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Der Nobelpreis
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eBook364 Seiten5 Stunden

Der Nobelpreis

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Über dieses E-Book

Einem Eremiten wird an Heiligabend eine Kleinstfamilie vor die Tür gestelllt, von der die Hälfte tot ist. Zwei Pornodarstellerinnen wollen oder können ihre Arbeitsverträge nicht mehr erfüllen, deshalb irrt ein stummer, aber großer Indianer kaugummikauend durch das Gebirge. Ein geistigen Getränken zugetaner Chemiker mit Prüfungsangst überwindet seinen inneren Schweinehund. Das Ganze ist preisverdächtig.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum2. Dez. 2014
ISBN9783737520607
Der Nobelpreis

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    Buchvorschau

    Der Nobelpreis - Reiner W. Netthöfel

    Der Nobelpreis

    Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihren Leib und mit einem Mal war sie hellwach. Sie zog die Beine an den Oberkörper und merkte, dass sie schweißgebadet war, gleichzeitig war ihr kalt, sie zitterte am ganzen Körper. Ihr wurde schlecht. Mit flatternder Hand tastete sie nach dem Lichtschalter. Wieder durchschoss ein Schmerzblitz ihren Leib, so dass ihre Hand vom Schalter zurückzuckte. Sie schaltete mit der Fernbedienung die Klimaanlage aus, sofort floss noch mehr Schweiß, also schaltete sie sie wieder an. So schlimm war es noch nie gewesen. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen, zu groß war die Angst vor einer neuen Schmerzattacke. Sie hyperventilierte. Bittebittebitte. Sie versuchte, gleichmäßig zu atmen, versuchte sich zu beruhigen. Sie biss ins Laken. Sie versuchte zu beten, doch das hatte sie noch nie gekonnt, hatte sie nicht gelernt. Oder wieder verlernt. Nach einer endlosen Viertelstunde glaubte sie endlich, sich bewegen zu können, ohne dass sie vor Schmerzen ohnmächtig werden würde.

    Nach den Schmerzen kam die Angst. Die Angst vor der nächsten Schmerzattacke und die Angst vor dem, was dahintersteckte. Sie wusste nicht, welche Angst schlimmer war. Die erste Angst war in ihrem Kopf, die zweite Angst begann jedoch ganz langsam im Unterleib und arbeitete sich eiskalt durch Darm und Magen, bis sie von unten in Form von Unverdautem an ihr Zäpfchen klopfte.

    Die Musik war unüberhörbar, aber er nahm sie nicht wahr. Er saß in seinem Sessel, die Füße auf dem niedrigen Couchtisch, und dachte mit geschlossenen Augen nach. Die Zeiten, in denen er mit Wehmut an verpasste Chancen, Komplotte und Intrigen hatte denken müssen, hatte er glücklicherweise hinter sich gelassen, er dachte nicht mehr mit Bitternis zurück an die schlimme Zeit, wo wissenschaftlicher Ruhm und zugleich ein Stück Erlösung für die Menschheit zum Greifen nah gewesen, aber beides dem Wohl des schnöden Mammons geopfert worden war. Es war das zweite Weihnachtsfest, das er allein hier oben verbrachte, aber das störte ihn nicht. Später würde sein Sohn anrufen, und er würde Timo erklären, dass alles in Ordnung sei, was natürlich stimmte, aber auch wieder nicht. An den Maßstäben gemessen, die er selbst noch vor gut drei Jahren angelegt hätte, wäre nichts in Ordnung, aber die Maßstäbe hatten sich verändert. Nun hatte er, was er sich für seinen Ruhestand immer gewünscht hatte: eine Berghütte und seine Ruhe. Nur dass er eben nicht im Ruhestand war. Jedenfalls nicht in einem, den man nach einem verdienten Berufsleben verlebte, denn er war noch zu jung und er hätte noch viel vorgehabt. Das Beste sozusagen. Aber es war anders gekommen. Dennoch hatte er sich arrangiert. Die hölzernen Wände, das Knistern des Holzes im Kachelofen, das schummrige Licht, das eine einsame Stehlampe verbreitete und die dicken Dielen hatten einfach eine beruhigende Wirkung, ebenso wie der Wind, der ums Haus pfiff. Das Haus war aus Bruchsteinen gebaut und hatte ein flaches Satteldach. Eigentlich war es zu groß für ihn, aber es war gut, ein eigenes Schlafzimmer und ein Gästezimmer zu haben, falls sein Sohn einmal zu Besuch kam, was viel zu selten passierte. Aber er beschwerte sich nicht. Schließlich hatte es an ihm gelegen, dass sein Sohn seine Ausbildung im Ausland beenden musste. Wohnzimmer und Küche waren eins, im Keller befand sich ein Arbeitszimmer. Behaglich streckte der Mann seine beachtlichen Beine aus. Ein Ast brach draußen unter der Schneelast.

