Frühlingsfahrt: Ein Kraichgau-Krimi aus dem Kelterhof
Von Johannes Hucke
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Über dieses E-Book
Johannes Hucke, Autor der erfolgreichen Wein-Krimis "Rotstich" und "Die Brettener Methode" sowie des "Kraichgauer Weinlesebuches", blättert seine neuen spannenden Roman in der Rückschau auf: Er erzählt von einer schicksalhaften Freundschaft, von einer romantischen Frühlingsfahrt, die durch das Neckartal über Bad Rappenau schließlich ins beschauliche Großvillars führt, von allerlei Genüssen, die der Heimat heilig sind. und von einer zwischenmenschlichen Konstante, deren zerstörerische Energie dem friedlichsten Nachbarn keine Ruhe gönnt: Rache!
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Buchvorschau
Frühlingsfahrt - Johannes Hucke
Verbunden mit herzlichem Dank
für die Gastfreundschaft, widme ich das Buch
Ute und Armin Schäufele vom Kelterhof –
und die Lindemanns widmen es Gudrun Jung,
mit der sie eben dort schon so manch
leckeres Gläslein gebechert haben.
Lindemanns Bibliothek
Literatur und Kunst im Info Verlag
dieser Band herausgegeben von
Constanze und Thomas Lindemann
Band 139
Titelfoto: Thomas Rebel
Redaktionelle Mitarbeit: Kurt Fay
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise,
ohne Genehmigung des Verlages nicht gestattet.
© 1. Auflage 2011 · Info Verlag GmbH
Käppelestraße 10 · 76131 Karlsruhe
www.infoverlag.de
ISBN 978-3-96308-030-2
Johannes Hucke
Frühlingsfahrt
Ein Kraichgau-Krimi
aus dem Kelterhof
64161.pngÄhnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Johannes Hucke, geboren 1966, hat mit seinem „Kraichgauer Weinlesebuch (2007, 2. Auflage 2009) die Landschaft zwischen Schwarz- und Odenwald vinologisch erschlossen. 2010 folgte der Kraichgau-Krimi „Rotstich
(2. Auflage 2010) und 2011 ein Krimi zu Peter-und-Paul: „Die Brettener Methode. Als Theaterautor ist er erfolgreich u. a. mit dem Wein-Theaterstück „Kellersequenz
. Weitere Veröffentlichungen im Info Verlag: „Bergstraße Weinlesebuch (2008), „Südpfalz Weinlesebuch
(2009), außerdem mit Holger Nicklas „Strafraum, ein KSC-Krimi (2009, 2. Auflage 2010) und „Totland
, KSC-Krimi Nr. 2 (2010), die Unternehmensgeschichte „Das Beste aber ist das Wasser (2010), „Frankfurter Stückchen. Ein Märchen aus der neuen Altstadt
(2010), „Neckarstadt Western. Der durchgeknallte Mannheim-Roman (2010) und „Libellen greifen selten zu Labello
, Gedichte (2010).
Frühlingsfahrt
Es zogen zwei rüstge Gesellen
zum erstenmal von Haus,
so jubelnd recht in die hellen,
klingenden, singenden Wellen
des vollen Frühlings hinaus.
Die strebten nach hohen Dingen,
die wollten, trotz Lust und Schmerz,
was Rechts in der Welt vollbringen,
und wem sie vorübergingen,
dem lachten Sinn und Herz. –
Der erste, der fand ein Liebchen,
die Schwieger kauft Hof und Haus;
der wiegte gar bald ein Bübchen,
und sah aus heimlichem Stübchen
behaglich ins Feld hinaus.
Dem zweiten sangen und logen
die tausend Stimmen im Grund,
verlockend Sirenen, und zogen
ihn in der buhlenden Wogen
farbig klingenden Schlund.
Und wie er auftaucht vom Schlunde,
da war er müde und alt,
sein Schifflein, das lag im Grunde,
so still war’s rings in der Runde,
und über den Wassern wehts kalt.
Es singen und klingen die Wellen
des Frühlings wohl über mir;
und seh ich so kecke Gesellen,
die Tränen im Auge mir schwellen –
ach Gott, führ uns liebreich zu dir.
Dieses Gedicht, von Joseph von Eichendorff „Die zwei Gesellen" betitelt,
erhielt in Robert Schumanns Vertonung die Überschrift „Frühlingsfahrt."
