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Hermes oder Die Macht der grauen Zellen: Roman
Hermes oder Die Macht der grauen Zellen: Roman
Hermes oder Die Macht der grauen Zellen: Roman
eBook339 Seiten4 Stunden

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen: Roman

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Über dieses E-Book

Altphilologe und Geschichtsprofessor Dr. Guido Hermes reist von München nach Leipzig, um auf der Buchmesse seinen Roman "Der Mischkrug" vorzustellen, in dem er versucht hat, die Idealvorstellungen aus Platons philosophischen Dialogen erzählerisch aufzubereiten. Der Roman findet kaum Interesse beim Publikum. Das im gleichen Verlag erschienene Sachbuch "Die Materie lebt" des Hirnforschers Dr. Eliya Singh wird dagegen als Bestseller gefeiert. Beide Autoren verfallen der erotischen Ausstrahlung der Fernsehjournalistin Dr. Herma Schäfer, die sich ihrerseits von der Altersreife des Professors genauso angezogen fühlt wie vom Forscherdrang des Neurowissenschaftlers, der in der Glaubensabhängigkeit die Ursache für alles menschliche Leid sieht. Die Gegensätze der Kontrahenten spitzen sich zu: Professor Hermes, gläubiger Katholik, verfolgt mit Sorge die Experimente des Rivalen, vor allem, weil dieser die Journalistin Herma für seine Forschungen zu manipulieren scheint.

Aktueller Hintergrund des Romans: Die letzten Geheimnisse unseres Gehirns sollen endlich gelüftet werden. Eine internationale "BRAIN-Initiative" fordert alle Hirnforscher der Welt dazu auf. Die Europäische Union will mit einem eigenen "Human-Brain-Projekt" bis 2020 das menschliche Gehirn endgültig "in Action" erforscht haben. Es geht unter anderem um die Klärung der äußeren Einflüsse, durch die neuronale Aktivitäten in und zwischen den Gehirnzellen ausgelöst werden und unser Denken, Fühlen und Handeln steuern: die multimediale Beeinflussung durch Funk und Fernsehen, durch Internetnetzwerke, durch Bücher und Publizistik.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Juli 2015
ISBN9783738032895
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    Buchvorschau

    Hermes oder Die Macht der grauen Zellen - Felix Heidenberger

    Buch 1 – Das Böse

    Der Herr sprach: Schreib auf, was du siehst, schreib es deutlich auf Tafeln, damit man es mühelos lesen kann. Denn erst für eine bestimmte Zeit gilt, was du siehst; es eilt der Erfüllung zu und wird nicht enttäuschen.

    Das Buch Habakuk (2,2–3)

    1

    Der ICE nach Leipzig rollte aus dem Münchner Hauptbahnhof. Professor Guido Hermes, emeritierter Ordinarius für Geschichte des Altertums und Autor gern gelesener Werke über die alten Griechen und Römer, sah nicht aus dem Fenster. Vergebens suchte er in der Literaturbeilage der Morgenzeitung seinen Namen oder den Titel seines neuen Romans. Enttäuscht legte er das Blatt beiseite. Sein Blick fiel auf den Mann ihm gegenüber. Erstmals nahm er den Fremden zur Kennt­nis. Ganz in Schwarz gekleidet sah er aus wie ein Kleriker. Nur der weiße Kragen, das runde Kollar, fehlt, dachte Hermes. Der blank polierte Glatzkopf würde zu einem Mephisto passen.

    „Professor Hermes?, sprach ihn der Herr mit leichter Verbeugung an. Er deutete auf den Namen des Reservierungsschildes über dem Platz des Professors. „Welche Ehre! Sie fahren auch nach Leipzig – zur Buchmesse?

    Hermes betrachtete den Mann in seiner hochgeknöpften, halbpriesterlichen Verkleidung genauer. Der Kahlkopf gefiel ihm durchaus nicht.

    „Ich darf mich vorstellen: Krumbiegel! Ich hatte auch reserviert. Welch ein Zufall! Fühle mich wirklich geehrt."

    Hermes warf einen Blick auf das Namensschild gegenüber. Der Name Krumbiegel sagte ihm nichts, schien aber passend zu dem Mann. Er schätzte ihn auf etwas über dreißig. Könnte mal Student bei mir gewesen sein, überlegte er.

