tod.com
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Buchvorschau
tod.com - Herbert Wetterauer
Alle hier beschriebenen Personen und Ereignisse sind
erfunden. Eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit
wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt,
dann reiß es aus und wirf es weg.
Matthäus 5,29
Autorenfoto_Wetterauer.jpg Herbert Wetterauer, geb. 1957 in Karlsruhe, studierte Bildende Kunst und Germanistik. Lange Zeit lebte er als freischaffender Künstler und freier Journalist. Seit 1994 unterrichtet er im Lehramt Deutsch und Bildende Kunst. Weitere Veröffentlichungen: „Stromness, „Du sollst nicht vertrauen
und „Daneben – Geschichten aus der Nachbarschaft".
Herbert Wetterauer
tod.com
Thriller
lindemanns_bibliothek.epsProlog
Michelle sieht den Mann mit einer Plastiktüte in der einen und einer Kunststoffplane in der anderen Hand im dichten Gebüsch neben dem Wagen verschwinden. Sie ahnt, was er vorhat: Er wird die Plane auf dem Waldboden ausbreiten und irgendetwas aus der Plastiktüte nehmen und bereit legen. Er hat gesagt: Ich will den Wagen nicht schmutzig machen. Dann wird er zu ihr zurückkommen und die Handschellen aufschließen, mit der er sie an das Lenkrad gekettet hat. Er wird sie zu der Stelle bringen, die er im Gebüsch vorbereitet hat. Dann wird er sie töten, dort, an einem schönen, warmen und sonnigen Tag.
Sie hat geglaubt, den Mann zu kennen und zu lieben, soweit man einen Menschen kennen und lieben kann. Aber alles war nur eine Täuschung, eine Illusion, das erkennt sie jetzt. Er hat sie nie belogen, hat immer die Wahrheit gesagt. Sie selbst war es, die sich betrogen hat, die nicht glauben wollte.
Michelle erinnert sich: Irgendwo in einer Lagerhalle in Los Angeles kniet ein nacktes, gefesseltes Mädchen, angekettet an ein rostiges Wasserohr, auf dem schmutzigen Betonboden. Die sich hier im Halbdunkel der Halle im Licht einer einsam und schwach leuchtenden Glühbirne versammelt haben, wollen es sterben sehen, langsam und qualvoll. Sie haben sich verschworen unter dem Motto der Freiheit, der Lust, der Macht und der Erkenntnis. Sie werden den Vorgang des Tötens filmen, aber nicht um diesen Film zu verkaufen, sondern als ein Dokument der Macht. Jedes Mal, wenn sie sich diesen Film später ansehen werden, wird er sie an ihre Macht erinnern und an das Gefühl der Lust, sie auszuüben.
Aber nach und nach wird der Film seine Strahlkraft verlieren, werden sich seine Bilder als Wiederholung verbrauchen und wird das Bewusstsein der Macht verblassen.
Dann entsteht ein neuer Film ...
Omega
Max kam an diesem Mittag sichtlich begeistert von der Schule nach Hause. Das war eher selten der Fall und im Grunde gab es nur zwei Zustände, in denen er zum Mittagessen am Tisch erschien: entweder mürrisch und wortkarg oder gesprächig und aufgeregt. Mürrisch bedeutete in der Regel einen langweiligen Schultag oder das Schimpfen eines Lehrers, weil er seine Hausaufgaben wieder einmal nicht gemacht hatte. Vielleicht hatte er auch Streit mit einem Kumpel gehabt. Aufgeregt war er dann, wenn sich etwas Dramatisches ereignet hatte: Ein Lehrer war beleidigt worden und hatte dann das Ganze noch dadurch gekrönt, dass er die Beherrschung verloren hatte. Oder es hatte eine Schlägerei gegeben, bei der am besten auch noch ein Overhead-Projektor zu Bruch gegangen war. Sehr selten leitete sich seine Begeisterung vom Unterricht selbst ab, aber auch das konnte vorkommen, und so war es heute.