Zwei Tote
Ein betäubender Trestergeruch hängt in den Gassen, als Edelbert Schicke mit dem Weinbergstraktor durch das Kraichgau-Dorf Großvillars rumpelt. Schicke schnuppert zufrieden – es ist sein Lieblingsduft. Mehr noch als am zarten Aroma junger Nüsse, an Flieder und Maiglöckchen, selbstgekochter Tomatensuppe, Rührei mit Schnittlauch und frisch gebackenem Brot erfreut er sich an diesem tausend Erinnerungen in ihren Verstecken aufstöbernden Herbstgeruch, wenn in jedem Hof die Moste gären und an den Hügeln ringsum die Trauben in der Oktobersonne dünsten. Für Edelbert wie für alle Weinbauern, ihre Angestellen und Helfer sind dies die höchsten Feiertage im Jahreslauf. Erntedankstimmung? Ja, auch, durchaus. Aber nur in den Pausen, wenn Ute Schäufele die heißen Würste in den Weinberg zur Lesemannschaft bringt und das eine oder andere Glas vom kellerkühlen Vorjährigen den Durst aus den Hälsen scheucht. Oder aber am frühen Morgen, vor dem Lesetag, wenn noch nicht alle Sinne auf die anstrengende, diffizile Arbeit konzentriert sind: Dann teilt sich unwillkürlich etwas mit von der weihevollen Atmosphäre der Reife, die frühere Generationen ohne Schwierigkeiten mit Gottes Segen in Zusammenhang zu bringen wussten.
In der Nähe des wunderhübsch renovierten Weinberghäuschens der Familie Schäufele stellt Schicke den schmalen Trecker ab. Vom Herbstfest gestern Abend sind keine Spuren mehr zu finden. Alle haben mitangepackt, Tische, Bänke, Flaschen hin- und wieder weggeschleppt; nicht ein Papierchen liegt mehr auf dem kleinen Festplatz. – Noch einmal will er den Spätburgunder in Augenschein nehmen. Jeden Tag, bisweilen mehrmals, ist er zuletzt gemeinsam mit Armin, dem Hausherrn des Kelterhofs, in den Weinberg hinaufgestiegen. Das Gespräch hatte stets einen ähnlichen Wortlaut.
„Sollen wir mal langsam?"
„Hm. Vielleicht noch ein, zwei Tage?"
„Hm. Vielleicht noch mal den Wetterbericht konsultieren?"
Der Wetterbericht! Vergleichbar allenfalls den Hochseefischern im Atlantik oder den Tabakbauern Mittelamerikas, versteht sich die Gilde der Winzer auf Wetterprognosen; es ist diese Abhängigkeit von oftmals minimalen Veränderungen der Witterung, zumal in der Zeit vor der Ernte, die ein Höchstmaß an Kenntnis, Weitsicht und Gespür erfordert. Alle haben sie das schon erlebt: Plötzliche Kälteeinbrüche, Hagel, Nässe, aber auch Trockenheit, zu viel Wind, zu wenig Wind ... all diese Faktoren entscheiden über die Qualität ganzer Jahrgänge oder gar über die Existenz von Betrieben.
Nein, heute ist es so weit: Jetzt ist er dran. Genug in der Sonne gelümmelt, ab damit und in die Presse! Edelbert Schicke zückt unwillkürlich das Refraktometer, nähert sich einem dieser makellos dunkelroten Henkel, pickt ein Träubchen heraus und zerquetscht es. Tatsächlich: Noch ein Grad Oechsle mehr als gestern. Vollreif sind diese Trauben ja seit Wochen; doch Armin Schäufele hat etwas Außergewöhnliches mit diesem Spätburgunder vor: Er soll Kraft haben, soll zum Erstwein, zum Flaggschiff des Gutes aufsteigen – ein muskulöser, ein männlicher Pinot Noir wird daraus werden, eine trockene Auslese, reifend in Barriques aus heimischer Eiche, zu Teilen eigens gefertigt von den kundigen Händen französischer Küfer. Während Schicke das Refraktometer trockenwischt, fällt ihm etwas auf: In der Reihe der schimmernden Burgundertrauben ist etwas in Unordnung geraten. Was soll nun das? Da hegt und pflegt man die Lage mit aufwändiger Laubarbeit und auf einmal kommt so ein Strolch daher und reißt die Drähte runter! Erbost geht Edelbert Schicke auf die lädierte Stelle zu – und taumelt im gleichen Augenblick zurück. Zwischen den herrlichen Früchten, leuchtend im Frühlicht, hängt ein blutiger Menschenkopf. Der Arbeiter im Weinberg hat nur kurz hingesehen; unwillkürlich schlägt er die Hand vor Mund und Augen. Doch die Zehntelsekunde hat genügt um zu erkennen, dass da ein lebloser Mensch im Weinberg kauert, halb über die Drähte gebeugt, mit einer gewaltigen Wunde im Kopf. In der Rückwärtsbewegung drängt es Edelbert, doch noch einmal hinzusehen. Kein Zweifel, ein Toter. Oder eine Tote? Das ist aus der Entfernung nicht zu erkennen; entstellt sieht die Leiche aus, umgeben von farbigem Weinlaub und den schönsten Trauben. Um alles in der Welt: Was hat dergleichen in Großvillars zu suchen, einem der friedlichsten Örtchen im Rund, wo seit Jahrhunderten keine Gewalttat mehr vorgekommen ist?