    „Sie kennen mich nicht? Die Frage klang provozierend. „Macht nichts. Sie lesen keine Kriminalromane?

    „Tut mir leid." Hermes’ Interesse für derartige Literatur hatte bei Agatha Christie und George Simenon aufgehört, Sherlock Holmes war für ihn unübertroffen, Donna Leon nur als Film erträglich – wegen der Musik und des Venedig-Ambiente.

    „Macht nichts, wiederholte Krumbiegel. „Ist ja wohl auch eine Generationsfrage. Allerdings, er hob den Zeigefinger, „eine Statistik in Altenheimen hat ergeben, dass auch dort Krimis am meisten gefragt sind."

    „Wohl eher eine Geschmacksfrage", konterte der Professor. Dieser Pseudokleriker sah ganz so aus, als schriebe er solche Sachen.

    „Über Geschmack lässt sich ja gut streiten", meinte Krumbiegel, das Zitat verdrehend. „Was halten Sie von Dostojewski? Der schrieb auch Kriminalromane. Die Brüder Karamasow … und so."

    Hermes schüttelte den Kopf. „Das ist Literatur."

    Herr Krumbiegel lächelte diabolisch. „Immerhin, da geht’s auch um Mord und Totschlag. War mal ’n Bestseller. So was ist noch immer gefragt."

    „Da haben Sie allerdings recht. Das Böse hat Konjunktur. Der Professor griff nach der Literaturbeilage. „Zur Abwechslung mal wieder als Märchen. Er hielt seinem Gegenüber die Zeitung hin. „Haben Sie das gelesen? Ist für den Kinderbuchpreis nominiert."

    Krumbiegel nahm die Zeitung und warf einen Blick auf den Titel: Fingerli und das Böse – ein Märchen, aus der Hand zu lesen [s. Anhang].

    Mit dem geschärften Blick des Kriminalisten überflog der Erfolgsautor die abenteuerliche Geschichte des kleinen Fingers, der sich von seinen vier handsamen Brüdern löst, um eigenhändig den Unterschied von Gut und Böse zu entdecken, dabei in die Fänge der Versuchung gerät und am Ende erfahren muss, dass sich das Böse immer in Menschengestalt versteckt.

    „Interessant! Der Kriminalschriftsteller reichte die Zeitung zurück. „Könnte von mir sein. Ist aber nicht mein Stil. Er stand auf. „Werde mich mal im Zug umsehen. Vielleicht sind noch Kollegen aus der Branche da." Er grinste und verschwand.

    Professor Hermes atmete auf, froh, den Mann los zu sein. Möchte nicht wissen, was der für Mordgeschichten schreibt, dachte er. Bildet sich ein, ein zweiter Dostojewski zu sein! Gewohnheitsmäßig zupfte er an seinem eisgrauen Lippenbärtchen, das er sich am Morgen noch leicht gestutzt hatte. Die männliche Zier hatte er sich seit seiner Promotion vor dreißig Jahren stehen lassen, um sich ein würdigeres Aussehen zu geben. Seine Doktorarbeit über Die Deutung von Kriegsursachen anhand der Geschichtsschreibung des Thukydides hatte ihm damals viel Lob eingetragen.

    Er lehnte sich zurück, schloss die Augen, versuchte, seine Gedanken neu zu sammeln. Das arrogante Geschwätz seines Gegenübers hatte nicht dazu beigetragen, seine Missstimmung aufzubessern, die ihn seit dem Frühstück mit Cornelia, seiner Frau, befallen hatte.

    „Ich verstehe nicht, Guido, warum du dir das antust, auf diese Messe zu fahren, hatte sie gemeint. „Es bringt ja doch nichts.