    Dieser Ast, über das eigene Gewicht zusätzlich belastet mit Schnee, hätte nun, bei einem Zusammentreffen mehrerer unglücklicher Umstände, eine unvollständige Kleinfamilie, die zweifüßig der erleuchteten Haustüre zustrebte, unter seiner Last, die durch auf ihm liegenden Schnee nicht unbeachtlich war, dahinraffen können, tat es aber nicht, weil die unglücklichen Umstände etwas anderes zu tun hatten als sich zu treffen.

    Diese Kleinfamilie bestand nämlich aus einer jungen Frau und ihrer noch jüngeren Tochter, die schon den ganzen Tag durch kniehohen Schnee gestapft war. Ihr unbestimmtes Ziel lag, von ihrem ursprünglichen Ausgangspunkt betrachtet, irgendwo im Westen, doch war es ohne Hilfsmittel im Gebirge nicht immer einfach, einer bestimmten Himmelsrichtung zu folgen, weil die Wege, Steige und Pfade oftmals um die Berge herumführen und eine Positionsbestimmung notwendig wird. Dann war sie in der Dunkelheit auch noch von den ohnehin kaum erkennbaren Wegen abgekommen und hatte auch nicht mehr dahin zurückgefunden. Nahe daran aufzugeben, hatte sie dann eine gedämpfte Musik vernommen, war den Klängen, die nicht sehr harmonisch oder gar weihnachtlich waren, nachgegangen und hatte dann zwischen den schwarzen Baumstämmen ein schwaches Licht entdeckt. In diesem Moment musste ihre Tochter wohl aus dem Leben geschieden sein, doch das merkte die Mutter erst, als sie im Licht der Außenlampe vor diesem massiven Haus mit dem flachen Dach stand. Mit letzter Kraft klopfte sie an die Tür.

    Es kratzte mehr an der Tür, als dass es klopfte, dennoch war er sofort alarmiert, er schaltete von Kontemplation auf Alarm. Er stellte das Denken zwar nicht ein, aber um. Er riss die Augen auf und nahm die Füße vom Tisch. Wer sollte ihn hier, in eintausenddreihundert Metern Höhe, am Heiligen Abend, um einundzwanzig Uhr, aufsuchen wollen? Er stemmte sich aus seinem Sessel und stellte die Musik ab. Zooma von John Paul Jones war eine ungewöhnliche Weihnachtsmusik, aber das passte zu ihm. Schließlich war er in dieser Gegend auch eine Art Fremdkörper. Er schaute durch das kleine Fenster neben der Haustür und entdeckte im Licht der Außenlampe eine kleine, krumme Gestalt, die völlig vermummt schien. Kein Wunder, bei den Temperaturen; hier oben lag Schnee und es waren einige Grade unter Null. Sein erster Gedanke war, die Gestalt fortzujagen, wie er es üblicherweise tun würde. Doch etwas stimmte ihn um. Die Person dort draußen im Dunkeln wirkte hilflos, verzweifelt, desorientiert. Dass Heiligabend war, interessierte ihn nicht, aber er konnte diesen Menschen nicht abweisen. Vielleicht war der Mensch krank? Auf jeden Fall war es sehr ungewöhnlich, dass sich jemand an diesem Abend um diese Zeit bei diesem Wetter hier her verirrte.

    Er öffnete die Tür und die Gestalt davor wich ein wenig zurück, um nicht von dem Türblatt getroffen zu werden. Die Gestalt vor der Tür hob den Blick in die Waagerechte und erblickte eine Gürtelschnalle, was nur teilweise dadurch zu erklären war, dass der dazu gehörende Hosenträger eine Stufe höher stand als der späte Gast.