Geschüttelt von Ekel und Entsetzen, wendet sich Edelbert Schicke ab, läuft auf den Trecker zu ... und stolpert. Hart schlägt er hin, rappelt sich sofort wieder hoch. Dabei stellt er fest, dass sich sein Fuß in einem anderen Fuß verfangen hat: Kaum zwei Meter von ihm entfernt liegt eine weitere Leiche: Der Mund ist aufgerissen, die Beine sind verkrümmt, und der Rumpf sieht aus wie mitten entzweigeschnitten. Neuer Schrecken durchfährt den Ahnungslosen. Mit einem Aufschrei schnellt er empor, von einem einzigen Gedanken beflügelt: Weg hier, rasch ins Dorf, die Leute verständigen, die Polizei! Zittrig tastet Edelbert nach seinem Handy. Es fällt ihm aus der Tasche. Er will Armins Nummer wählen, aber die Finger gehorchen nicht.
„Ruhig, ganz ruhig weiteratmen", zwingt er sich zum Innehalten. Tastend schiebt er sich voran, gegen den Brechreiz ankämpfend. Endlich am Traktor angekommen, zieht Schicke den Schlüssel aus der Hosentasche. Doch kaum, dass er aufsteigen will, hört er etwas, das ihm zum dritten Mal die Nackenhaare sträubt.
Von drüben, offenbar aus dem Wengerthäusle, dringt eine Stimme, erst leise, dann immer deutlicher vernehmlich: „Hallo? Hallo?"
Es folgt ein Pochen. Von da drinnen. Im Wengerthäusle befindet sich also noch jemand. Wer wird das wohl sein, wenn hier draußen zwei Tote liegen? Edelbert lässt den Schlüssel stecken, wendet sich ab. Hilfesuchend blickt er sich um. Nichts, niemand. Nur die beiden entsetzlich zugerichteten Körper.
Da hört er es wieder: „Hallo? Hallo?"
Jetzt hält ihn gar nichts mehr. In großen Sätzen hastet der Geplagte zu Tale, mitten durch die Reben hindurch, weg von dieser greulichen Stelle, die noch vor kurzem sein Lieblingsaufenthalt, sein Inbegriff von Idylle und Glück gewesen ist.
Kaum hat er eine kleine Strecke im Galopp zurückgelegt, hört er es noch einmal aus dem Häuschen schreien: „Hilfe! Bleiben Sie doch stehen! Hallo!"
Ha, so weit kommt’s noch ... Nein, nicht mit ihm! Darauf fällt er gewiss nicht rein. Wer weiß, was zu dieser Menschenansammlung von Lebenden und Toten im besten Weinberg des Kelterhofs geführt hat, das mögen andere aufklären – und zwar von der Polizei. Einstweilen gilt nur: Rette sich, wer kann!
Als er die Landstraße erreicht, sieht er von ferne einen Kleintransporter auf sich zukommen. Edelbert winkt, ruft verzweifelt: „Anhalten! Halt!" Aber der Mistkerl im gelben Lieferwagen fährt einfach weiter, Richtung Bretten, beschleunigt sogar noch. Schicke flucht.
Schwitzend, völlig außer Atem, trifft er endlich im Ort ein. Als er schon überlegt, ob er beim erstbesten Haus an die Tür pochen soll, biegt eines der Erntefahrzeuge vom Kelterhof an der Kirche ums Eck. Mit beiden Armen winkend wie ein Verhungernder mitten in der Tundra, wenn nach Wochen der Hubschrauber auftaucht, eilt Edelbert Schicke auf die Leute zu. Im Anhänger sitzen lauter Bekannte aus dem Ort, einige kommen sogar von weiter her, bis aus Karlsruhe, um an den Erntefreuden teilzuhaben. Edelberts Kumpel Heiner sitzt am Steuer des leistungsstarken Traktors.
„Nicht weiterfahren! Nicht!"
Verwirrt hält der Fahrer neben dem Aufgeregten an, ohne den Motor auszuschalten. „Was hast denn?"
„Da obe, da obe ... im Wengertshäusle: Da ... da liege zwei Dote! Un einer isch noch im Hüttle un klopft!"
