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Das böse Wort
Das böse Wort
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eBook394 Seiten4 Stunden

Das böse Wort

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Über dieses E-Book

Sue hat Krebs. Nur eine Kirsche unter der Haut, redet sie sich ein, sträubt sich gegen die Wahrheit. Dann nimmt sie den Kampf auf. Ihre Zuversicht wächst. Eigenartig ist bloß dieser Mann, dem sie in der Klinik immer wieder begegnet. Er scheint im Dunkeln lesen zu können, und außer ihr gibt es offenbar niemand, der ihn kennt. Bis auf die kleine Jennie. Auch sie hat einen unsichtbaren Begleiter …
SpracheDeutsch
HerausgeberIvar Leon Menger
Erscheinungsdatum30. Dez. 2015
ISBN9783942261746
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    Buchvorschau

    Das böse Wort - Andreas Krusch

    Nachwort

    *

    Für Anne,

    die gegen diesen Scheißkrebs ankämpfte und verlor

    *

    Er kam den verschneiten Weg hinauf. Die Dämmerung schickte ihr zartes Rosarot. Es würde ein schöner Tag, dachte er. Ein wichtiger. Er würde einen alten Freund besuchen. Sie hatten sich aus den Augen verloren. Das war nicht gut. Es störte das Gleichgewicht.

    Er trat aus dem Park der Klinik. Die Vögel folgten ihm nicht weiter. Schwarz färbten sie die kahlen Äste über dem weißen Schnee und sahen zu den Fenstern. Er sah sie auch, so viele Fenster, so viele Patienten in den Zimmern dahinter. So viel Material für seinen Plan.

    Der Tod lächelte und öffnete die Tür zum Treppenhaus der Klinik. Ja, es würde ein schöner Tag ...

    1

    Etwas stimmte nicht mit dem Himmel. Sie lag auf dem Rücken, ihre Augen spiegelten das verwaschene Hellblau. Keine Wolken da oben, nicht eine. Doch das war es nicht, nein ... Vögel!, schoss es ihr durch den Kopf. Ja, das war es! Ein Himmel ohne Wolken kam vor, aber ein Himmel ohne Vögel? Angestrengt suchte sie die blaue Weite ab. Ein Himmel ohne Vögel, ein Himmel ohne –

    »Er hat einen schönen Namen.«

    Was? Wer hat einen schönen Namen? Und wer hat da gesprochen?!

    Das Drehen des Kopfes verursachte ihr Schwindel. Das Aufstützen ging mühselig. Sie wischte sich eine braune Strähne aus dem Gesicht, blinzelte gegen die Sonne. Auf dem anderen kleinen Hügel sah sie eine junge Frau. Blass war sie, mager. Und es war gar kein Hügel, auf dem sie saß.

    »Er hat einen schönen Namen – dein Krebs.« Die junge Frau rutschte von ihrem Bett am hellen Fenster.

    Sie beugte sich über das zweite Bett. »Drei Beruhigungspillen sind zu viel. Hab ich dir doch gesagt. Die Visite hast du jedenfalls verschlafen.«

    Krebs? Visite? Sie verstand nicht, wovon diese dünne Person mit den kurzen Haaren sprach. Sie wollte sich wieder dem Himmel widmen, aber die hellblaue Zimmerdecke setzte ihrem Blick eine jähe Grenze.

    »Wo bin ich?«

    Und wer?, kicherte jemand in ihr. Es fiel ihr ein. »Ich bin ... Sue. Ich bin Sue!« Die Stimme aus ihrem rauen Hals klang wie totes, brechendes Holz. Die junge Frau in dem rosafarbenen Pyjama füllte das Wasserglas auf dem Nachttisch und hielt es ihr hin.

    »Ja, du bist Sue. Und der Rest fällt dir auch gleich ein.«

    Der Rest.

    Sie versank darin. Der Wandspiegel im Bad, das große Handtuch davor. Du steigst aus der warmen Wanne und stellst dich darauf.