    Es hatte aufgehört zu schneien, dennoch war die Kleidung der Person weiß überzogen, was der Mann gefrorener Feuchtigkeit zuzuschreiben geneigt war, außerdem war er sich ziemlich sicher, dass der Tremor, von dem dieser Mensch erfasst zu sein schien, von der Kälte rührte.

    Knapp außerhalb des Lichtscheins der Außenlampe gewahrte der Mann einige Tiere, die durch den Schnee liefen.

    Die Frau, denn um eine solche handelte es sich ganz offensichtlich, hob den Blick weiter und er konnte nun in ein hübsches, aber verzweifeltes Gesicht sehen, dessen große, schwarze Augen ihn flehend und ängstlich ansahen. Die Gesichtsfarbe der Frau gefiel ihm überhaupt nicht. Die Frau streckte ihm ihre Arme entgegen, in denen sich ein Bündel befand. In diesem Bündel wiederum befand sich ein winziges, und wie es schien schlafendes Gesicht.

    „Bitte.", sagte die Frau nur. Er änderte seinen Modus erneut, diesmal war Aktivität gefragt, denn möglicherweise ging es um Leben oder Tod. Seine Zeit als Notarzt nach der Ausbildung machte das möglich; er hatte gesehen, dass das Wesen, zu dem das schlafende Gesicht gehörte, offenbar nicht atmete, es sich insofern nicht um ein schlafendes, sondern um ein totes Gesicht handelte. Er nahm das Bündel rasch, eilte in das Haus, schaltete im Vorbeigehen die Deckenbeleuchtung ein und legte es auf den großen Tisch, der inmitten der großen Wohnküche stand, die fast das gesamte Erdgeschoss des einfachen Hauses füllte. Mit einer Geste bedeutete er der Frau, hereinzukommen und die Tür zu schließen. Ein Kachelofen spendete trotz der winterlichen Außentemperaturen wohlige Wärme.

    Er wickelte das Kind, denn um ein solches handelte es sich bei genauerer Betrachtung bei dem Bündelinhalt, aus eben diesem und legte eine Hand auf den winzigen Brustkorb, der sich aber gar nicht regte, dann beugte er sich über es und öffnete den Mund des Kindes. Er sah zu der Frau, die nach wie vor krumm und zitternd mitten im Raum stand.

    „Wie lange schon?", fragte er mit dröhnender Stimme. Die Frau sah ihn an. Sie hatte ihn offenbar nicht verstanden. Er wiederholte seine Frage in anderen Sprachen, aber die Verständnislosigkeit hielt an. Hilflos deutete sie nach draußen und sah ängstlich zu dem Kind. Zaghaft trat sie einen kleinen Schritt näher und blickte fragend den Mann an. Der weiße Überzug auf ihrer Kleidung war geschmolzen, aber ihr Gesicht war immer noch grau.

    Der kleine Körper war noch warm, sehr warm, und so begann er unverzüglich. Er benutzte nicht die ganze Hand, um das Herz zu massieren, das wäre auch gar nicht gegangen, denn seine Hand hätte den gesamten Oberkörper des Kleinkindes bedeckt; so nahm er zwei Finger. Er drückte fünfzehn Mal und beugte dann seinen Kopf über den Kindskopf, um seine Lippen auf den Mund des Kindes zu drücken und seine Atemluft vorsichtig in die kleinen Lungenflügel zu blasen. Die Frau wusste nicht, was sie machen sollte. Sie sah ihr Kind unter den riesigen Händen, sah, wie zwei große Finger die Brust des Kindes drückten, sah, wie sich sein Kopf über das kleine Gesicht beugte, konnte aber nicht das Schlimmste ahnen, denn das war ja schon passiert, hatte Vertrauen zu dieser wildfremden, furchteinflößenden und gleichzeitig Hoffnung spendenden Person und tat das, was noch nie geholfen hatte: sie sandte ein Stoßgebet irgendwohin.