Während Michelle das Essen auf den Tisch stellte, Bratwürste mit Instant-Kartoffelbrei und Erbsen aus der Dose, berichtete Max aus seinem Deutschunterricht. Michelle kannte den Lehrer vom Elternabend her, als Max vor einem Jahr in die fünfte Klasse ans Gymnasium gewechselt war. Es war ein Herr in den späten Fünfzigern, graumeliert und schlank, der gerne redete und dabei wellenförmige Bewegungen mit seinen Händen machte, als ob er sich selbst dirigieren müsste. Häufig erzählte er den Schülern Geschichten aus seinem Leben oder ließ sie an seinem reichen Wissensschatz teilhaben, der aber meist nichts mit dem Fachgebiet Deutsch zu tun hatte. Michelle befürchtete manchmal, dass dabei der Unterrichtsstoff zu kurz kommen könnte, aber die Schüler mochten den Lehrer und seine Geschichten und Michelle war es auch recht, wenn Max beim Mittagessen gut gelaunt war. Für den Lehrer selbst hatte diese Methode des Unterrichtens offenbar den Vorteil, dass er sich nicht ständig vorbereiten musste, sondern frei assoziierend ins Weite schweifen konnte. Michelle hatte sich vorgenommen, ihm genau das zum Vorwurf zu machen, sollte er einmal auf die Idee kommen, sie wegen Max einzubestellen. Womit leider irgendwann zu rechnen war, denn sie wusste nicht immer, ob Max seine Hausaufgaben richtig oder vollständig oder überhaupt machte. Bisher waren seine Leistungen noch mittelmäßig gewesen, aber mittelmäßig am Gymnasium konnte auch sehr schnell den Absturz bedeuten. Wenn sie abends aus der Kanzlei nach Hause kam, saß Max am PC oder vor dem Fernseher und während sie das Abendessen vorbereitete, erkundigte sie sich auch danach, ob er seine Aufgaben erledigt hatte. Natürlich war das, seinen eigenen Angaben nach, auch immer der Fall, nur hatte sie abends nicht mehr die Kraft, das auch noch zu kontrollieren. Sie musste sich auf ihn verlassen und ihm vertrauen können. Und momentan bestand ja sowieso kein Handlungsbedarf.
Offenbar hatte der Deutschlehrer, hoffentlich wenigstens ausgehend von einer Lektüre oder Ähnlichem, den Kindern etwas von Geheimbünden und Verschwörungen erzählt. Max berichtete Michelle von den Freimaurern, die überall, auch in Karlsruhe, ihre geheimen Treffen veranstalteten, wobei niemand wirklich wüsste, welche Rituale dabei stattfinden würden. Sie taten so, als ob sie harmlos wären, tatsächlich aber wusste man nicht, wie weit ihre Macht gehen könnte. Immerhin hatten sie es geschafft, ihre Symbole auf dem Dollar abzubilden, eine Pyramide und ein allsehendes Auge. Der Deutschlehrer hatte auch angedeutet, dass die Pyramide auf dem Karlsruher Marktplatz möglicherweise nicht nur ein Stück Architektur sei, sondern dass vielleicht auch hier die Freimaurer ihre Finger im Spiel gehabt haben könnten. Max erzählte noch irgendetwas von Rosenkreuzern, den Illuminaten und dann (und hier fand Michelle, dass der Deutschlehrer nun doch eindeutig zu weit gegangen war) von einer Geheimloge P2, die ganz Italien regieren würde, im Geheimen natürlich, und die Kontakte hätte zur Mafia, zum Vatikan und zu den Faschisten. Was wusste ein Sechstklässler schon vom Vatikan, von der Mafia und erst recht von den Faschisten? Hier hatte der gute Mann sich gewaltig verstiegen und Michelle nahm sich vor, ihm auch das bei Gelegenheit zu sagen, eben wenn er auf die Idee kommen sollte, sie wegen Max einzubestellen. Sollten die Leistungen von Max einmal nachlassen, dann könnte es auch daran liegen, dass sehr häufig kein geordneter Unterricht mehr stattzufinden schien. Mit der Geschichte vom Vatikan und der Mafia hatte der Lehrer die Kinder eindeutig überfordert. Das ging nun doch schon in den politischen Bereich und außerdem klang es sehr nach Gerüchteküche und Hörensagen.
Aber Max war noch nicht am Ende. Die Krönung des Ganzen war in seinen Augen eine Organisation, von der man noch nicht einmal wusste, ob es sie tatsächlich gab. Der Lehrer hatte behauptet, sie hieße einfach Omega, und ihr Zeichen sei der letzte Buchstabe im griechischen Alphabet und sehe so aus (Max zeichnete ein Ω in die Luft). Das sei nun tatsächlich so etwas wie eine geheime Weltregierung und gerade, dass man nicht einmal wüsste, ob sie tatsächlich existierte, zeige doch, wie mächtig sie sei. Das alles könne man übrigens auch bei Wikipedia nachlesen.
Der Gedanke an eine geheime Weltherrschaft hatte offenbar zumindest die Jungs in Max’ Klasse begeistert und Max selbst machte, als er davon erzählte, den Eindruck, als ob er ganz gerne Teil einer solchen Verschwörung wäre.
„Machen können, was man will, ohne dass einem was passieren kann! Geil!"