    Der Spiegel beschlägt, du schaust kaum noch hinein. Mit Vierundvierzig braucht man sich nichts mehr vorzumachen. Routiniert verteilen deine Hände die Creme. Lavendelduft. Du stutzt. Dein Zeigefinger spielt mit einem Knoten. Er sitzt direkt unter der Haut, erbsengroß. Was ist das? Du drückst die Erbse tiefer in das weiche Fleisch deines Oberarmes. Damit sie verschwindet.

    Zwei Wochen später hat sich die Erbse in eine Kirsche verwandelt. Und du gehst zum Arzt.

    2

    Kein besonders großes Zimmer. Der Blick ihrer kastanienbraunen Augen wanderte von dem billigen Kunstdruck zur Sitzecke. Die Morgensonne erhellte den kleinen Tisch. Seine leere Platte glänzte steril. Die beiden Stühle hatten grüne Stoffpolster. Das Holz ihrer Beine passte zu der Stange, die wie ein Geländer an die Längswand des Krankenzimmers geschraubt war. Unter der Decke am Fenster hing ein Fernseher. Sein stummes Bild flackerte auf dem Chrom ihrer Betten.

    »Was machen wir hier?«

    »Hoffen und warten. Was sonst?«, antwortete die junge Frau im Pyjama. Sie stand noch immer vor Sues Bett.

    »Warten aufs Frühstück und hoffen, dass es gut ist?« Sue trank das Glas Wasser aus und gab es ihr zurück.

    Die junge Frau lachte. »Da kannst du lange hoffen.«

    Mit einem Schnaufen öffnete sich die Zimmertür. Sue sah, wie breit sie bemessen war. Ihr Bett würde locker hindurch passen. Aber wozu? Sie konnte doch laufen.

    Der Mann in der Tür blickte streng. »Was gibt’s hier zu lachen, Fiona?!«, begann er laut, und grinste dann, »... an diesem heiligen Ort.«

    Sue blickte verunsichert zu der jungen Frau.

    Die schüttelte nur den Kopf. »So ist er, unser Pfleger Steve. Spinnt immer ein bisschen.«

    »Man muss sich doch auf seine Patienten einstellen.« Sein schelmisches Grinsen wurde noch breiter.

    »Ach, verschwinde!« Die junge Frau griff nach dem Kissen auf ihrem Bett.

    »Und die neuen, versauten Patientenwitze wollt ihr gar nicht hören?«

    Fiona holte Schwung. »Versuch es Ostern noch mal!«

    Steve entschloss sich zum Rückzug. »Bis dahin seid ihr doch längst zu Hause«, rief er noch vom Gang.

    »Oder tot«, ergänzte Fiona und warf das Kissen.

    Sue starrte sie an.

    Tot? Ihr Hausarzt hatte doch gesagt ...

    »... eine gutartige Geschwulst, ein Lipom!« Dr. Reynold sah sie warmherzig an. »Kommt oft vor in deinem Alter. Ein paar vergrößerte Fettgewebszellen unter der Haut. Harmlos wie eine Kirsche! Ja, nur eine Kirsche.« Er lächelte, wie er immer gelächelt hatte: beruhigend. Er war der Arzt, der sie auf die Welt gebracht hatte, er hatte ihre Kinderkrankheiten kuriert und mit der Zwölfjährigen über ihre Periode gesprochen. Und an Großvaters Sterbebett hatte er sie getröstet.

    Sue vertraute diesem Arzt. Er hatte sie durch die Täler des Lebens begleitet, so wie ein richtiger Vater.

    »Also, mach dir keine Sorgen. Schau mal wieder rein – und wenn es dich stört, machen wir es weg.«

    Sie schüttelte ihm die Hand. Sie machte sich keine Sorgen. Doch nicht wegen einer Kirsche.

    3

    »Das Silverstone Memorial ist die beste Krebsklinik im Land. Schon der Name soll einen Placeboeffekt haben«, erklärte Steve grinsend und schob ihren Rollstuhl aus dem Lift. Er hatte Sue zu einer Führung eingeladen. Ich brauch den Stuhl nicht, ich kann gehen! Der junge Pfleger wusste das, doch es sollte nicht zu sehr nach einem Spaziergang aussehen.

