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Ein halb versunkener Hund
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eBook231 Seiten3 Stunden

Ein halb versunkener Hund

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Über dieses E-Book

Dieser Roman schildert die geheimnisvolle Verbindung zwischen der expressionistischen Malerin Sidonie Bächler und dem Wunderkind Lude Frey. Die Künstlerin fällt durch ihren Lebenswandel den Nationalsozialisten auf und wird mit einer bewusst falschen Diagnose in eine "Heil- und Pflegeanstalt" eingewiesen, wo sie der Euthanasieaktion des Regimes zum Opfer fällt. Jahrzehnte später wird Frey, ein malendes Genie, psychisch krank. Er wird nach "Schloss Fürstenau" verbracht, eine ebensolche Einrichtung, in der einst das industrielle Töten von Menschen begonnen hatte. Seit Langem schon empfindet er die halb vergessene Sidonie Bächler als seine legitime Schwester.
Christoph Lippelt verbindet die Lebenswege zweier gefährdeter Extremcharaktere in verschiedenen Zeiten und politischen Systemen. Aber er zeigt auch besonders jene Menschen, die sich mit all ihrer Kraft gegen die inneren und äußeren Katastrophen ihrer Zeit anstemmen.
SpracheDeutsch
HerausgeberLindemanns
Erscheinungsdatum1. Dez. 2014
ISBN9783881908481
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    Buchvorschau

    Ein halb versunkener Hund - Christoph Lippelt

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    Christoph Lippelt

    Ein halb versunkener Hund

    Roman

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    Das Vergangene ist nie tot –

    es ist nicht einmal vergangen.

    William Faulkner

    Die Menschen und die Landschaften

    in diesem Roman sind Erfindungen.

    Die geschilderten Schicksale

    gibt es so in der Wirklichkeit nicht,

    obgleich sie in der unergründlichen Tiefe

    der Zeit vorstellbar wären.

    1

    Über Ludger Hyazinth von Freyenfeld, der sich Lude Frey nennt, und die Personen, mit denen er auf Schloss Fürstenau Umgang hat.

    Sie waren zu viert. Zwei Frauen und zwei Männer. Sie hatten sich in den vergangenen Monaten schon oft vor dieser Tür getroffen. Vor dem Rumor hinter dieser Tür. Sie waren die Verantwortlichen. Die Hausmutter, die Flurmutter, der Schlossvater, der Vogt. Anastasia Kolumzik, Erika Hattenkerl, Hans Ströhle und Wilhelm Wirth.

    Man nannte sie: „’s Gretle, die „Kerl, „Adolf und der „Hammer.

    Die Kolumzik mag sein wegen ihres langen blonden Zopfes, den sie zum Kranz um ihren Kopf geschlungen trug. Die Hattenkerl wegen ihres Namens und ihrer stattlichen, säulenartigen Figur. Ströhle vielleicht, weil er in diesem anrüchigen Nazi-Schloss der Chef war, dunkles, straff gegeltes Haar mit Seitenscheitel und immer graue Anzüge mit Krawatte trug. Damit ähnelte er, auch ohne Oberlippenbärtchen, jenem anderen Adolf durchaus ein wenig. Und Wirth wohl wegen seiner Werkzeuge und seiner unglaublichen Kraft.

    Spitznamen, die sich so herausgebildet hatten, an Neuankömmlinge weitergegeben wurden und die auch der Verwirrteste und Behindertste, selbst wenn er sie nicht aussprechen, ja womöglich gar nicht hören konnte, schnell kapierte.

    Offiziell waren die Pfleglinge gehalten, die Hüterinnen mit „Mutter, den Leiter mit „Vater und den Hausmeister, der hier Vogt hieß, mit „Herr Vogt anzureden. Auch das taten sie, wenn sie es konnten und verstanden, gerne und oft. So brabbelten, riefen, jauchzten sie vielmal hintereinander „Mutter-Mutter-Mutter, „Vater-Vater-Vater", sinnlos scheinbar, aber vielleicht erinnerten sie diese Worte doch an ihr verlorenes Zuhause. Manchmal schimpften sie auch mit ihnen. Verzerrten, verstöhnten, verknirschten sie, konnten mit ihnen schluchzen. Die Spitznamen jedenfalls waren einfacher als die bürgerlichen, sie machten Spaß, und die Pfleglinge hatten sozusagen etwas Eigenes.