    Schon beim ersten Mal klappte es. Die Lebensgeister des Kindes, die nicht draußen in der Kälte bleiben mochten und einfach unbemerkt mit in die Hütte geschneit waren, kehrten zurück in die Hülle, die ohne sie nur ein kleiner Leichnam gewesen wäre, wo sie aber hingehörten, gezogen von etwas, das Überlebenswille genannt werden konnte. Das Kind, es mochte ein halbes, oder ein Jahr alt sein, schlug die Augen auf und begann alsbald zu weinen. Zufrieden lächelnd stützte sich der große Mann, immer noch über das Kind halb gebeugt, auf der Tischplatte ab und sah die Frau an, die mittlerweile ihren Kopf von Tüchern befreit hatte, die lange schon nicht mehr wärmten, weil sie völlig durchnässt waren, und lange, schwarze Haare und ein hübsches Gesicht offenbarte, in das jetzt ein wenig Farbe zurückgekehrt war.

    Ihre Figur war von einer fast asiatisch anmutenden Zierlichkeit.

    Sie starrte auf das Kind, das jetzt nicht mehr weinte, und ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht.

    „Frohe Weihnachten.", sagte er lächelnd und bemühte dabei Volkstümliches, erntete aber nach wie vor Unverständnis. Die Frau stürzte zum Kind, nahm es auf die Arme, küsste es und wiegte es hin und her. Dann hielt sie inne, trat zu dem Mann, murmelte etwas und strich ihm über die Hand, die noch immer auf dem Tisch lag.

    In diesem Augenblick spürte er einen starken Drang, diese fremde Frau zu küssen, unterließ es aber, wie er meinte, aus Taktgefühl.

    Jetzt galt es, das Kind lauwarm zu baden und Ess- und Trinkbares zu organisieren, das kleinkindgerecht wäre und die Körpertemperatur der Mutter zu erhöhen. Gar nicht so einfach in einem Junggesellenhaushalt in alpenländischer Wildnis. Aber er hatte Milch, Mehl, allerlei Eingemachtes, und so sorgte er, während die Frau das Kind badete, unerwarteterweise für ein ungeplantes Heiligabendmenü.

    Er hatte bereits allerlei Speisen und Getränke auf dem Tisch versammelt, und auch den Getränken einige stärkende Tropfen beigemengt, als die Frau, die sich als schlankes Persönchen mit einem feinen Gesicht, in dem zwei pechschwarze Augen glänzten, und das landesuntypisch mittlerweile einen etwas dunklen Teint hatte, mit ihrem Kind auf den Armen aus dem Bad wankte, ihn ansah und etwas murmelte. Sie war ärmlich und ungewöhnlich gekleidet, trug offenbar mehrere bodenlange Röcke übereinander, die allesamt durchnässt schienen. Ihre billige, wattierte Jacke lag auf der Ofenbank. Zu seinem Entsetzen trug sie Turnschuhe. Er zog die Brauen zusammen, nahm ihr das Kind ab, bedeutete ihr nachdrücklich, sich an den Ofen zu setzen und zu essen, und machte sich dann an einem Schrank zu schaffen, aus dem er bald ein weißes Laken zog, das Kind aus seinem nicht mehr sauberen Bündel schälte und es gekonnt derart in das Laken schlug, dass es das Kind wärmend umhüllen konnte. Das kleine Mädchen lächelte ihn an. Er sah in das kleine Gesicht, lächelte zurück und stupste eine kleine Nase mit seinem Daumen. Er reichte der Frau das Kind und verschwand dann in einer Ecke des Raumes, wo eine Treppe in eine unbestimmte Tiefe führte. Er kam mit ein paar Kleidungsstücken zurück, nahm der Frau das Kind wieder ab, schob die Frau ins Bad, drehte die Dusche auf und legte die Kleidung auf einen Hocker. Nach einer Weile kam die kleine Frau mit einem zu großen Jogginganzug und auf dicken Socken wieder in die gemütliche Stube und sah ihn dankbar an. Sie duftete nach Seife und ihre Wangen waren gerötet, was ihr gut stand, wie er fand. Dann setzte er sich zu der Frau an den Tisch und nickte ihr aufmunternd zu. Das Kind hatte die ganze Hektik stoisch und mit großen, dunklen Augen über sich ergehen lassen, ohne sich zu beklagen, was der Mann angesichts der Tatsache, dass die Kleine für eine kurze Zeit den Hades bereits überschritten hatte, ganz beachtlich fand.

