweden hängengeblieben, und bei Wulvsen. Wulvsen Industries, dachte sie, eigentlich ist das eine etwas irreführende Bezeichnung, denn Wulvsen bestand schon lange nicht mehr nur aus Industrie. Die schwedische Niederlassung war noch ziemlich jung gewesen, wie sie selbst, als sie damals dort anfing, und dann war allen fast schwindlig geworden, als weitere Niederlassungen, Werke, Zentralen in den nordischen Ländern wie Pilze aus dem Boden schossen. Aber nicht nur dort. Ella sah ihre Chance, quasi in der Mitte dieses weltweiten Spinnennetzes zu arbeiten, in der Zentrale der Zentralen, am Puls des Konzerns sozusagen. Sie glaubte, das wäre interessant, spannend, und damit sollte sie auf jeden Fall recht behalten.

    In der Etage darunter mühte sich Hubert Kahl mit einer dezent-eleganten Seidenkrawatte ab. Mit nervösen Fingern zog der junge deutsche Mann den Knoten zusammen, prüfte die Länge des Binders, schüttelte missmutig den Kopf und löste wieder alles. Er bekam die richtige Länge einfach nicht hin. Entsetzt stellte er fest, dass der Kragen des neuen weißen Hemdes schon durchgeschwitzt war, und er atmete ein paar Mal tief durch, um ruhig zu werden. Die Haare würde er auch noch einmal kämmen müssen. Gut, dass er sie schwarz gefärbt hatte, denn seine natürliche Haarfarbe war eher nichtssagend. Wenn alles klappte, würde er sich jeden Tag so herausputzen müssen, aber er war bereit, dieses Opfer zu bringen; schließlich war es sehr ungewöhnlich, sich als Mann für eine Vorzimmertätigkeit zu bewerben, aber das betrachtete Hubert lediglich als Episode seines weiteren Karrierewegs.

    Beim nächsten Mal klappte es, der Binder saß; jetzt hieß es nur noch, diese schrecklich unbequemen Schuhe an die Füße zu bringen. Aber: seine Karriere würde es ihm danken.

    In der Etage über Ella prüfte Tonia Esteban mit einem kritischen, aber entspannten Blick den Sitz ihrer Brille, den Effekt ihres Lippenstiftes und die Tönung des Puders auf ihren Wangen. Perfekt. Die schwarzen Haare hatte sie zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengerafft, der von einer eleganten Spange gehalten wurde. Sie zog ihr schwarzes Kostüm zurecht, das wunderbar mit ihrer perlenweißen Bluse kontrastierte. Ein silbernes Kettchen krönte ihren Ausschnitt. Mit Freude schlüpfte sie in die neuen, hochhackigen Schuhe, die etwas über ihre geringe Körpergröße hinwegtäuschten, und ging ein paar Schritte. Am liebsten hätte sie sich noch eine Brosche angesteckt, doch sie wollte nicht übertreiben. Sie würde sich jetzt nicht mehr setzen, weil ihre Kleidung sonst knittern könnte. Sie mochte das nicht. Nicht für andere, sondern für sich. Tonia Esteban war etwa so alt wie ihre Konkurrentin aus Schweden und hatte eine ähnliche berufliche Karriere hinter sich, und zwar ausschließlich bei Wulvsen Industries und fand es an der Zeit, sich geografisch und beruflich zu verändern. Die beiden Frauen unterschieden sich also rein äußerlich und in einem Teil ihres Charakters, aber beide  hatten sich für diesen neuen Job beworben, und zwar aus ehrlichem Interesse.

    Esteban war in Mexiko geboren, aufgewachsen und im Grunde bisher aus diesem Land auch noch nicht herausgekommen, wenn man von kurzen Aufenthalten in den Vereinigten Staaten absah. Das sollte jetzt anders werden, sie würde ihr Stupsnäschen mal ganz keck in die große, weite Welt stecken und dabei lernen und sich entwickeln. Wenn sie den Job denn bekäme.

    Die Beamtin schob Tanja ein Formular über den Tisch.

    „Das müssten Sie dann noch unterschreiben.", meinte sie formell.

    „Wo soll ich unterschreiben?" Tanja zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Nur jetzt nicht nervös werden. Scheinbar interessiert betrachtete sie das Blatt Papier und nahm einen Kuli zur Hand. Die Offizielle wies auf das Papier.

    „Unten rechts." Sie tippte mit dem Finger auf die Stelle. Sicherheitshalber machte sie noch ein Kreuz neben die entsprechende Zeile, schließlich kannte sie ihre Kundschaft.

    „Wollen Sie sich das Formular denn nicht erst durchlesen?", fragte die Beamtin verblüfft.

    „Das ist doch sicher nicht nötig.", war die staatstragende Antwort. Dann sah sie sehr genau zu, wie Tanja Unleserliches neben das Kreuz malte.

    Die große, schwarze Limousine mit den abgedunkelten hinteren Scheiben näherte sich der Konzernzentrale, wie fast jeden Tag, auf einer Nebenstraße, bog dann auf eine Rampe, die in eine Tiefgarage führte, hielt kurz, bis das Rolltor sich geöffnet hatte, und glitt dann nahezu lautlos hinab. Dieser Teil der Garage war für den Chef und seine persönlichen Besucher reserviert und daher von dem anderen Teil sicht- und blickdicht durch Betonmauern abgetrennt. Die Limousine war das einzige Fahrzeug, außer einer weiteren, identischen, in diesem unterirdischen, großen Raum.

    Der Chef hatte sich vor langer Zeit gegen einen Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach des Verwaltungshochhauses entschieden – „Zu auffällig, dann weiß ja jeder, wann ich komme.", hatte er gesagt, und die Tiefgarage vorgezogen, durch die er eben unauffällig sein Büro erreichen konnte.

    „Morgen wird unsere letzte Fahrt, Chef.", erklärte der Fahrer in grauem Anzug und Krawatte, bevor er den Motor ausmachte und um das Fahrzeug herumging, um seinem Fahrgast die Tür routiniert zu öffnen. Er sah in den Rückspiegel und wartete auf eine Reaktion. Der Mann im Fond sah ihn überrascht an.

    „Was heißt das denn?", fragte der.

    „Mache morgen meinen Letzten." Die Männer sahen sich in die Augen. Der Fahrer sah in graue und der Herr von hinten in braune.

    „Rente, oder habe ich Sie gefeuert?" Die grauen Augen legten sich ein wenig in Falten und der Fahrer lachte kurz.

    „Rente."

    „Und das sagen Sie mir erst jetzt?" Der Fahrer lachte wieder, hatte aber nicht bemerkt, dass der Alte ehrlich erschrocken geklungen hatte.

    „Das wissen Sie doch schon seit einem halben Jahr." Er zog den Zündschlüssel und stieg aus.

    „Wir bleiben in Kontakt., versprach der Herr im dunklen Dreiteiler, als sie sich gegenüberstanden. „Mit Ihnen kann man so gut über Autos fachsimpeln. Und nicht nur das. Er schlug seinem ergrauten Mitarbeiter freundschaftlich auf die Schulter und wandte sich zum Lift.

    „Bis später."

    Der Chef betrat den Lift, den er mittels eines kleinen Schlüssels in die Tiefgarage geholt hatte, und der nur für ihn reserviert war. Dieser Lift hielt nur dort, wo der Chef ihn

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