    Cornelia verstand es nicht, verstand vieles nicht, hatte ihn eigentlich nie richtig verstanden. Hermes hatte sie nach einem kurzen Anfall von Leidenschaftlichkeit und den sich daraus ergebenden Folgen getreu seiner konservativen, gut katholischen Erziehung geheiratet. Die Ehe war nicht wirklich schlecht gewesen, aber es war bei dem einen Kind geblieben, einem Sohn, der längst den Reifegrad eines Kindes der Zeit erreicht hatte, was bedeutete, dass die geistigen Welten, in denen die beiden zu Hause waren, endgültig auseinandergedriftet waren. Eine Folge nicht zuletzt der Unfähigkeit des Vaters, seine Erzieherpflichten in den Kindheitsjahren wahrzunehmen und ein vertrauensvolles Verhältnis zum Sohn aufzubauen. Wäre sein Kind ein Mädchen geworden, hätte sich bestimmt manches anders entwickelt, sagte er sich oft. Guido hatte schon als Kind eine Schwäche für alles Weibliche gehabt. Als unschuldsvoller Jüngling war er, ohne Erfahrungen gesammelt zu haben, allzu früh Cornelias verführerischen Reizen verfallen. Er hatte für Liebe gehalten, was doch nur biologische Anziehungskraft gewesen war. Das Bekenntnis des Chorus mysticus aus Faust II: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan", war ihm Bestätigung seiner eigenen Empfindungen geworden. Alles männliche Gehabe, alle Kraftprotzerei, alles Militärische auch war ihm zuwider. Was ihn, obwohl grundlos, bald in zweifelhaften Geruch brachte. Ob der Versuch, diese Thematik in einem Roman mit dem vieldeutigen Titel Mischkrug abzuhandeln, sinnvoll war, erfüllte ihn im Nachhinein mit Zweifel. Selbst der Verlag, der bisher seine Sachbücher mit Er­folg herausgebracht hatte, hatte den Roman nur zögerlich ins Programm genommen.

    Während in seinem Kopf all diese Gedanken kreisten, hatte Hermes begonnen, in der Hamburger Wochenzeitung zu lesen, die er sich am Bahnhof gekauft hatte. Wie auf getrennten Schienen verlief beides – das Lesen und die reflektierenden Gedanken – nebeneinanderher. Er hätte nicht mehr zu sagen gewusst, was er eben gelesen hatte. Er legte die Zeitung beiseite, schaute zum Fenster hinaus. War Albert Einstein seine Idee zur Relativitätstheorie nicht erstmals beim Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zuges gekommen? Auf einem Feldweg, in einiger Entfernung parallel zum Gleis, sah Hermes ein Pärchen auf dem Fahrrad eng nebeneinanderfahren. Der Mann hatte einen Arm um die Schulter der Frau gelegt, mit dem anderen hielt er seinen Lenker. Hatten sie keine Angst, sich gegenseitig zu behindern? Vorbeihuschende Bäume löschten das Bild. Was hätte wohl Einstein gesagt? Ich sitze, bewege mich nicht; der Zug bewegt sich, von links nach rechts; die Landschaft bewegt sich, am Fenster, von rechts nach links; in der Landschaft bewegen sich zwei Radfahrer, von links nach rechts fahrend: In welchem Verhältnis stehen da Zeit und Geschwindigkeiten zueinander?

    Die Gleichzeitigkeit des Denkens mit unterschiedlichem Sehen und Handeln wurde ihm bewusst. Wie beim Autofahren, sagte er sich: Du fährst mal nach links, mal nach rechts, achtest auf den Verkehr − und denkst dabei an ganz etwas anderes.

    Hermes schloss die Augen, lehnte sich zurück. Ein anderes Bild leuchtete auf: Herma! Die Erinnerung an diese Frau hatte ihn nicht mehr losgelassen. Vergangenes Jahr war er erstmals auf der Buchmesse gewesen. Sein Verlag hatte ihn eingeladen, sein neues Buch über die Frauenfrage im alten Rom persönlich vorzustellen. Das Buch war ein bescheidener Erfolg geworden. Die Pressekonferenz mit anschließender Signierstunde hatte den Auftakt gegeben. Im Handumdrehen waren die Freiexemplare für Journalisten vergriffen gewesen. Als Letzte war Herma gekommen, hatte sich als Redakteurin vom MDR ausgewiesen und um ein Autogramm gebeten. Schon während der Pressekonferenz war ihm die junge Frau aufgefallen. Diese vollen, kirschrot geschminkten Lippen waren nicht zu übersehen gewesen. Unverwandt hatte sie ihn angestarrt. Ihre Augen hatten sich getroffen. Kurz nur. Doch es war der Anfang gewesen.