    Zögernd griff die Schlanke langfingrig zu, warf hin und wieder einen Blick auf den großen Mann, der trotz seines vermuteten Alters recht sportlich wirkte, der ihre Tochter in seinen riesigen Händen auf seinem Schoß hielt und ab und zu Bier aus einer Flasche trank. Er hatte sein graues Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, der in seinen Nacken fiel. Ein kurzer, grauer Bart umrahmte sein Gesicht, der allerdings zur Mitte des Gesichts hin dunkler wurde; der Schnurrbart schließlich war fast schwarz, ebenso wie die geschwungenen Augenbrauen über den dunklen Augen, die ihn etwas erstaunt oder auch zornig aussehen ließen. Die bedeutenden Unterarme und die Handrücken waren schwarz behaart. Sein Alter konnte die junge Frau nicht schätzen; er konnte unter fünfzig, aber auch über sechzig sein. Er erinnerte sie an einen Schauspieler, den sie mal auf Filmplakaten gesehen hatte. Irgend ein Mönch … Auf jeden Fall stand für sie fest, dass sie, und ganz gewiss ihre Tochter, diese Nacht ohne diesen Mann nicht überlebt hätte.

    Diese Schmerzattacke, eine von vielen in letzter Zeit, hatte sie überlebt. Sie kniete vor dem Toilettentopf und würgte ein letztes Mal; es kam nur noch Schleim. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, stand aber noch nicht auf. Sie fühlte sich dazu einfach noch nicht in der Lage. Magenkrämpfe kannte sie, seit sie diese Scheißkrankheit hatte, aber in den letzten Wochen war das anders geworden. Anders in einer Art und Weise, die ihr Angst machte. Die Krämpfe kamen häufiger und sie waren heftiger, und der Schmerz war ein anderer als der, den sie kannte, den sie gewohnt war. Die Schmerzen, die meist nachts kamen, waren das Eine. Die kalte Angst, die zwar sicherlich mit den Attacken zusammenhing, aber ihre Hauptursache in einer Bemerkung ihres Arztes hatte, fing an sie zu lähmen. Sie hatte nicht vor, mit Mitte zwanzig zu sterben. Noch nicht. Noch nicht.

    Wohlgefällig beobachtete er nun, wie die Frau erst zögernd, dann aber offensichtlich sehr hungrig zugriff und dabei das Kind fütterte.

    Nachdem die Frau und offenbar auch das Kind, das einen Brei und Butterbrote, an denen es mehr lutschte als biss, bekommen hatte, gesättigt waren, begann er, mit der Frau zu sprechen, doch ohne Erfolg. Die Frau schien zwar keine Angst zu haben, verstand ihn jedoch nicht, wollte aber auch nicht in ihrer Sprache mit ihm reden, so dass er nach einer Weile verstummte, da er langes Reden ohnehin nicht mehr gewohnt war. Sorge bereitete ihm ein leichtes Hüsteln der Frau und ein offenbar spontaner Schweißausbruch auf ihrer Stirne, auf die er daher bald diagnostisch seine Hand legte.

    Mitten in die eingekehrte Stille hinein meldete sich ein Telefon, so dass er seine Untersuchung kurz unterbrach. Der Mann sah sich um und legte dann das mittlerweile schlafende Kind, das zuvor auf seinen Schoß gekrabbelt war, in die Arme seiner Mutter. Das Gerät fand er schließlich auf der Couch.