    »Aaron Silberstein hatte mit seiner Verlobten 1936 Hitlers Deutschland den Rücken gekehrt«, fuhr er fort. »Seine Eltern versprachen nachzukommen. Und Aaron versprach, die Tradition der Arztfamilie fortzusetzen. Er übernahm hier ein alteingesessenes, aber marodes Hospital, in das niemand mehr investieren wollte.«

    »Was wurde aus seinen Eltern?«

    Der Rollstuhl stoppte vor einer kleinen Kupfertafel.

    »Sie haben Deutschland nicht mehr verlassen. Wurden von den Nazis verhaftet.«

    Sie las den kurzen, eingravierten Text.

    MEINEN ELTERN † 1939

    Steve drehte den Stuhl zur fast menschenleeren Halle. Hinter dem halbrunden Empfang telefonierte eine Krankenschwester, ein junger Mann in blauem Overall reinigte die riesigen Glastüren am Eingang.

    »Aber Aaron hielt das gegebene Versprechen. Sein kleines Hospital wuchs zur angesehenen Klinik heran und sein Sohn Joseph zu einem wahren Gott in Weiß. Verdammt!«

    Sue zuckte zusammen. »Was ist?«

    »Gottes rechte Hand«, flüsterte Steve nur.

    Rose hob prüfend den Kopf. Nichts. Sie drehte ihn langsam von links nach rechts. Nichts zu hören. Wunderbar! Endlich hatte jemand kapiert, dass sie dieses permanente Hintergrundgedudel nicht mehr ertragen konnte, und die Musik abgestellt. Wurde auch Zeit. Schließlich lebte sie hier.

    Gottes rechte Hand.

    Sue beobachtete die große, schlanke Frau, die da mit leicht geneigtem Kopf mitten in der Eingangshalle stand. Der gestärkte weiße Kittel betonte noch die Strenge ihres geflochtenen, kupferroten Zopfes.

    »Was macht sie da? Testet sie Gottes rechtes Ohr?«

    Steve musste lachen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ja, unsere Rose ist schon ab und an seltsam.«

    Die Frau hatte sie entdeckt. Mit schnellen, kurzen Schritten kam sie heran.

    »Was machen wir jetzt?« Sue flüsterte es. Sie war plötzlich wieder zwölf und ganz aufgeregt.

    »Wir zeigen Demut«, antwortete der Pfleger an ihrer Seite leise.

    Rose’ Augen fixierten ihn. Sie glichen dunklem Flaschengrün. »Eine Nachtschicht endet bekanntlich mit dem Ende der Nacht. Jedenfalls auf meinem Planeten. Wie ist das auf Ihrem geregelt, Steve?«

    Er wand sich.

    »Nun ... ich wollt ja längst abhauen ...«

    Die große Frau in dem Kittel schien sich innerlich kurz zu entfernen, murmelte etwas wie: Wollen wir das nicht alle? Dann war sie wieder bei ihnen.

    »Also, wieso sind Sie noch hier, junger Mann?«

    »Er wollte mich nur zu meinem Zimmer bringen, Schwester! Ich hatte mich verlaufen!«, erklärte Sue.

    Ein kurzer, frostiger Blick traf sie. »Ich bin Oberschwester, Mrs. Randon, Oberschwester.«

    Steve strahlte. »Ja, verlaufen, so war es!«

    »Verlaufen also.«

    Eigentlich verrollt, Frau Staatsanwältin. Sue drückte die Zähne fest in ihre Zunge, um nicht loszukichern.

    »Wir werden das noch ausführlich besprechen, Steve. Aber jetzt muss ich zu einem Termin.« Oberschwester Rose machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zackig auf den gläsernen Ausgang der Klinik zu.

    »Puh, das war knapp.« Er atmete erleichtert aus.