    Als Fragen zum Buch gestellt wurden – unsinnige Reporterfragen über Tempelprostitution im alten Rom, die Rolle der Sklavin als Nebenfrau und mit welcher Politikerin von heute der Herr Professor die Agrippina vergleichen würde –, hatten sich Hermas schöne Lippen verächtlich gewölbt. Dann war sie vor an seinen Tisch gekommen, das Freiexemplar aufgeschlagen für ein Autogramm hinhaltend, und hatte leise gesagt: „Ich bewundere Sie!"

    Noch jetzt, ein Jahr später, spürte Hermes Herzklopfen bei der Erinnerung. Wie sie ihn angeblickt hatte! Hingebungsvoll, dass es ihm einen Stich versetzt hatte. Unter seinen Studentinnen waren oft junge Frauen gewesen, die ihn angehimmelt hatten. Und er hatte den Reiz ihrer weiblichen Ausstrahlung gespürt. Die Versuchung, sich da auf etwas einzulassen, war groß gewesen. Doch die Vernunft war immer stärker. Diesmal jedoch war er nahe daran gewesen, sich dem so lange unterdrückten Verlangen auszuliefern. Lag es an seinem Alter von über sechzig? Durfte er jetzt schwach werden?, hatte er sich gefragt. Es war nicht dazu gekommen. Wie würde es diesmal sein?

    Professor Guido Hermes fuhr zwar zur Buchmesse nach Leipzig. In Wahrheit jedoch fuhr er zu Herma, die Versuchung noch einmal zu wagen.

    2

    Während Hermes den Ereignissen entgegenrollte, drängte an diesem Eröffnungstag bereits das Publikum durch die Hallen der Buchmesse wie Verhungernde auf der Suche nach Nahrung. Für jeden Geschmack gab es etwas. Die Wissbegierigen fanden in der Sachbuchabteilung ihr Futter; diejenigen, die es mehr nach Fleischlichem verlangte, suchten bei Belletristik; die vom Gutsein Gelangweilten nach knallhart Gewürztem aus der Unterwelt; für nach Liebe Dürstende – oder was man so nennt – war reichlich Buntes im Angebot; nach Seelenspeise Hungernde trafen sich in der Esoterikabteilung. Überraschend großer Andrang herrschte bei den Wortabstinenzlern, wo statt Sprache das Bild als virtuelle Nahrung verspeist werden konnte.

    Am Stand des C. H. Buchmann Verlages strömte die Menge vorbei. Nur hin und wieder streifte ein Blick die Reihe der Neuerscheinungen. Der Name Guido Hermes auf einem der Titel fiel manchem auf. Sein Werk über die Frauenfrage im alten Rom war letztes Jahr fast ein Bestseller gewesen. Doch das Gedränge schob die Menschen weiter. Schließlich blieb ein älterer Herr stehen und ließ sich das neue Buch von Guido Hermes zeigen.

    Der Titel Mischkrug sagte ihm nichts. „Ein Roman?, stellte er überrascht fest. „Wusste gar nicht, dass Hermes auch Romane schreibt.

    „Sein erster!", erklärte die junge Dame vom Verlag, die den Stand betreute.

    Der Herr blätterte ein wenig, kehrte schließlich zur Widmung am Anfang zurück und las:

    Es ist gleich ungesund, unvermischten Wein oder pures Wasser zu trinken. Wein mit Wasser vermischt hingegen schmeckt vorzüglich. Ähnlich hängt es auch vom Aufbau der Erzählung ab, ob sie den Geist des Lesers erfreut. (2 Makk 15, 39)

    „Worum geht’s in dem Buch?, fragte der Herr unsicher. „Ums Trinken?

    „Oh nein, flötete die junge Dame. „Es ist ein philosophisches Werk. Spielt im alten Athen.

    Er reichte das Buch zurück. „Aha!", sagte er und entfernte sich.

    Eine Dame, aufmerksam geworden, trat näher und bat, sich das Buch ebenfalls ansehen zu dürfen. Auch sie blätterte darin, las kopfschüttelnd die Widmung und den Text auf der Umschlagrückseite.