    Die Hüterinnen waren keine Unmenschen. Sie waren durchweg zwischen vierzig und fünfzig, ledig, sehr stabil gewachsen und hatten alle einen Kurs in Selbstverteidigung hinter sich, der regelmäßig wiederholt wurde. So konnten sie bei Widerstrebenden kräftig zupacken und bei aufflammender Aggression blitzschnell reagieren. Aber das geschah äußerst selten, denn eine Grundmedikation sänftigte die Pfleglinge durch die Bank.

    Bis auf einen, der versuchsweise gar nichts bekam.

    So waren diese leicht bedrohlich aussehenden Mütter alles andere als eine Bedrohung. Im Gegenteil. Sie walzten mit ihren umfänglichen Leibern, die in hochgeschlossene, hellgraue Kleider mit dunkleren Umschlägen gehüllt waren, mit einer Ruhe, die jeden Widerspruch im Keim erstickte, durch die Flure. Die Füße leicht auswärts gestellt in schwarzen, halbhohen Schuhen, die beim Gehen hackende Geräusche erzeugten. Sie trugen keine Hauben, bis aufs Gretle, einheitlich kurz geschnittenes Haar, keinerlei Schmuck und knapp unter der Gurgel ein dreikommafünf Zentimeter großes, rundes Abzeichen mit zwei roten, stilisierten Händen, die ein rotes Gesicht umfassten, auf weißem Grund.

    Das waren die Vorschriften.

    Sie gehörten dem evangelischen „Bund der Barmherzigen" an und konnten es sich leisten, freundlich und zugewandt zu sein, zuhörend und tröstend.

    Und wenn alle Stricke rissen und tatsächlich einmal ein Pflegling, etwa eine irritierte Neuaufnahme, ausflippte, war da immer noch Wilhelm Wirth, der Vogt.

    Ein merkwürdiges Männlein.

    Spindeldürr mit graugelblicher Haut, wenigen Kringelhaaren auf dem nackten Schädel und immer ein bisschen gekrümmt. Er hatte eine mächtige Nase und ein ebensolches Kinn, hinter denen sich sein übriges Gesicht sozusagen verlor, obgleich da noch eine dickglasige Brille vor zusammengekniffenen Augen zu finden war und vorstehende Zähne, die unter seiner Oberlippe hervorsahen.

    Bemerkenswerter jedoch waren seine riesigen Hände und Füße. Und diese Hände ersetzten glattweg einen Schraubstock. Doch ungeachtet seiner körperlichen Kräfte war Wilhelm Wirth ein ungemein ängstlicher Mensch. Wenn man ihn nur ansprach, zuckte er schon zusammen und schien sich fort zu ducken. Und wenn er selbst einmal etwas sagte, fuchtelte er dabei so mit den Armen in der Luft herum, als wollte er etwas von sich wegscheuchen. Als man in seiner Jugend versucht hatte, ihm die Zähne zu regulieren, war er vor Schreck in solch wilde Krampfzustände gefallen, dass man sehr schnell die Finger von ihm gelassen hatte.

    Unsichtbar unter seinem blauen Anton trug er stets eine zusammenschiebbare Stahlrute und ein flaches Elektroschockgerät mit sich herum. Nur so fühlte er sich einigermaßen sicher. Er hatte diese Dinge noch kein einziges Mal benutzt und war auch im Übrigen friedfertig und zuverlässig. Man nannte ihn den „Hammer", weil er eigentlich immer irgendein Werkzeug in seinen gewaltigen Händen hielt. Dass allerdings sein Zeugungswerkzeug ebenfalls ein wahrer Hammer sein sollte, war eher ein Gerücht.

    Ströhle war etwas undurchsichtig, von korrekter, leicht steifhüftiger Freundlichkeit und immer wie aus dem Ei gepellt. Als Chef des Ganzen hielt er deutlich Abstand zu den anderen, hatte eine leise Stimme und setzte durch, was er durchsetzen wollte.

    Es hieß, er komme aus kleinen Verhältnissen, habe sich bei der Kirche hochgearbeitet, sei geschieden und mit Anastasia Kolumzik näher bekannt. Genaueres wusste man nicht.

    Aber es war da etwas mit seinen Augen.

    Ganz selten veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck hinter der randlosen Brille. Man glaubte dann in schwarze ausgestanzte Löcher zu sehen, aus denen ein so eiskalter Hauch zu wehen schien, dass man eine Gänsehaut bekam. Ströhle hatte auch das Experiment mit Lude Frey, oder wie man den Umgang mit diesem Pflegling nennen sollte, erdacht und begonnen.

