Die Frauen meines Lebens
Von Petra Nikolic
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Rezensionen für Die Frauen meines Lebens
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Buchvorschau
Die Frauen meines Lebens - Petra Nikolic
2014_030_sw.jpg Petra Nikolic, geboren in Frankfurt am Main, studierte Publizistik, Philosophie und Amerikanistik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Nach dem Master-Abschluss arbeitete sie zunächst als Redakteurin bei deutschen und britischen Radiosendern. Dann wechselte sie vom Hörfunk- zum Zeitungsjournalismus, um als freie Journalistin für Zeitungen wie Die Zeit, Die Rheinpfalz, Rhein-Neckar-Zeitung, AZ Mainz, Westfälische Nachrichten sowie Frankfurter Neue Presse zu schreiben. 2010 gewann sie mit der Erzählung „Meine Clarissa" den Literatur-Wettbewerb der Süddeutschen Zeitung.
für Clarissa und Dominik
Lindemanns Bibliothek, Band 198
herausgegeben von Thomas Lindemann
© 2013 · Info Verlag GmbH
Käppelestraße 10 · 76131 Karlsruhe
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck ohne Genehmigung
des Verlages nicht gestattet.
ISBN 978-3-88190-743-9
www.infoverlag.de
Petra Nikolic
Die Frauen
meines Lebens
7433.pngVorwort
Die Inspiration zu diesem Buch gab die Süddeutsche Zeitung. Sie hatte im März 2010 die ungewöhnliche Idee, Frauen über die Frauen ihres Lebens schreiben zu lassen. „Die Frau meines Lebens ist eigentlich ein typischer Männersatz. Doch auch im Dasein von Frauen gibt es Begegnungen mit Frauen, die prägend und unvergesslich sind. Ich nahm mit der Kurzgeschichte „Meine Clarissa
an dem Wettbewerb der Süddeutschen Zeitung teil – und gewann. Ein Stein war ins Rollen gekommen. Ich schrieb noch sieben weitere Geschichten über besondere Frauen und ihre Lebenswege, die sich kreuzen, die sich verlaufen, die auseinander gehen, die sich wieder treffen oder für alle Ewigkeit vom Schicksal getrennt werden. Entstanden sind acht Porträts, sieben zauberhafte Frauen und eine entzauberte Frau.
Die Erzählungen sind authentisch, alle Personen entspringen der Realität. Nur bei einer der Geschichten habe ich mir erlaubt, einen etwas fantastischen Schluss zu wählen. Auch enttäuschende Freundschaften haben ihre Diamanten, die erst später funkeln.
Sonia aus Bolivien lernte ich in Madrid durch meinen Sohn kennen, deshalb ist diese Erzählung aus seiner Perspektive geschildert. Es musste über ihr Elend geschrieben werden, sonst ändert sich nichts. Aus diesem Grund war mir ihre Geschichte auch besonders wichtig.
Es gehört zu meinem Beruf als Journalistin, neugierig auf Menschen und ihre Lebenswege zu sein. Man kann diese Geschichten jedoch nicht finden, wenn man nur auf Pressekonferenzen geht oder abgestimmte Interviews führt. Stattdessen habe ich versucht, ganz nah an meine Protagonistinnen heranzutreten, ihnen fast unter die Haut zu kriechen, um auf diese Weise ihre Geheimnisse aufzuspüren. Ich habe mich so lange festgebissen, bis das fremde Leben so durchsichtig war, als wäre es mein eigenes.
Das Schönste am Schreiben ist der Augenblick, in dem man plötzlich alles erkennt und versteht. Als ich die Geschichten aufschrieb, war es wie ein Gleiten zwischen den verschiedenen Tonarten des Lebens – zwischen heiter und ernst, freudig und traurig. Es gibt ein dicht gewobenes Netz, das alle Geschichten miteinander verbindet: das Flechtwerk der Liebe. Das Buch gewährt Einblicke in die Lebenslinien faszinierender Frauen. Es sind ihre Geschichten, die vom Leben an sich handeln.
Eines habe ich dabei gelernt: Eine Geschichte ist nie zu Ende, sie folgt immer dem, der sie gehört hat.
Petra Nikolic
Meine Großmutter
oder
Das Glück liegt in mir
Du sitzt vor mir und bist wütend. Es ist keine Wut, die mit Donnergetöse und Fauchen kommt, es ist eine kleine, feine Wut, wie das Summen einer Biene, die sich im Zimmer verirrt hat und nun den Weg nach draußen sucht.
„Er hat mir schon wieder die Haare zu kurz geschnitten", sagst du zornig.
„Warum schimpfst du so? Ich finde deine Frisur sehr schön!", antworte ich und streiche mit den Fingern durch die kurzen silbernen Locken. Sie fühlen sich weich und zart an – wie Daunen.