    Der Kratér, der tönerne Mischkrug, in dem nach altgriechischem Brauch der Wein mit Wasser vermischt wurde – der Bekömmlichkeit willen und der Trunkenheit vorzubeugen –, ist dem Altphilologen Guido Hermes auch Maßstab für gerechte Ausgewogenheit im Umgang der Menschen miteinander wie auch im Verhältnis der Völker und Staaten zueinander. In der romanhaften Bearbeitung von Platons Dialogepos Politeia (Der Staat) entwickelt sich das Kräftespiel der Gegensätzlichkeiten zu einem spannenden und unterhaltsamen Wettstreit der Meinungen. Ein philosophisch tiefgründiges Werk von zeitloser Gültigkeit.

    Die Dame las es noch einmal. Scheu lächelnd legte sie das Buch beiseite. „Ist nicht das, was ich suche, sagte sie. „Schade.

    Lebhafter ging es am anderen Ende der Halle zu, wo Krimiverlage einen Gemeinschaftsstand hatten. Eine Menschentraube hatte sich vor der Nische gebildet, in der Kameras und Scheinwerfer aufgebaut waren. Ein bekannter Autor sollte interviewt werden. Das Opfer sah allerdings nicht so aus, als könne es die grausigen Geschichten geschrieben haben, die seinen Namen berühmt gemacht hatten. In seinem schlichten Konfektionsanzug mit gestreifter Krawatte glich er eher einem kleinen Beamten. Vom Scheinwerferlicht geblendet blinzelte er ins Publikum. Nervös rückte er die umrandete Brille zurecht, die ihm ständig auf die Nase rutschte.

    „Kommissar Vanderbilt – ist das Ihr wirklicher Name?", eröffnete der Fernsehmann das Gespräch.

    „Ein Pseudonym", antwortete der Autor unwirsch.

    „Ihren richtigen Namen wollen Sie uns nicht sagen?"

    „Nein. Der spielt keine Rolle."

    „Aber Sie sind – oder waren einmal – Polizeikommissar?"

    „Nein. Der Titel gehört zum Pseudonym."

    „Gut. Dann bleiben wir bei Vanderbilt. Der Kulturredakteur schmunzelte verbindlich. „Herr Vanderbilt, können Sie uns erzählen, wie Sie darauf kamen, Kriminalromane zu schreiben?

    Der Pseudokommissar schob die Brille hoch. Zufrieden, endlich zur Sache kommen zu können, fing er an: „Nach dem Tod meiner Eltern vor einigen Jahren fand ich auf dem Speicher einen Karton mit solchen Heften. Sie wissen schon: diese billigen Hefte, die es früher mal gab. Es waren die Abenteuer von Tom Shark und seinem Freund Pit Strong. Offenbar hatte sie mein Vater in seiner Jugend gelesen und dann vor mir versteckt. Es waren Kurzkrimis, geschrieben von Pit Strong, dem Assistenten von Tom Shark, einem Privatdetektiv. War natürlich auch ein Pseudonym. Vorbild für die beiden dürften Sherlock Holmes und sein Partner Dr. Watson gewesen sein. Das hat mich darauf gebracht, auch so etwas zu schreiben."

    „Das heißt, Sie haben nachgemacht, was ein anderer schon vor Ihnen nachgemacht hatte?"

    „Nein. Ich habe nichts nachgemacht. Ich brauchte keinen Partner. Ich schreibe alles selbst."

    „Ja. Kommissar Vanderbilt erlebt alles selbst. Sie schreiben ja in der Ich-Form. Wie schaffen Sie das?"

    „Man braucht doch nur in die Zeitung zu schauen. Lug und Betrug, Mord und Totschlag sind an der Tagesordnung. Ist wie eine Speisekarte. Ich wähle mir einen Fall aus, der Rest ist dann Fantasie."

    „Ihre Fantasie ist in der Tat beachtlich. Aber diesen unheimlichen Jack Mori, Präsident der Unterwelt, der in all Ihren Romanen vorkommt, haben Sie nicht erfunden. Der kommt schon bei Sherlock Holmes vor. Da heißt er allerdings Professor Moriarty. Ist es nicht so?"