    Nicht recht klar war auch, warum er den Spitznamen „Adolf" bekommen und wer ihn zuerst so genannt hatte.

    Überhaupt diese Gerüchte, Ahnungen, halben Kenntnisse über Schloss Fürstenau.

    Die Gebäude waren alle renoviert, hell, freundlich, modernisiert, es herrschte ein milder Ton und die Pfleglinge schienen sich wohlzufühlen. Alle Angestellten gehörten eben diesem „Bund der Barmherzigen" an und waren lange nach dem Krieg geboren. Keine einzige Familiengeschichte wies Bezüge zu den schrecklichen Geschehnissen von Fürstenau auf.

    Und doch war es, als seien die Mauern, Decken, Böden, Türen, die ganze Gegend ringsum für immer getränkt von Entsetzen, Qual, Niedertracht und Mord. Als würden das Grauen und die Vernichtung untilgbar aus Häusern, Wiesen und Waldstücken steigen und in die Lebenden eindringen.

    Alle Angestellten ahnten das mehr oder weniger, fragten sich wohl auch manchmal, warum man ausgerechnet dort wieder eine Anstalt für Behinderte und psychisch Kranke eingerichtet hatte. Aber dabei blieb es.

    Vielleicht litt Ströhle am meisten, weil er sich manchmal durchaus vorstellen konnte, dass er auch damals Direktor hätte sein können und das systematische Morden geleitet hätte. Das erschreckte ihn immer wieder. Sein Verhältnis zu den Pfleglingen war geprägt von Ekel und eisern durchgehaltenem Mitleid. Von dem Unverständnis über die Irr und Wirrwege der Natur und dem unbedingten Wunsch, der Entartung so etwas wie eine erzwungene Normalität entgegenzusetzen.

    In dieser Zerrissenheit war ihm Ludger von Freyenfeld, der sich seit kurzem Lude Frey nannte, wie ein Geschenk des Himmels erschienen. An diesem Prachtkerl und sanften Berserker wollte er ein Exempel statuieren. Obgleich Freyenfeld schizophren war, setzte Ströhle doch bei den Begriffen „Genie und Irrsinn ganz auf „Genie und wollte beweisen, dass, wenn man das Genie nur ganz und gar behütete – auch vor dem eigenen Irrsinn behütete –, sich dieses zur Freude aller entwickeln würde.

    Der visitierende Psychiater allerdings war skeptisch.

    Wenn man die Medikamente absetzte, könnten das Bilderstürmen und die Stimmenwirbel den Ludger durchaus in den Suizid treiben, zumindest seine Genialität lähmen und verschütten, statt sie zu fördern, gab er zu bedenken. Doch er wusste das auch nicht so genau.

    Der Pflegling Freyenfeld hatte sich jeglicher Gesprächstherapie verweigert und was Doktor Liebrecht von dessen Zuständen wusste, hatte er als einer der Lauscher an der Tür mitbekommen, hinter der sein sonst stiller und in sich gekehrter Patient manchmal gegen seine optischen und akustischen Halluzinationen antobte und -brüllte. Und das in so wilder Intensität und wirrem Durcheinander, dass er sich vorgenommen hatte, das Geschrei zum besseren Verständnis, vielleicht auch um daraus einen Therapieansatz abzuleiten, aufzuzeichnen und zu analysieren.

    Zu diesem Zweck hatte man dem Ludger nicht etwa ein Aufnahmekästchen, ähnlich wie bei einem Vierundzwanzigstunden-Elektrokardiogramm, auf die Brust geschnallt. Das hätte dieser nie geduldet. Man klebte ihm ein solches unter den Schrank in seinem Zimmer und verlängerte die Laufzeit auf mehrere Tage. So kam Doktor Liebrecht zu detaillierten Bildbeschreibungen von wüsten Gelagen, Verfolgungen, Blitzgewittern und Mordtaten und verstand immer besser die schreienden Dialoge zwischen seinem Patienten und irgendwelchen Dämonen und Gespenstern. Das war ein besonders höllisches Tohuwabohu, weil Ludger neben seinen Antworten auch die inneren Einreden mit herausbrüllte und zusätzlich gehörte Töne und Geräusche auszudrücken versuchte. Viel war von Füchsen, Schwänen und Genitalien die Rede. Bei der Bearbeitung der Aufnahmen registrierte der Psychiater bei sich selbst eine gewisse kurzatmige Neugier und leise Geilheit, was er auf seine berufsbedingte Sensibilität zurückführte.