Michelle war nicht so begeistert, aber sie sagte nichts. Immerhin war Max ein Zwölfjähriger und hatte das Recht, sich für Abenteuer zu interessieren. Sie hätte sich aber gewünscht, dass ein Lehrer etwas seriöser mit Informationen umgegangen wäre, als es hier offenbar der Fall war. Es war schön, wenn es gelang, Schüler zu begeistern, aber bitte nicht auf Kosten des Unterrichts.
Von den Freimaurern und den Illuminaten hatte sie schon einmal etwas gehört, möglicherweise auch von P2 (war nicht ein italienischer Ministerpräsident im Ruf gestanden, Mitglied dieser Loge zu sein?).
Aber eine Organisation, die Omega heißen sollte, war ihr völlig unbekannt. Bei Gelegenheit würde sie einmal bei Wikipedia nachschauen.
Michelle
Michelle war vor drei Jahren von Frankfurt nach Karlsruhe gezogen, nachdem sie sich von Fred getrennt hatte, oder genauer gesagt: nachdem er sich von ihr getrennt hatte.
Sie hatte ihn vor dreizehn Jahren auf einer dieser Frankfurter Partys kennengelernt, wo sich Künstler, Börsianer oder Banker und Journalisten trafen. Fred arbeitete damals im mittleren Management einer großen Bank und war sich sicher, dass er aufsteigen würde. Und genau so war es dann auch gekommen. Seine saloppe Art, einen teuren Anzug zu tragen, mit weißem Hemd und offenem Kragen, hatte ihr gleich auf Anhieb gefallen. Er sah gut aus und als sie ihm zwei oder drei Blicke zugeworfen hatte, war er auf sie zugekommen.
Michelle arbeitete damals als Redakteurin und Sekretärin bei einem Börsenmagazin, obwohl sie kaum etwas von Finanzen verstand. Ihre Aufgabe war es, die sprachlich grausamen Texte in elegantes, lesbares Deutsch umzuformulieren und die reichlich vorhandenen Rechtschreibfehler zu eliminieren, zu denen die Finanzfachleute neigten. Das war alles, was von ihrem Germanistikstudium übrig geblieben war, aber sie konnte ganz gut davon leben.
Ihre Beziehung zu Fred war anfangs eher eine leidenschaftliche Affäre gewesen. Irgendwann hatte er vorgeschlagen, sie könne doch zu ihm ziehen. Ab da hatte ihre Beziehung festere Formen angenommen. Aber bald begann es auch zwischen ihnen zu kriseln. Im Grunde waren es die üblichen Streitereien um Alltägliches, kleine Machtkämpfe um die Vorherrschaft in der Beziehung. Oft endeten die Streitereien mit zugeschlagenen Türen und Fred schlief dann auf seinem Designer-Sofa, oder sie versöhnten sich, indem sie irgendwo in der Wohnung auf grobe Art Sex hatten.
Schließlich wurde Michelle schwanger. Fred war fassungslos; er hatte darauf vertraut, dass sie die Pille nehmen würde, wie sie vereinbart hatten. Aber an manchen Abenden oder in manchen Nächten, wenn sie mit Fred von einer der zahlreichen alkoholisierten Feiern nach Hause gekommen war, hatte sie es das eine oder andere Mal vergessen. Sie fragte sich später häufig, ob ihr Unterbewusstes ihr diesen Streich gespielt hatte, ob am Ende nicht ein heimlicher Kinderwunsch vorhanden gewesen war, der sich auf diese Art und Weise durchgesetzt hatte. Eigentlich hatte sie doch keine Kinder gewollt, oder? Auch ihre biologische Uhr hatte noch nicht zu ticken begonnen, immerhin war sie erst sechsundzwanzig Jahre alt. Sie kannte Frauen, die erst mit vierzig Jahren und mehr schwanger geworden waren und gesunde Kinder bekommen hatten. Aber manchmal hatte sie auf der Straße vielleicht etwas zu lange den Frauen mit Kinderwagen hinterhergesehen, zu lange sich am Anblick von Babys erfreut, wenn eine Mutter mit ihrem Kind im Park oder im Café neben ihr saß. Ob Fred der richtige Mann dafür wäre, hatte sie sich nie gefragt, denn die Frage nach einem Kind war nie zwischen ihnen im Raum gestanden und auch Michelle hatte sie sich nie bewusst gestellt.
Fred war nicht nur bestürzt, als sie ihm von der Schwangerschaft berichtete, sondern regelrecht verzweifelt. Dann fing er an zu toben. Das alles hatte sie seiner Meinung nach von langer Hand eingefädelt. Hatte sich einen gut verdienenden Typen gesucht und ihm dann ein Kind angedreht. Als ob er es nicht geahnt hätte! Es war zu gut gelaufen und jetzt das!