    „Richtig. Doch Moriarty ist verschwunden. Ich hab ihn wiederentdeckt. Jetzt nennt er sich nur noch Jack Mori. Er ist unsterblich."

    „Ohne dieses Verbrechergenie scheinen Sie nicht auszukommen. Mori bleibt aber immer im Hintergrund – wie die Spinne im Netz, die die Fäden der Handlung knüpft. Keiner hat Mori je zu Gesicht bekommen. Sie beschreiben nicht, wie er aussieht. Warum?"

    „Er ist das personifizierte Böse." Vanderbilt setzte sich in Positur, als müsse er die Feststellung unterstreichen.

    Der Redakteur beugte sich vor und betrachtete sein Gegenüber, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Sind nicht vielleicht Sie selbst dieser Jack Mori?"

    „Was fällt Ihnen ein! Vanderbilt gab sich entrüstet. „Verwechseln Sie nicht den Autor mit den Figuren seines Romans!

    „Nun – Sie selbst haben sich ja zu einer Romanfigur gemacht, Kommissar Vanderbilt, konterte der Fernsehmann. „Im Roman betonen Sie immer wieder – als Kommissar Vanderbilt –, Sie könnten einen Fall nur lösen, wenn Sie sich ganz in die Person des Täters versetzten. Es geht so weit, dass Kommissar Vanderbilt in einem Fall sogar schon kurz davor ist, den gleichen Mord zu begehen, den er aufklären will.

    „Ganz recht."

    „Das ist Ihre Masche, wenn ich so sagen darf. Das Rezept Ihres Erfolges. Ihr eigenes Rezept?"

    „Ich weiß, worauf Sie anspielen. Es war auch die Methode von Father Brown, einer Kunstfigur von Chesterton. Aber diesem Pater Braun – die Figur spukt ja noch immer herum – ging es um die Seele des Täters. Er wollte den Verbrecher unbedingt katholisch machen. Deshalb musste er sich seiner Seele bemächtigen. Kommissar Vanderbilt will keine Seelen retten. Er will das Böse vernichten."

    „Dabei verzichtet er auf die forensischen Hilfsmittel, wie sie bei Kriminalromanen heute üblich sind: Computernetzwerk, DNA-Analysen, Lügendetektor und all den technischen Schnickschnack, wie er sonst in Krimis vorkommt. Warum?"

    „Wie gesagt – oder habe ich es noch nicht gesagt? –, den Kampf gegen das Böse, gegen das Verbrechen kann man nicht mit Waffen und auch nicht mit raffiniertesten technischen Mitteln gewinnen, sondern allein, indem man die Wurzel des Bösen im Menschen bloßlegt."

    „Das geht aber bei Ihnen offensichtlich nicht, ohne dass Sie sich in Ihren Romanen ausführlich mit der Beschreibung der schlimmsten, gemeinsten und abscheulichsten Untaten beschäftigen."

    „Man muss das Böse beim Namen nennen. Finden Sie nicht?"

    „Nun ja. Jedenfalls schätzen das Ihre Leser."

    Das Publikum spendete Beifall. Der Redakteur nahm die Unterbrechung wahr, das Interview zu beenden. „Herr Vanderbilt, ich danke Ihnen für das kurze, aufschlussreiche Gespräch."

    Die beiden Herren erhoben sich von ihren Sitzen und verschwanden hinter der Kulisse einer Bücherwand. Das Gedränge der Zuschauer löste sich auf. Nur wenige harrten aus, um vielleicht noch einen Blick auf den Autor zu erhaschen oder gar ein Autogramm.

    Zwei junge Leipzigerinnen, die gestutzten Haare grell gefärbt, lila die eine, giftgrün die andere, hatten auch applaudiert, zögerten aber unentschlossen. „Wie findst’n den?, wandte sich die Lilagefärbte an ihre grüne Begleiterin. „Ich find’n gut. Seine Romane hab’ch alle gelesen. Den letzten verfilmen se sicher wieder.

    „Man sieht’s ihm gar nich an, sagte die Grüne. „Hatte mir den Kommissar Vanderbilt andersch vorgestellt. So wie im Film – als richtchen Kerl.