    »Woher wusste sie meinen Namen, Steve? Ich bin ihr nie begegnet.«

    »Aber Rose wohl Ihnen. Sie wandert nachts oft hier herum, schaut in die Krankenzimmer, studiert die Gesichter der schlafenden Neuankömmlinge.«

    »Was? Wieso?«

    »Sie wägt die Chancen ab.«

    »Chancen? Welche Chancen?«

    »Wer gewinnen wird: Prof. Dr. Joseph Silverstone, Herrscher über dieses Reich ... oder der, der über das andere herrscht.«

    »Das andere?«

    Sue blickte verwirrt zum Krankenpfleger.

    Er sah sie nicht an, während er antwortete.

    »Das der Toten.«

    Nur eine Fußspur. Sie kam aus dem verwilderten Teil des Klinikparks. Der Junge musste dort über die Mauer geklettert sein. Jetzt stand er da unten allein im Schnee bei der alten Holzbank. Die letzte ihrer Art. Mit Einzug des Frühlings würde auch sie der Moderne weichen müssen. Tausende hatten auf ihr gesessen, hatten geweint, gehofft, gebetet. Vielleicht war der Junge deshalb hier. Vielleicht hielt er diese verwitterte Bank für magisch und schrieb nun seinen Genesungswunsch in das eisige Weiß davor.

    Professor Silverstone wandte sich vom Fenster und dem Jungen ab und blickte in die dunkelste Ecke seines Büros. Der Gast, der dort Platz genommen hatte, blickte schweigend zurück. Vor ihm auf dem kleinen, flachen Glastisch stand eine unberührte Tasse Kaffee.

    »Ich will diese Psychologin hier nicht haben!«, richtete der Professor seine Worte an den Mann.

    »Sie ist die Beste ihres Jahrgangs«, kam die Antwort aus dem Halbschatten.

    »Ist mir egal! Das Psychozeug verwirrt nur alle!«

    »Die Zeiten ändern sich, Joseph. Man akzeptiert inzwischen die positive Rolle von Psychoonkologen.«

    »Nicht hier! Wir brauchen so was nicht. Ich bin der beste Chirurg des Landes, der Ruf meiner Klinik ist untadelig!«

    »Der Ruf dieser Klinik stammt aus dem letzten Jahrhundert, genau wie ihre medizinischen Geräte.«

    »Hier werden immer noch Leben gerettet, verdammt!«

    Der Mann in der Sitzecke seufzte leise. »Joseph, wir kämpfen doch für dasselbe, die Klinik. Doch sie genügt den modernen Standards nicht mehr ... Meine Investitionen werden das ändern, so steht es im Vertrag, den Sie unterschrieben haben. Sie erhalten die beste Medizintechnik, die der Markt derzeit bietet.«

    »Wozu brauchen wir dann die Psycho-Tante?!«

    Der Gast des Professors tippte auf den Vertrag. »Sie werden das eine nicht ohne das andere bekommen.« Er erhob sich von seinem Platz. »Da gibt es keinerlei Spielraum.«

    »Keinerlei Spielraum?! Das ist meine Klinik!«, rief Professor Silverstone außer sich.

    »Jetzt nicht mehr.«

    Der Mann in dem feinen, dunklen Anzug lächelte. »Sie entschuldigen mich, ich muss wieder los, der Bürgermeister wartet ungern. Und danke für den Kaffee.«

    Niemand mochte Nadeln. Sue blickte auf die, die in ihrem linken Arm steckte. Sie hatte zwei Plastikflügelchen. Ein kleiner blauer Schmetterling.

    »Sie werden sich schnell daran gewöhnen«, sagte die fremde Schwester freundlich. Sie hatte sich wirklich bemüht, ihr die Angst zu nehmen.

    Die alte Angst.

    »Hab dich nicht so!«

    Die Hand ihres Vaters umschloss ihren Arm wie ein Schraubstock. Er zerrte das kleine Mädchen quer durch die Praxis.

    »Ich will zu Dr. Reynold«, schluchzte Sue.

    Jimmy hatte sie gebissen. Und da niemand wusste, was der Köter sonst noch biss, schien eine Tetanusspritze das Sicherste. Dr. Reynolds Vertretung tastete unsicher auf dem blassen, dünnen Kinderarm herum. Auch ein zweiter Stauschlauch brachte keine Vene hervor.