    Des Weiteren gab er zu bedenken, dass der solcherart gequälte Pflegling ohne seine dämpfenden Medikamente wieder so schrecklich zu trinken anfangen könnte, was ihn vollends ruinieren würde. Das Trinken als Eigentherapie gegen das innerliche Rasen habe ja schon einmal funktioniert, bis allerdings der Patient zusammengebrochen und in die Psychose gefallen sei.

    Dabei wusste der gute Mann nicht, dass Lude Frey das schon selbst ausprobiert hatte.

    Fürstenau lag in der Einsamkeit. Hier gab es nichts zu kaufen. Aber sein Vater, der ihn manchmal besuchte, hatte ihm etwas „für den Notfall" mitgebracht und auch eine Küchenhilfe, der er schöntat, hatte ihm eine Flasche besorgt. Da aber seine Leberzellen kaum noch funktionierten und die größten Teile des Organs nur noch aus Fett und Bindegewebe bestanden, die nichts Zusätzliches entgiften konnten, wurde ihm jedes Mal nach wenigen Schlucken so spei und todeselend, dass seine Qualen nur zunahmen und er den Versuch von selbst aufgegeben hatte. Von dort also bestand keine Gefahr mehr.

    Doch Ströhle ließ nicht locker.

    Er hatte ein gutes Gespür für Menschen und ahnte, dass er mit Lude Frey etwas ganz Besonderes in seinem Machtbereich hatte. Etwas von dem Glanz auf seine Einrichtung und auf ihn selbst fallen könnte. Und als Doktor Liebrecht ihm von der Auswertung der Aufzeichnungen aus Ludes Zimmer berichtete, stellte er mit einigem Schauder fest, dass dessen Visionen gar nicht so weit entfernt waren von seinen eigenen Albträumen. Direktor Ströhle schloss daraus, dass die Grenze zwischen normal und nicht normal vielleicht doch sehr unscharf sein könnte, und befahl, sämtliche Medikamente bei dem Pflegling Ludger Hyazinth von Freyenfeld abzusetzen, neben dessen Zimmer einen weiteren Raum für ihn als Atelier freizuräumen und den ständig vor sich hinkritzelnden und klecksenden Mann mit ausreichendem Malmaterial zu versorgen.

    Als von Freyenfeld – ein knapp vierzigjähriger, großer, schwerer, fast kahlköpfiger Mensch mit starren dunkelbraunen, eng stehenden Augen und einem kleinen hellroten, dicklippigen Kussmund – vor Monaten in das Pflegeheim Schloss Fürstenau des „Bundes der Barmherzigen" aufgenommen wurde, begleitete ihn eine voluminöse Akte, in der alle bekannten Einzelheiten seines Lebens bis zu dessen abrupter Wende und sein bisheriger Krankheitsverlauf aufgezeichnet waren.

    So wusste man, dass der Neue Abitur gemacht, an einer Kunsthochschule studiert und als Maler schon einigen Erfolg gehabt hatte und dann plötzlich, salopp gesagt, verrückt geworden war. Der Akte waren auch einige wenige und schlechte Reproduktionen und Fotografien seiner Bilder vor und nach dem Zusammenbruch angefügt, die des Malers aufgerissene und zerwühlte Seelenlage demonstrieren sollten. Diese Abbildungen waren jedoch nicht nach künstlerischen Gesichtspunkten, sondern nur nach medizinischen begutachtet worden. So fehlte jeglicher Hinweis darauf, dass der wilde und virtuose Malduktus immer schon bestanden und die Krankheit ihn nicht wesentlich verändert hatte. Genau das aber war Direktor Ströhle aufgefallen und hatte ihn neugierig gemacht.

    So stellte man sich zwar auf den Neuen ein, ahnte aber nicht im Geringsten, was man sich da eingefangen hatte. Freyenfeld war, wenn er nicht gerade seine Anfälle hatte, ein friedlicher Mensch. Und selbst wenn ihn seine Schrecknisse überfielen, schrie er zwar herum, wurde aber nie aggressiv gegen andere. Gegen sich selber schon. So konnte er sich wild die Fäuste in den Leib schlagen, mit dem Kopf gegen die Wände donnern und sich das fleischige Gesicht zerkratzen. Aber sobald es jemand wagte – und das lernten sie ja dann auch bald –, sich dem Tobenden zu nähern, ihn zu streicheln, ihm sanft zuzureden oder leise Gutenacht und Wiegenlieder zu singen – „Der Mond ist aufgegangen, die güldnen Sternlein prangen, „Guten Abend, gute Nacht, „Oh wie wohl ist mir am Abend, „Guter Mond du gehst so sti-i-lle, ausgerechnet die, Hattenkerl hatte das herausgefunden – beruhigte er sich schnell und fiel wimmernd in sich zusammen. So gesehen hatten sie ihn gut im Griff.