    „So wie hier is er aber in echt, meinte die andere. „Der Kommissar is ja nur ne Erfindung.

    „Wie der Jack Mori, der Präsident der Unterwelt. Im Film is der immer nur ’n Schatten."

    „Vielleicht gibt’s den gar nich."

    „Doch, sicher, meinte die Grüne. „Der kommt doch in jeder Geschichte vor.

    „Ja, aber nur als Einbildung."

    „Das personifizierte Böse. So hat er gesagt."

    „Ebende, gab Lila zu. „So was gibt’s ja in Wahrheit gar nich.

    Jemand stand dicht hinter den beiden Frauen und machte sich bemerkbar. „Entschuldigen Sie, dass ich mitgehört habe. Sie lesen wohl viel Kriminalromane?"

    Die Punkys wandten sich um, leicht erschrocken über das Aussehen des Fremden. Die grauen Haare hingen ihm in Strähnen bis über die Schultern, der buschige Schnurrbart verdeckte den Mund. Ein grün gestreifter Kapuzenmantel ließ ihn wie einen Mönch oder Gesundheitsapostel erscheinen. Die Augen blickten starr, als wolle er die Frauen hypnotisieren.

    „Ja. Warum?", antworteten beide.

    „Das sollten Sie nicht, sagte er eindringlich. „Sie vergiften sich mit dem Bösen.

    Beide lachten. „Keene Angst, sagte Lila, die etwas Ältere. „Bis jetze hat’s mer noch nich geschadet.

    „Mir ooch nich", pflichtete Grün bei.

    „Oh – Sie merken es erst, wenn es zu spät ist, sagte der Apostel. „Sie müssen gute Bücher lesen: über das Schöne in der Welt – und über die Liebe! Er schnalzte mit der Zunge.

    „Hauen Se ab! Sie belästigen uns", herrschte ihn Lila aufgebracht an. Sie sah, dass der Kapuzenmann ein Bündel Zettel in der Hand hielt – Werbung für Porno oder Erotikzeug, wie sie vermutete.

    Der Mann reichte ihr einen der Zettel. „Sie denken Schlechtes über mich, sagte er betrübt. „Ich sehe es Ihnen an. Ein Zeichen, wie sehr Sie schon vergiftet sind. Hier – lesen Sie das! Er drängte ihr den Zettel auf. „Es ist nichts Schlechtes." Damit verschwand er in der Menge.

    Gemeinsam warfen die Frauen einen Blick auf den Zettel. Es war ein buntes Flugblatt. Auf hellgrünem Grund leuchteten mit Blättern umkränzte Blumen, im Gezweig zwitscherten Vögel. So umrandet stand dort mit zierlicher Handschrift:

    Wir bewundern die Schönheit der Natur, die Schönheit einer Rose, auch wenn sie Dornen hat; die Schönheit eines Tigers, auch wenn er ein Raubtier ist; die Schönheit von Bergen und Seen: Die ganze göttliche Schöpfung ist schön. Sie ist schön, weil sie gut ist – im Gleichgewicht immer, harmonisch, zweckmäßig.

    Auch der Mensch, Krone der Schöpfung, ist schön in seinem Körper, solang er gesund ist, denn er ist Teil der Natur. Wird er krank, wandelt sich das Schöne zum Schlechten, das Gute zum Bösen. Deshalb wacht der Mensch über seinen Körper, damit er gesund bleibt. Auch über seinen Geist muss er wachen, denn der Geist – sein Verstehen, Denken und Leiten – herrscht über sein Handeln. Lässt er Schlechtes einfließen in seinen Geist, wird schnell auch sein Denken schlecht und böse sein Handeln. Deshalb soll sein Denken immer nur gut sein und verschlossen gegen das Schlechte und Böse. Dann geht es auch ihm gut. Dabei helfen will Ihnen

    Ramatullah Kashmir

    Naturarzt und Heilkundiger

    Halle 4, Esoterik-Stand

    „Ne Werbung, stellte Lila fest. „Der schreibt wahrscheinlich Bücher über so’n Quatsch. Sie wollte den Zettel wegwerfen, die Freundin nahm ihn ihr ab.

    „Lass mal! Ich schau mir das mal an in Halle 4."