    »Nun jagen Sie sie schon rein!«

    Sues Vater wurde ungeduldig und der junge Arzt folgte seiner Empfehlung hastig.

    »Wir arbeiten meist mit Flügelkanülen.«

    Die Krankenschwester hatte ihr Zeit gelassen, sich zu entspannen. Sie hatte den Arm in eine warme Decke gewickelt, um die Venen zum Schwellen zu bringen. Und sie hatte sie angelächelt, während der Schmetterling landete. Sue hatte seinen Stich kaum gespürt.

    »Danke, Schwester.«

    »Keine Ursache. Aber nennen Sie mich Paula. Einfach Paula.«

    Die Flügelkanüle hatte mehrere Funktionen. Außer der Blutentnahme diente sie dem Anlegen von Kurzzeitinfusionen. Gebannt beobachtete Sue, wie die Kontrastlösung in ihrem Arm verschwand.

    Dann ging es zum Kernspintomographen. Sue verstand nicht, was sie in dem Riesenkasten sollte. Es ging doch nur um ihren Arm. »Warum wird das nicht einfach geröntgt?«

    So wie damals, als sie vom Baum gefallen war.

    Der letzte Apfel des Sommers wartete ganz oben. Die kleine Sue hatte ihn fast, doch Mom rief schrill ihre Angst hinauf: Das ist zu hoch, Kind! Sue erschrak und griff daneben. Ihr Handgelenk war nach dem Sturz angebrochen. Dr. Reynold machte sich mehr Sorgen um das blaue Auge. Ist auch vom Sturz, hatte Sues Vater es erklärt.

    Der Arzt an dem Tomographen schien in Eile. Er murmelte etwas von reduzierter Strahlung und medizinischem Fortschritt. Sue wollte mehr über die Strahlung und seine Bleiweste wissen, aber Paula schüttelte leicht den Kopf und half ihr auf die Liege. »Später«, flüsterte die Schwester und fixierte Sues linken Arm. In die rechte Hand legte sie ihr einen kleinen Gummiball. »Falls etwas ist, einfach drücken.«

    Was soll denn sein? Sue wurde nervöser. Der Arzt gab dem Techniker ein Zeichen. Die Liege ruckte und begann leise surrend, sie in die Röhre zu schieben. Ein Ofen. Ich bin in einem Ofen! Die Innenwand war direkt vor ihrem Gesicht. Die Bilder aus alten Nazi-Dokumentationen auch. Ihr wurde wärmer. Sie schwitzte. Die wollen mich verbrennen!

    »Noch nicht die Luft anhalten. Atmen Sie! Sie müssen weiteratmen – ganz normal!« Die Stimme des Arztes war weit weg. Sue verkrampfte sich. Wenn ich atme, wird meine Lunge zu Grillkohle, Idiot! Der Ofen begann laut zu klicken. Sue presste den Notrufball zusammen.

    4

    »Haben die es noch mal versucht?« Fiona hatte das angefangene Buch zur Seite gelegt. Sue nickte schweigend.

    »Hat es geklappt?«

    Sue nickte wieder. Dann schluchzte sie.

    »Ich hab mich wie eine Irre aufgeführt, aber es war so verdammt eng da drin ...«

    »Vergiss es.«

    »Zu eng für mich und diese Angst.« Die Tränen rannen.

    »Es ist ja vorbei.«

    »Aber die Angst ist nicht vorbei!«, rief Sue erregt. »Diese verdammte Angst!«

    Ihre Bettnachbarin schwieg.

    »Entschuldige, es hat mich ziemlich fertig gemacht.« Sue wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Ich hatte schon lange nicht mehr solche Angst.«

    »Schon gut.« Fiona winkte ab. »Und wie hast du den Tomographen dann geschafft?«

    »Ich hab mir vorgestellt, ich bin im Solarium.«

    Die junge Frau zog die Augenbrauen hoch. »Und wir auf Kur, was?« Sie fing an zu lachen.