    „Timo! Es ist schön, dass du anrufst." –

    „Ja, selbst ich weiß, dass Weihnachten ist." –

    „Danke, mir geht es gut. Wann hast du deine Prüfung?" –

    „Ich weiß, dass ich dich das ständig frage, aber ich bin eben etwas nervös." –

    „Oh, keine Sorge, ich habe Besuch. – Timo, bist du noch da?" –

    „Tja, es ist etwas sonderbar. Es handelt sich um eine junge Frau mit einem Kleinkind." –

    „Sie stand vor der Tür, ich konnte sie schließlich nicht wegschicken, oder?" –

    „Was soll das denn heißen?" –

    „Ich weiß nicht, wie sie heißt und woher sie kommt." –

    „Auf die Idee bin ich auch schon gekommen, stell dir vor. Sie versteht mich nicht und ich verstehe sie nicht." –

    „Ich vermute, dass sie auf der Suche nach Glück etwas vom Wege abgekommen ist." –

    „Vermutlich Südosteuropa." –

    „Das werde ich schon noch herausfinden." – Der Mann lauschte und schaute die schmale Frau in seinem Hause an, dann schaute er auf das Kind, das trotz seiner dröhnenden Stimme immer noch schlief. Ein warmes Gefühl durchdrang ihn.

    „Es ist schön, Timo., sprach er jetzt leise. „Ich habe es fast drei Jahre nicht vermisst, aber nun … Es tut gut, jemanden hier zu haben, jemanden, für den man sorgen kann, verstehst du?

    „Ja, ich halte dich auf dem Laufenden. Wir müssen erstmal Kleidung besorgen, und Babynahrung, Spielzeug … Ja, ich gehe mit ihr zum Landratsamt … - Was sagst du? – Hahahahaha. – Tja, wenn du meinst … für den Fall der Fälle … Okay, wenn es sein muss, heirate ich eben … Du meinst es ernst? – Tja dann … Dann hast du eine Mutter und eine Schwester … ja." Schmunzelnd legte er auf. Sein Sohn hatte manchmal ganz gute, praktische Ideen.

    „Das war mein Sohn., erklärte er seinem Besuch lächelnd und deutete mit langem Finger auf das Telefon. „Er heißt Timo. Die Frau deutete mit dünnem Finger auf ihr Mädchen.

    „Sofia.", sagte sie leise. Erfreut setzte sich der Mann zu der Frau.

    „Dein Mädchen heißt Sofia?" Die Frau nickte. Der Mann zeigte auf sich.

    „Ich bin Max.", gab er bekannt.

    Sehr weit entfernt blinzelte ein sehr großer junger Mann in die warme Nachmittagssonne. Wieder ein Heiliger Abend unter Palmen. Irgendwie passte das nicht. Erneut hatte er es nicht geschafft, Weihnachten bei seinem Vater in der Hütte zu verbringen, aber bei Paps schien sich Erstaunliches zu tun. Das war ein Ding. Ausgerechnet Paps legte das Schicksal ausgerechnet am Heiligen Abend eine Mutter mit ihrem Kind vor die Tür. Paps würde sich um die beiden kümmern, das war klar. Helfersyndrom nannte der das. Der große Mann sah auf die Uhr. Gleich würde eine seiner inoffiziellen Patientinnen kommen, die er unentgeltlich und jenseits der Legalität beriet und behandelte. Er betrat sein Appartement, ließ aber die Balkontür offen. Helfersyndrom. Er schlug eben nach dem Alten.

    „Max., echote die Frau und gab dann ihren Namen preis, indem sie auf sich zeigte und „Larisa hauchte, was ein breites Grinsen in des Riesen Gesicht zauberte. Das verschwand aber sogleich, als Larisa kurz nach vorne sackte, was wiederum ihn veranlasste, die Dame zu einer Couch zu geleiten, wo sie sich hinlegen sollte; das Kind bekam derweil ein provisorisches Bett in einem der Sessel bereitet. Max ging in die Ecke des Raumes, von wo die Treppe hinunterführte, und kam bald darauf mit einem Fieberthermometer und einem Stethoskop wieder herauf. Dann bat er Larisa, ihren Pullover auszuziehen und sich frei zu machen.

    „Keine Sorge, ich bin Arzt., versuchte er, nicht ganz wahrheitsgemäß, zu beruhigen und hob sein Werkzeug hoch und schob dann, sicherheitshalber, noch ein „Doktor hinterher. Larisa machte sich also frei, was ihn einerseits erfreute, andererseits als Ergebnis seiner Untersuchung eine leichte Lungenentzündung nahelegte, was ihn abermals im Keller verschwinden ließ. Er hatte keine Skrupel, ein nicht zugelassenes Medikament zu verabreichen, denn es hatte noch niemandem geschadet. Er hatte es in den letzten drei Jahren bei unterschiedlichen Erkrankungen angewendet, und es hatte gewirkt. So, wie er sich das gedacht hatte, als er es vor fünf Jahren entwickelt hatte. Diese Tinktur konnte Leben retten, das wusste er. Diese Tinktur hatte jedoch auch dazu geführt, dass er sein fast öffentliches Luxusleben gegen eine einfache Berghütte eingetauscht hatte.