„Ich will kein Kind, hatte er gebrüllt, „such dir einen anderen Deppen!
Ihre Einwände, dass sie wirklich nichts dafür könne, dass es ein Versehen gewesen sei, ein Unfall quasi, von ihr nicht gewollt, ließ er nicht gelten. Sie hatte ihn, so sah er das, „über den Tisch gezogen und „eiskalt ausgetrickst
.
Schließlich versuchte er sie zu einer Abtreibung zu bewegen, aber sie hatte sich schon für das Kind entschieden. Nach und nach schien sich auch Fred an den Gedanken zu gewöhnen, Vater zu werden. Aber während Michelle einen unbändigen Appetit entwickelte und allmählich an Gewicht zunahm, wurde ihre ursprünglich leidenschaftliche Beziehung routiniert und bald auch lieblos. Fred blieb lange im Büro oder traf sich danach mit seinen Börsen-Kumpels in einer dieser Kneipen, wo er mit anderen Zockern ihre Tagesgewinne feierte oder den Frust über Verluste wegtrank.
Michelle durfte keinen Alkohol mehr trinken und Fred vermied es von da an, sich mit ihr auf Partys zu zeigen. Er fürchtete um sein Image des coolen Hundes. Michelle hatte ihn in seinen Augen und vor aller Welt an die Leine gelegt.
Sie war sich auch im Klaren darüber, dass er nie von sich aus das Thema Ehe ansprechen würde. Sie nicht zu heiraten würde seine Art sein, sich für den „Betrug" zu rächen.
„Ich bin nicht für die Ehe gemacht", hatte er früher einmal charmant lächelnd zu ihr gesagt.
Sie hatte das Thema von sich aus nicht mehr angeschnitten, auch dann nicht, als Max geboren war. Die ersten drei Jahre hatte sie den Mutterschutz beansprucht, dann hatte sie Max in einen Kinderhort gegeben und war wieder wie zuvor arbeiten gegangen. Am meisten schmerzte es sie, dass Fred offenbar nie eine wirkliche Beziehung zu Max entwickeln konnte. Er nahm ihn zwar auf den Arm, alberte mit ihm herum und manchmal schien auch so etwas wie Stolz oder Freude dabei im Spiel zu sein, aber Liebe war es wohl nie. Er hatte meist auch schnell genug davon und gab den Kleinen schleunigst wieder ab. Wenn Max schrie oder seine Aufmerksamkeit erforderte, wurde Fred bald ungeduldig und manchmal auch zornig. Seine bisherige Ruhe war nun ein für alle Mal gestört.
So lebten sie wie in einer ganz normalen Ehe. Sie brachten abwechselnd, je nachdem, wie es sich ergab, Max in den Kindergarten und später in den Hort. Aber auch darüber gab es immer wieder Streit: Wer hatte mehr Zeit dafür, mehr als der andere? Michelle besorgte auf dem Heimweg etwas für das kalte Abendessen und einmal in der Woche erschien eine Putzfrau. Mittags aßen sie getrennt: Fred in der Caféteria der Bank oder in einem Restaurant, Michelle im Büro und Max wurde im Hort versorgt. Gelegentlich luden sie am Wochenende Kollegen zum Essen ein oder wurden eingeladen. Wenn Fred abends zu Hause war, saß er oft in seinem Arbeitszimmer vor seinen drei Flachbildschirmen, die gleichzeitig eingeschaltet waren, einen Whisky in der Hand, und beobachtete irgendeine asiatische Börse. Anfangs leisteten sie sich noch gemeinsame teure Urlaube in der Karibik oder an der Côte d’Azur, später fuhr Michelle mit Max alleine weg, während Fred angeblich arbeitete. Es war ihr da aber auch schon egal, was er tatsächlich trieb. Gelegentlich hatten sie noch Sex miteinander, so wie man ein Wurstbrot isst, wenn man Hunger hat.
Als Max neun Jahre alt war, geschah das, womit Michelle schon eine Weile gerechnet hatte. Fred teilte ihr eines Tages mit, nachdem er während des Abendessens finster geschwiegen hatte, dass er eine andere Frau kennengelernt hatte. Ja, eine Kollegin, ja, auch eine etwas jüngere noch dazu, auch das, aber das tat nichts zur Sache. Er war bereit, Michelle die Wohnung zu überlassen, wenn sie es sich leisten könnte, aber er wusste sehr gut, dass sie das nicht konnte. Ein Anwalt, den sich Michelle daraufhin genommen hatte, informierte sie darüber,