    Sue war durcheinander. Gestern noch hatte sie in ihrer kleinen, hübschen Küche gefrühstückt. Die Märzsonne hatte durch die Fenster gewärmt. Sie hatte ihre geliebten Pflanzen gegossen und war dann zu Dr. Reynold gefahren. Keine Sorge, Mädchen. Nur ein paar Untersuchungen, die ich hier nicht machen kann. Er hatte ihr die Überweisung in die Hand gedrückt und ein Taxi gerufen. Und jetzt lag sie in einem engen Zweibettzimmer mit einer Kanüle im Handrücken.

    »Wann kann ich wieder nach Hause? Ich fühle mich gut. Ich hab doch nichts!«

    »Und die Beule an deinem Arm?«

    »Das? Das ist harmlos. Bloß ein Lipom, sagt mein Hausarzt. Harmlos wie eine Kirsche. Ja, nur eine kleine Kirsche unter der Haut, das ist alles.«

    »Eine Kirsche, denkst du?« Fiona griff lächelnd nach ihrem Buch. »So hat das hier noch keiner genannt.«

    Warum bist du nur Arzt geworden? Immer noch feuchte Hände beim Legen von Infusionen. Und einen trockenen Mund. Ach, reiß dich zusammen, Jeremy Silverstone! Wenigstens bist du auf dieser Seite der Nadel.

    »Sie zittern, junger Mann. Mache ich Sie nervös?« Frech funkelten Emmas wache Augen. Die Achtzigjährige mochte den schüchternen, jungen Arzt. Er war das genaue Gegenteil seines Vaters.

    Jeremy entfernte den Zulauf aus ihrer Unterarmvene. »Für heute Nacht legen wir eine neue Infusion«, erklärte er. »Die alte Kanüle ist verstopft.«

    »Was? Wie darf ich das verstehen?« Sie genoss den Spaß, und er tat es auch.

    »Das wissen Sie ganz genau. Das ist nicht unser erstes Date, Emma.«

    Er rieb sanft ihre Hand.

    »Oh, wird das jetzt etwa das berühmte dritte?«, schmunzelte sie.

    Still fuhr er fort, ihren Handrücken zu massieren. Altersflecken leuchteten auf der pergamentenen Haut. Die leichte Massage füllte die Blutgefäße. Er stach die Nadel hinein.

    »Autsch!«, protestierte Emma.

    »Entschuldigung.« Der Arzt wurde rot. »So wollte ich das nicht.«

    Sie winkte ab. »Schon gut, Jungchen. Das ist nicht mein größter Schmerz.«

    Er sicherte die Nadel mit Klebeband und schloss den Schlauch der Infusionspumpe an.

    »Und was bekomme ich da heute nacht?«, fragte ihn die alte Frau.

    »Eigentlich nur Wasser.«

    »Da hab ich aber schon Besseres getrunken!« Sie schloss ihre Augen, um die Erinnerung sehen zu können. Bill hatte eine staubige Flasche auf den Tisch gestellt. Er habe sie zufällig gefunden. Ganz hinten im Keller. Aber Emma wusste es besser. Sie kannte ihren Bill. Er hatte die Flasche dort versteckt, nur für diesen Tag. Die ganzen fünfzig Jahre! Besseres könne man einem Wein nicht antun, hatte er dann erklärt und seine Frau geküsst. Es hatte so süß geschmeckt wie am ersten Tag.

    Sie seufzte.

    »Tut die Hand noch weh?«, fragte Jeremy besorgt.

    »Nein. Aber ... Bill fehlt mir so.«

    Sie sahen schweigend auf den glitzernden Beutel am Infusionsständer. Die Elektrolytlösung darin tropfte wie Tränen in den Schlauch, der zu Emma führte.

    »Es sind nur ein paar Salze und Mineralien drin. Was jeder Körper so braucht«, sagte er leise.

    »Mein Körper will das nicht mehr, wissen Sie.«

    Er betrachtete sie. »Ihr Körper schon ...«

    Emma Lee lächelte warm und drückte seine Hand. Dieser junge Mann verstand sie.