„Ich habe es ihm schon hundert Mal gesagt: Ich will die Haare über den Ohren länger haben, damit man mein Hörgerät nicht sieht."
Ich muss schmunzeln. Auch mit 92 Jahren erlaubst du dir noch, ein wenig eitel zu sein. Dann sehe ich plötzlich das Glitzern in deinen Augen, das ich so gut kenne, und mit dem du immer in die Vergangenheit reist. Du schaust mich an und ich spüre, wie die Luft vibriert. Dann beginnst du zu erzählen:
„Ich kann mich noch ganz genau an den Tag erinnern, als ich beim Friseur war, um mir meine langen Zöpfe abschneiden zu lassen. Es war ein ganz besonderer Tag. Es war der Tag, an dem Reichspräsident Paul von Hindenburg gestorben ist."
Das ist einer jener Sätze, den nur meine Großmutter sagen kann. Er ist einmalig. Kein anderer Mensch auf dieser Welt teilt mit ihr dieses Erlebnis. Paul von Hindenburg, der Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte und damit den Nationalsozialisten den Weg geebnet hatte, starb am 2. August 1934. Da war meine Großmutter 14 Jahre alt. Ein Teenager auf dem Weg zu einer jungen Frau. In einer Zeitschrift hatte sie die Bilder der „Flappers" gesehen, jener jungen Frauen, die in den Kreisen der Bohème Charleston tanzen. Sie trugen die Haare ganz kurz im Nacken. So wollte Großmutter auch aussehen. Die Zeit der Jungmädchenzöpfe war vorbei. Sie saß gerade im Friseurgeschäft und wartete gespannt auf ihre neue Frisur, als die Nachricht vom Tod Hindenburgs im Radio kam.
Wenn meine Großmutter über diese Zeit spricht, dann höre ich Lautsprecher erschallen, Schlachtrufe ertönen, Hitler-Geschrei und ich sehe Menschen, die Hakenkreuzfahnen schwenken. Mittendrin entdecke ich ein kleines, zierliches Mädchen, das verloren mit einem Paar Zöpfen in der Hand durch die Straßen geht.
Großmutter hat nie geschimpft über den Krieg, nie mit dem Schicksal gehadert, obwohl die Kriegsjahre auch ihr Leid und Tod gebracht haben und sie mehr verloren hat als nur zwei Zöpfe.
Meine Oma Elisabeth wird am 3. März 1920 in Frankfurt geboren. Ihre Kindheit ist glücklich – bis zu dem Tag, als ihr Vater die Familie verlässt, um mit einer anderen Frau zusammenzuleben. Sie ist jünger als ihre Mutter und wohnt in einem Viertel von Frankfurt, das man als anständiger Bürger nicht betritt. Bald gibt es keinen Kontakt mehr.
„Ich durfte meinen Vater nicht besuchen, meine Mutter hat es nicht erlaubt."
Kurz darauf zieht ein anderer Mann in das Haus ein. Er ist sehr streng. Wenn die Kinder nicht parieren, gibt es Ohrfeigen. Großmutter mag den Mann nicht, den man ihr als neuen Vater vorsetzt:
„Er hatte einen gewaltigen Schnurrbart. Die Barthaare gingen weit nach unten und dann in einen Bogen nach oben. Die Enden seines Bartes hat er immer mit einer furchtbar stinkenden Bartwichse nach oben gezwirbelt. Mein Stiefvater trug einen richtigen Kaiser-Wilhelm-Bart. Beim Essen blieb immer etwas in seinem Bart hängen. Mein Bruder und ich haben darüber heimlich gelacht."
Großmutter wird früh erwachsen, weil sie einen kühlen und wachen Verstand braucht, um aus dem tristen Umfeld zu Hause zu entfliehen. Sie ist erst 17 Jahre alt, als sie meinen Großvater heiratet. Kennengelernt hat sie ihn mit 16 Jahren. Nach der Schule beginnt sie eine Schneiderlehre. Auf dem Weg zur Schneiderei begegnet sie Großvater. Jeden Morgen und jeden Abend sieht sie ihn in der Straßenbahn sitzen.
„Er hat immer so getan, als würde er die Zeitung lesen, aber heimlich hat er mich beobachtet. Ich habe seine Blicke gespürt und bekam richtig Gänsehaut."
Dann eines Tages kommt es zur ersten Begegnung.
„Ich hatte mir eine Tüte mit Lakritz am Kiosk gekauft. Ich ging die Straße hinunter und habe dabei Lakritz gegessen. Plötzlich greift eine Hand von hinten über meine Schulter und langt in die Tüte. Er war es. Mit einem frechen Grinsen hat er sich einige Lakritz genommen und in den Mund geschoben."