    „Amanda, kannst du kommen?" Die schwarze Frau mit den künstlichen, braunen Locken rieb sich den Schlaf aus den Augen und runzelte die Brauen, denn so hatte sie ihre Freundin noch nicht gehört. Fionnas Stimme klang flach, geradezu ermattet, also ganz anders als sonst. Sonst nämlich war sie resolut, laut, kehlig und durchaus manchmal aggressiv.

    „Was ist denn passiert? Es ist mitten in der Nacht."

    „Ich hatte einen Anfall. Ich … brauche jetzt jemanden."

    „Schlimm?" Es musste schlimm gewesen sein, denn Fionna hatte sie noch nie bei einem Anfall angerufen.

    „Ja." Das klang hilfesuchend.

    „Gut, ich bin in einer halben Stunde bei dir.", antwortete Amanda, die auch unter anderem Namen bekannt war, entschlossen und stand auf.

    Misty, die nicht wirklich so hieß, erschrak gründlich, als ihre Freundin ihr die Tür öffnete. Sie schlug eine Hand vor den Mund und bekam kugelrunde Augen, als sie Fionna, die ebenfalls unter anderem Namen bekannter war, eingewickelt in ein Laken und mit grauem Gesicht, gebückt und mit schweißnasser Stirn vor sich stehen sah. Es war nichts mehr übrig von der athletischen Fünfundzwanzigjährigen mit dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, das ihr so manches in ihrem Job erleichterte. Fionna sah aus wie eine Frau in den Fünfzigern, gebrechlich, abwesend, resignierend, als erblicke sie durch ihre eigene Wohnungstür ihren baldigen Tod.

    „Fionna, was ist passiert?" Rasch trat die Besucherin in die Wohnung, und schloss schnell die Tür hinter sich, als ob sie dadurch Ungemach aussperren könnte. Doch das hatte es sich schon gemütlich gemacht. Und zwar nicht nur in der Wohnung, sondern tief im Innern der Bewohnerin.

    „Ich glaube, es ist soweit.", flüsterte Fionna, als sie mit Amanda, vornübergebeugt, als hätte sie immer noch Schmerzen, in bequemen Sesseln saß und sich einen Joint ansteckte. ‚Aus medizinischen Gründen‘, wie sie versicherte, und da war sogar etwas dran. Der Tee, der vor ihnen stand, indes hatte eher die Wirkung von Placebos.

    „Was ist wie weit?", zeigte sich Amanda begriffsstutzig, schüttelte ihre braunen Locken, die sie sich statt ihrer natürlichen schwarzen Krause zugelegt hatte, kniff die leicht schräg stehenden Augen zusammen und öffnete die vollen, glänzenden Lippen in Erwartung einer Erklärung.

    „Meine Gastroparese. Bei der letzten Untersuchung hat der Arzt gesagt, es müsste damit gerechnet werden, dass sich Karzinome bilden." Amanda erstarrte. Was wollte ihre Freundin ihr damit sagen? Dass sie Krebs hätte? Dass sie bald sterben würde?

    „Noch mal bitte, und so, dass ich es auch verstehe.", meinte Amanda voller Angst und Sorge. Fionna machte eine erklärende Geste.

    „Was ich sagen will, ist, dass Gastroparese Krebs verursachen kann." Amanda sprang auf und lief in dem Zimmer auf und ab, wobei sie heftig gestikulierte.

    „Du musst zum Arzt, musst dich gründlich untersuchen lassen.", forderte sie. Mit Erstaunen nahm Amanda zur Kenntnis, dass Fionna zu lächeln schien.

    „Sicher. Sicher gehe ich zum Arzt. Morgen schon. Wenn es nur besonders üble Krämpfe waren, gut. Aber was soll werden, wenn es der böse Kerl ist?"