    »Ich kann nicht schlafen.« Sue drehte sich auf die Seite. Die Kanüle an ihrem linken Unterarm blieb an der Bettdecke hängen.

    »Ach, Mist!« Sie strich die Pflaster wieder glatt.

    »Du solltest eine rauchen.« Fiona blickte von ihrem Buch auf. Sie las viel. Auch nachts.

    »Wie kommst du darauf, dass ich rauchen würde?«

    »Du bist der Typ dafür.«

    »Ich habe aufgehört!«

    »Das merkt man.« Fiona vertiefte sich wieder in ihr Buch.

    Sue setzte sich auf. »Ein toller Tipp übrigens, Miss Oberschlau. Rauchen im Krankenhaus!«

    »Es gibt hier ein Raucherzimmer.«

    »Ein Raucherzimmer? Hier?!« Sue konnte es nicht glauben. »Aber nicht für Patienten, oder?«

    Nachthemd und Bademantel wärmten kaum. Der Korridor war spärlich erhellt. Sue schlich weiter an Türen vorbei. Du wirst nicht finden, was du suchst, ahnte sie. Weil es in solch einer Klinik natürlich kein Raucherzimmer gibt, Mrs. Randon! Fiona hatte ihr einen Bären aufgebunden. Und lass dich draußen nicht erwischen, du wärst ein Festessen für Oberschwester Rose! Ja, ja, sehr witzig.

    Hinter dem Stationstresen brannte einsam eine Schreibtischlampe über ein paar Akten. Sue huschte daran vorbei. Ihr Magen kribbelte wie damals, als sie nachts durch das Haus bis zum Schlafzimmer ihrer Eltern geschlichen war, um den verbotenen Geräuschen zu lauschen.

    Die Nachtbeleuchtung warf kleine, helle Inseln auf den Boden. Der Rest blieb im Halbdunkel. Warte. Da drüben! Fiona hat dich nicht veräppelt. Ein Raum halb aus Glas. Das Raucherzimmer!

    Sie schlich hin.

    Die dicken Glaswände ragten in den breiten Mittelgang, vergrößerten einen ehemaligen Lagerraum, dessen vordere Wand man entfernt hatte. Die Dunkelheit in dem gläsernen Kasten gefiel Sue nicht. Muss wohl der Rauch sein. Ihr kleiner Scherz ließ sie grinsen. Mutig drückte sie die Klinke. Ein Stück im Glas öffnete sich. Hallo? Raucht da wer? Sue trat ein.

    Das wenige Licht vom Gang musste genügen. Mehr würde nur Rose anlocken. Sue ignorierte den Lichtschalter und setzte sich auf den Stuhl gleich bei der gläsernen Tür. Was nun? Wer bietet dir eine an? Du vielleicht, Cowboy? Das Poster an der Glaswand zeigte einen Reiter in der Prärie. Irgendetwas war über den weiten Himmel geschrieben. Sue konnte es nicht lesen. Die Stuhlreihe neben ihr verlor sich im Dunkeln. Einsam verkümmerte eine Palme in der Ecke gegenüber. Ihr trostloser Plastiktopf war voller Kippen. Sue zählte sie. Erstaunlich, exakt so viele Jahre hatte sie geraucht.

    Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren.

    Ein Rascheln.

    Sie starrte auf die Palme. Ihre Blätter hatten sich nicht bewegt. Da raschelte es wieder. Es kam aus der Dunkelheit in der hinteren Hälfte des Raumes. Und Sue kannte dieses Geräusch. Fiona machte das gleiche beim Lesen – beim Umblättern der Seiten. »Hallo, ist noch jemand hier?«, flüsterte sie und fand sich ziemlich albern. Die Dunkelheit schwieg. Sue erhob sich und machte zwei vorsichtige Schritte darauf zu.

    »Bitte nicht. Kommen Sie nicht näher.«

    Oh mein Gott, da ist wirklich jemand! Unter ihrem Nachthemd breitete sich ein Frösteln aus.