    Nur mit einem kamen sie überhaupt nicht zurecht, da war er unnahbar. Also eigentlich immer.

    Es war nicht weiter schlimm, aber doch lästig. Ständig musste man hinter ihm herputzen und aufräumen. Das ging den Müttern und ihren Helferinnen ganz schön auf die Nerven und besserte sich erst, als man die Lösung mit Ludmilla fand.

    Wo immer der Pflegling Ludger sich aufhielt, saß, stand oder umherging – malte er. Nein, eigentlich musste man sagen, schmierte, krakelte, klatschte, besudelte er. Alles, was in seine Reichweite gelangte, bearbeitete er so und er war durch nichts, auch nicht durch Gutenacht und Wiegenlieder, davon abzubringen. Kein Geschirr, keine Serviette oder Tischdecke, keine Schranktür oder Wand, auch nicht das kleinste Zettelchen waren vor ihm sicher. Ja, wenn er an nichts anderes herankam, bemalte er sogar sich selbst oder einen schlafenden Mitpflegling. Anfangs besaß er außer ein paar Bunt und Bleistiften nichts anderes und die zerbröselten unter seinen heftigen Strichen immer sehr schnell. Aber bald geriet dem Ludger von Freyenfeld unter den Händen sozusagen alles zur Farbe. So malte oder sudelte er eben mit Kaffee, Senf, Tomatensoße, Spinat, Erde, Kohle, Exkrementen und allem, was er sonst so fand. So hatte er auch als Kleinkind begonnen.

    Ströhle allerdings sah sich diese „geniale Schweinerei", wie er es nannte, nicht lange an. Er ließ eine dicke Rolle Packpapier, massive Zimmermannsstifte, Töpfe mit Acryl und Deckfarben kommen, bettelte sie bei Förderern und Gönnern zusammen, legte auch manchen Euro selber drauf. So gelang es, den Maler einigermaßen auf seinen Tisch zu konzentrieren, wenn auch seine Umgebung trotzdem nicht ganz ungeschoren blieb.

    Hans Ströhle staunte. Was da mehr oder weniger in ununterbrochenem Strom unter seinen Augen entstand, war unglaublich. Das war kein ungestaltetes Schmieren und Klatschen mehr, sondern geriffelte, spiralige Flächen, perspektivische Fluchten, grimassierende Köpfe, gefletscht zahnige Münder, wie Fleischwunden aufplatzende Blüten, Baumreihen, die sich in blutrote Himmel krallten, spitzbrüstige Frauengestalten, Füchse, Genitalien, grüne Flaschen, Tod und Teufel. Ein brodelnder Vulkan.

    Ströhle staunte und schauderte, lockerte seine Krawattenknoten, wachte nachts schweißgebadet von seinen Albträumen auf, hatte die Vorstellung, dass alles, was je in Fürstenau Furchtbares geschehen war, nun in diesen Bildern ans Licht drängte, erstmals zum Ausdruck kam, aus der Vergangenheit heraus um Anerkennung und Buße schrie. Und ihm war, als ob der Lude Frey einzig zu diesem Zweck und wie ein Rächer nach Fürstenau gekommen sei.

    Mit Schrecken fragte er sich, ob er diesem Ansturm gewachsen sei oder ob er nicht doch besser diesen Vulkan zuschütten sollte mit Medikamenten, Überdosierungen, gezieltem Unfall. Als er aber mitten in seinen Fantastereien plötzlich merkte, dass er bereit war, all den Toten einen weiteren hinzuzufügen, sprang er auf, rannte gegen einen Schrank und wurde ohnmächtig. Er kam in Ludmillas Armen wieder zu sich, sah in ihr sogleich den Engel der Versöhnung, rappelte sich hoch, zog seinen Krawattenknoten zurecht, beschloss alles anders zu machen und fühlte sich besser.

    Ludger Hyazinth von Freyenfeld bekam sein Nebenzimmer als Atelier und Ludmilla als eine Art „Assistentin" zugewiesen. Ströhle selbst reiste

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