    „Dann musst du dich operieren lassen, musst eine Therapie machen, das ist doch klar., regte sich Amanda auf und fuhr beruhigend fort: „Aber wir wissen noch nicht, was es ist.

    Jetzt lächelte sie Fionna tatsächlich an, aber das Lächeln hatte etwas Finales, etwas Überirdisches.

    „Ich bin nicht versichert. Als ich anfing zu arbeiten, dachte ich nicht daran, ich war ja gesund. Als ich dann in diesem Job war, wollte mich niemand mehr versichern, du kennst das. Und als diese Magenlähmung einmal diagnostiziert war, war klar, dass ich die Versicherungsprämien keinesfalls würde bezahlen können. Das heißt, sie nahm einen tiefen Zug aus ihrem Joint, „es wird das Nötigste gemacht. So viel, wie ich mir leisten kann, und das ist nicht viel. Die schnippeln ein wenig an mir rum, verpassen mir die billigste Therapie, und das wars dann. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ich werde einen schmerzvollen Tod haben." Misty wunderte sich zunächst, dass sie ihre Freundin mit den kurzen, schwarzen Kraushaaren, dem vollen Mund und den großen, etwas weit auseinander stehenden Augen immer verschwommener wahrnahm, aber als ihr ihre Tränen die Wangen herunterliefen und in ihren Schoß tropften, wusste sie zumindest, woran das lag.

    Nachdem dieser Max gegangen war, um zu schlafen, wie er ihr gestenreich mitgeteilt hatte, blieb Larisa noch eine Weile wach, obwohl sie sehr erschöpft war. Der riesige Mann hatte Sofia unzweifelhaft das Leben gerettet, doch kannte sie ihn natürlich nicht. Er hatte von sich behauptet, er sei Arzt, aber das musste nicht stimmen, obwohl sie sich freigemacht hatte, aber sie hatte sich wirklich nicht gut gefühlt. Der Schnaps, den er ihr daraufhin gegeben hatte, hatte ihr gut getan. Warum lebte er in dieser Einsamkeit in einer einfachen Behausung? Oder hatte er noch irgendwo anders eine Villa? Sie konnte ihn sich einfach nicht in einem weißen Kittel vorstellen. Die derbe Hose und das großkarierte Flanellhemd passten besser zu ihm, zu seinem Äußeren, das eher zu einem Waldarbeiter gehören wollte, der vielleicht die Bäume einfach nur umschubste. Sie musste lächeln. Zutrauen würde sie ihm so etwas. Sie sah sich um. Gut, für einen Waldarbeiter hatte er ziemlich viele Bücher, aber war es nicht nur ein Klischee, dass Waldarbeiter nicht viele Bücher hatten? Vielleicht war er eine Art Aussteiger, wie sie es hier ja geben sollte. Hinter der Tür, in der er verschwunden war, befand sich ein Flur, von dem wiederum drei Türen in Räume führten, von denen einer ein Bad war, das wusste sie von vorhin, als sie Sofia gebadet hatte. Sie wusste auch, dass es neben dem Kachelofen, der langsam erkaltete, andere Heizkörper gab, was gut war, denn in den letzten Tagen hatte sie genug gefroren. Die Tür, die zum Flur führte, war nicht abschließbar; jedenfalls hatte sie keinen Schlüssel gesehen. Also würde sie aufpassen müssen. Als erste Maßnahme holte sie ihre Tochter zu sich auf die Couch, deckte sie beide mit der zur Verfügung gestellten dicken Decke zu, und dann würde sie versuchen, nur sehr leicht zu schlafen…

    Das mit dem leichten Schlaf war aber so eine Sache. Leichter gedacht als getan, wenn man tagelang umhergeirrt war und vor ein paar Stunden sich nach langer Zeit mal wieder satt gegessen hatte. Und so wurde aus dem geplanten leichten Schlaf ein tiefer, den sie sich in den letzten Tagen, an denen sie in Scheunen und Schutzhütten geschlafen hatte, nicht hatte leisten können. Gleichwohl erwachte Larisa von einem Luftzug, der von der geöffneten Flurtür herüberwehte. Hatte sie es doch gewusst. Sie hielt alarmiert den

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