    3

    Als der ICE aus München in Leipzig eintraf, begann es bereits zu dunkeln. Professor Hermes nahm sein Handgepäck, um auszusteigen. Sein Reisebegleiter, der so merkwürdig in Schwarz gekleidete Herr Krumbiegel, war vorzeitig aufgestanden, damit er als Erster an der Tür war. Er schien es eilig zu haben, war schon außer Sicht, als Hermes den Bahnsteig betrat. Der Mann hatte während der Fahrt bald gemerkt, dass Hermes wenig Wert auf seine Gesellschaft legte. Beide hatten abwechselnd den Speisewagen aufgesucht, um sich aus dem Weg zu gehen, und sich während der Zeit des Einander-Gegenübersitzens mit Reiselektüre beschäftigt.

    Ein letzter Versuch des Kriminalschriftstellers, mit dem wortkargen Professor ins Gespräch zu kommen, war bereits kurz hinter Ingolstadt gescheitert, als Krumbiegel ihn wenig geistreich gefragt hatte, welche Automarke er bevorzuge – BMW oder Audi? Hermes hatte den Mann groß angeschaut, nur gemurmelt: „Haben Sie etwas gesagt?" Da hatte Krumbiegel aufgegeben.

    Im vergangenen Jahr war Professor Hermes im Hotel Leipziger Hof abgestiegen. Er hatte auf gut Glück gebucht, in der Annahme, es müsse etwas Ähnliches sein wie der Bayerische Hof in München. Als ihn dann das Taxi vor dem Eingang absetzte, hatte er geglaubt, der Fahrer habe sich in der Adresse geirrt. An der grauen Fassade des vierstöckigen Mietshauses prangte weder ein Hotelschild, noch stand ein livrierter Portier bereit, ihn zu begrüßen.

    Wie sich herausstellte, hatte hier ein Hausbesitzer aus der Hotelnot in der wieder aufstrebenden Messestadt eine Tugend gemacht und den Altbau in eine Herberge der besonderen Art verwandelt. Aus den Wohnräumen waren nummerierte Einzel- und Doppelzimmer geworden, es gab nur Frühstück, kein Restaurant – als besonderen Clou aber eine monatlich wechselnde Bildergalerie im Treppenhaus und in allen Zimmern. „Hier schlafen Sie mit einem Original", lautete der originelle Werbeslogan für das Hotel. Der Besitzer, offensichtlich Kunstliebhaber, gab sich als bescheidener Mäzen. Die beinahe familiäre Atmosphäre des Hauses hatte dem Professor schließlich so gut gefallen, dass er wieder hier gebucht hatte – diesmal allerdings ein Doppelzimmer.

    Der Mann in gestreifter Dienerweste am Rezeptionstisch erkannte Hermes sofort wieder. „Willkommen, Herr Professor, strahlte er. „Schön, dass Sie wieder zu uns kommen. Diesmal mit Frau Gemahlin? Er äugte nach der Tür, die Frau erwartend.

    „Ach, meine Frau konnte leider nicht mitkommen, sagte Hermes betrübt. „Ist plötzlich krank geworden.

    Der freundliche Empfangschef hatte bereits den Schlüssel für das Doppelzimmer vom Brett genommen. Er zögerte. „Möchten Sie umbuchen? Wir haben gerade ein Einzelzimmer frei. Zufällig."

    „Nein, nein. Nicht nötig, sagte Hermes schnell. „Ich bleibe schon dabei. Das Doppel ist ja doch geräumiger.

    Der Mann nahm ihm die Reisetasche ab und geleitete ihn zum Lift. „Reiner Zufall, dass noch was frei ist, meinte er. „Der Gast musste plötzlich abreisen. Ein Todesfall, glaube ich. Wir sind ja fast immer ausgebucht, zur Messezeit sowieso.

    Sie fuhren gemeinsam nach oben, erster Stock. Hermes kannte sich aus. Neben dem Lift ging es ins Treppenhaus, eine Stufenspirale nach unten und oben. Farbige Bilder zierten die Wand. Die Anordnung der Zimmer war wie in einem Wohnhaus. Ein kurzer Gang führte zu Tür Nummer

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