Meine Großmutter heiratet den schelmischen Dieb und schon ein Jahr später kommt Ingrid auf die Welt – meine Mutter. Großvater hat gerade mit dem Studium begonnen, Ingenieur will er werden. Er studiert und arbeitet nebenher, um seine Familie zu ernähren.
„Sonntags saß er immer am Schreibtisch an seinen Zeichnungen für die Universität. Ich wollte aber lieber am Main oder im Park spazieren gehen. Deshalb habe ich mich zu ihm gesetzt und ihm dabei geholfen. So waren wir schneller fertig."
Doch das Glück der beiden ist nur von kurzer Dauer – dunkle Kriegswolken ziehen auf. Großvater wird zum Kriegsdienst eingezogen und im Sudetenland stationiert.
Frankfurt ist ein beliebtes Ziel für die Bomber der Amerikaner. Der Himmel ist immer grau. Meist geschieht es in der Nacht: Erst hört man ein Surren über den Wolken. Es klingt wie ein angriffslustiger Bienenschwarm. Dann folgt ein Pfeifen. Die Bomben werden abgeworfen. Die Stadt erzittert für einen kurzen Moment. Am nächsten Tag geht das Leben weiter. Immer mehr Stadtteile von Frankfurt liegen in Schutt und Asche.
Am 29. Januar 1944 fliegt die amerikanische Luftwaffe ihren ersten Großangriff auf die Stadt. 500 Flugzeuge bombardieren Frankfurt. Großmutter packt einen Koffer mit dem Nötigsten und sucht mit Ingrid einen Luftschutzkeller auf. Sie haben Glück. Obwohl die Amerikaner die Einschläge auf das gesamte Stadtgebiet verteilen, kommen sie heil davon. Sie können wieder in ihre Wohnung zurück. Noch Tage später hört man Explosionen auf der Straße. Die US-Luftwaffe hatte Bomben mit Langzeitzündern abgeworfen, die erst später ihre tödliche Wirkung entfalten. Wenige Wochen danach setzen die Amerikaner ihre Luftangriffe fort. Sie zielen vor allem auf Kasernenanlagen und Zulieferer für die Rüstungsindustrie. Dann werden die Wasserleitungen bombardiert. Tagelang ist die Stadt ohne Trinkwasser.
Immer wieder müssen Großmutter und Ingrid ihren Koffer packen und in den Luftschutzkeller gehen. Dort sitzen sie mit vielen anderen zusammengekauert auf dem Boden und warten, bis die Sirenen ertönen, die das Ende des Bombardements ankündigten. Jede Nacht wiederholt sich dieser Zustand zwischen Warten, Hoffen, Bangen und Aufatmen. Als der Luftschutzkeller zerstört ist, suchen sie Schutz in einer leerstehenden Wohnung. Dort kommt auch Elke auf die Welt. Eine Nachbarin hilft Großmutter bei der Geburt.
Am 22. März 1944 starten die Amerikaner ihren letzten Luftangriff auf die Stadt. Danach gibt es Frankfurt nicht mehr. 2 000 Flugzeuge bombardieren die Stadt, ein zerstörerischer Dauerregen aus über zwei Millionen Brandbomben und knapp 4 000 Sprengbomben und Luftminen fällt nieder. Auf den Regen folgt das Feuer. Die Bomben lösen einen Feuerorkan aus, der die Stadt in eine Trümmerwüste verwandelt. Der Eiserne Steg, das Wahrzeichen von Frankfurt, ist in zwei Hälften geteilt. Eine Hälfte ragt nach oben, wie ein Finger, der zum Himmel deutet, als wollte er den Weg zu den Zerstörern zeigen, die andere Hälfte ist im Main versunken.
Die Bevölkerung wird evakuiert. 150.000 Menschen sind auf der Flucht. Mit Lastwagen und Zügen bringt man sie aufs Land, nach Usingen und Weilburg, Groß-Gerau, Büdingen, Schlüchtern, Geln-hausen, Wetzlar und Friedberg. Und Großmutter? Großmutter will nicht nach Wetzlar oder Friedberg. Sie hat ein anderes Ziel – sie will ins Sudetenland, zu ihrem Mann. Eine verhängnisvolle Entscheidung, doch das weiß sie in diesem Moment noch nicht. Am Bahnhof im Stadtteil Höchst steigt sie mit ihren Kindern in einen der überfüllten Züge ein. Die Menschen sind eingepfercht wie Vieh. Großmutter mitten unter ihnen, Ingrid an der Hand und Elke, ihr neugeborenes Kind, in eine Wickeldecke gepackt. Es gibt kaum etwas zu essen oder zu trinken. Elke schreit die ganze Zeit vor Hunger. Doch Großmutter hat keine Milch,