    »Bitte, bleiben Sie dort ... im Licht.«

    Es war eine angenehme Stimme, tief, warm, männlich. Sue beruhigte sich. Vielleicht ein erschöpfter Arzt mit einem Stapel Krankenakten? Oder mit einem einschlägigen Magazin. Fast hätte sie losgekichert. Hör auf, reiß dich zusammen! Das ist ein Aufenthaltsraum für Patienten. Und es ist viel zu dunkel zum Lesen.

    »Was tun Sie hier?«, fragte sie verunsichert.

    »Ich lese die Namen im Buch der Nacht.«

    Wie bitte? Das Frösteln kehrte zurück.

    Die Dunkelheit vor ihr schien noch dunkler zu werden. Sue hatte genug, sie ging rückwärts bis ihre Finger die glatte Kühle von Glas berührten. Dann fand sie den Türknauf.

    »Gute Besserung ... kleine Sue«, wünschte die angenehme Stimme noch.

    5

    Steve schüttelte ungläubig den Kopf. »Und dieser Typ hat im Dunkeln gelesen, sagen Sie?«

    »Und er kannte meinen Namen!«

    Sie bog mit dem Pfleger in den nächsten Gang ein. Bei Tag sah hier alles irgendwie anders aus. Doch das Raucherzimmer konnte nicht mehr weit sein.

    »Haben Sie gesehen, was er gelesen hat?«

    »Er nannte es: Das Buch der Nacht.«

    »Klingt spannend, ein Thriller?«

    »Keine Ahnung, ich habe es nicht gesehen ... ich habe gehört, dass er gelesen hat.«

    »Er las also laut.«

    »Nein, aber beim Umblättern raschelten die Seiten«, erklärte Sue leicht irritiert. »Jetzt sehen Sie mich nicht so an, Steve! Ich weiß, dass er gelesen hat!«

    »Im Dunkeln.«

    »Ja, verdammt! Fragen Sie doch den Cowboy auf dem Poster.«

    Der Marlboromann schaute über das weite Land.

    »Da, da ist es!« Der Vorbau aus Glas spiegelte ihr aufgeregtes Gesicht. Sie hatte ihren Ausflug gestern Nacht also nicht geträumt! Das Poster hing noch immer an der gläsernen Wand gegenüber der langen Stuhlreihe.

    »Ist zu früh«, murmelte Steve. »Keiner da.« Er lief durch das leere Raucherzimmer bis zu dem schmalen Klappfenster in der hinteren massiven Wand. »Huh, ist das frisch. War das Fenster gestern Nacht auch offen?«

    »Ich weiß nicht mehr, ich hab kein Fenster gesehen ...«

    Rasch verschloss der Krankenpfleger es. »Vielleicht kam die Stimme ja von draußen.«

    »Und wer da draußen kennt meinen Namen?«

    Steve hob ratlos die Schultern.

    »Kommen Sie nicht rein, Sue?«

    »Nein.« Sie lehnte an der Glastür. Irgendetwas war da drinnen immer noch dunkel, trotz des Morgenlichts, das durch das kleine Fenster den Cowboy auf dem Poster berührte. Sie betrachtete ihn. Quer über ihm am Himmel stand mit Filzstift geschrieben: EINER VON UNS!

    »Das ist der Typ aus der Werbung. Ist hier gestorben. Lungenkrebs«, erklärte Steve und fischte ein paar Kippen aus dem Topf der Plastikpalme. »Aber er hat kein Buch in der Hand, hatte er nie, nur Zigaretten«, grinste er.

    »Er hat auch nicht gelesen!«, antwortete Sue gereizt. »Da ganz hinten in der Ecke unter dem Fenster hat der Mann gestern Nacht gesessen!«

    »Da hinten?« Der junge Pfleger runzelte die Stirn. »Das war immer Eddies Platz. Aber Ed ist letzte Woche verstorben.«

    »Nein, verdammt! Ich will ihn nicht sprechen!«

    Stur starrte sie geradeaus.

    »Aber er ist doch Ihr Vater. Er möchte Sie sicher besuchen.« Die Krankenschwester in der

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