Ein Halbtoter
Beginnen wir noch einmal ganz woanders, sozusagen von vorn: im Frühling, wo alles beginnt, was Anspruch auf Vorhandensein erhebt. Wo alles Leben sich erneuen soll, um mit frischem Mut seinen Weg anzutreten – es sei denn, es ist bereits am Ende angekommen. Die Dichter aller Zeiten haben behauptet, es sei besonders grausam, im Frühling zu sterben. Es sei nämlich unzumutbar, teilnahmslos beiseite zu treten, wenn alle sich freuen und ihre Verjüngung bejubeln. Trauernd durch erblühende Alleen zu ziehen, unbeteiligt, doppelt ausgegrenzt, doppelt allein – solch ein Schicksal wäre doch wirklich keinem zu wünschen!
Diese traurigen Helden auf der Schattenseite des Frühlings, ja, die gibt es freilich auch; von einem solchen müssen wir erzählen, wenn wir die Geschichte erzählen wollen, die am Wengertshäusle zu Großvillars so brutal zu Ende ging. Doch geschieht ja auf Erden nicht alles nach bewährtem Muster, wie dies unsere stets nach Sinn und Verstehen trachtende Einbildungskraft uns vorgaukeln mag; bisweilen treffen Dinge aufeinander, die voneinander nichts ahnen konnten, und vermengen sich im Kontrast, so dass am Ende kein Freund der Wahrheit mehr zu behaupten wagt, man habe kommen sehen, was geschah ...
Beginnen wir in einem Vorort von Heidelberg, einem jener Stadtteile, die ihre Existenz allein dem Nimbus und der Attraktivität der sandsteinroten Universitätsstadt zu verdanken haben. Hier wohnen Leute, die wohl die Nähe zum Traditionellen suchten, die nimmermehr sagen würden, sie lebten im Emmertsgrund oder auf dem Boxberg oder in irgendeiner namenlosen Neubausiedlung Richtung Wieblingen; nein, es steht ja „Heidelberg" in ihrer Adresse – und dieser Name glänzt wie ein Ehrenzeichen hinter der nur Eingeweihten auf Anhieb entschlüsselbaren Postleitzahl. – Warum die besagten Rand-Heidelberger kein Domizil in der Mitte bezogen haben oder doch in besser beleumundeten Wohngebieten wie Neuenheim oder Handschuhsheim, ist leicht erklärt: Es fehlte an Kontakten, an Ersparnissen, vielleicht auch an Geschicklichkeit. Freilich, kaum dass man Quartier in der Banlieu bezogen hat, redet man sich aufs Praktische hinaus: die besseren Parkmöglichkeiten, die hervorragende Infrastruktur, die Familienfreundlichkeit.
Von einer solchen Familie wollen wir berichten, genauer: von ihrem Oberhaupt ... wobei in unserem Falle durchaus keine Bezeichnung weniger zuträfe. Nikolaus Henn (er hieß einmal Grashof mit Nachnamen, bevor er sich verehelichte), langjähriger Mitarbeiter einer Dachziegelfirma im Innenbetrieb, braver Familienvati, Mitglied im ökumenischen Kirchenchor, Besitzer mehrerer goldener Kundenkarten, lebte seit vierzehn Jahren in einer dieser ästhetisch wenig mitreißenden, gleichwohl mit Privatparkplatz und Mini-Gärtchen ausgestatteten Behausungen im Weichbild Heidelbergs. Kaum hatte Annedore – seine Annedore – in den Heiratsantrag eingewilligt, waren die Planungen für einen Umzug aus der Altstadt hinaus in eine „familiengeeignete" Wohngegend begonnen worden. Für Nikolaus’ Geschmack war das sehr schnell vor sich gegangen; er hätte sich gerne noch Zeit gelassen – mit der Hochzeit, mit dem Umzug, mit dem Kind. Viel lieber hätte er noch ein paar Jährchen damit verbracht, Annedores im Übermaß vorhandene Lieblichkeit ungestört zu genießen.
Doch Annedore hatte bereits genossen – und zwar ausgiebig, was sich zu Nikolaus’ Erschrecken in unaufhörlichen Konfrontationen mit ehemaligen Liebhabern niederschlug. Wo auch immer sie miteinander unterwegs waren, in Bahnhöfen, Eisdielen, Supermärkten, unablässig trafen sie auf sonderbar schluffige Gestalten, die allesamt ausnehmend vertraut mit ihr taten. Nikolaus wagte Anzeichen von Eifersucht zu zeigen, doch seine Auserwählte lachte ihn aus, was für ein Spießer er doch sei. – Nun, die begehrte Frau, inzwischen deutlich über dreißig, war eindeutig in die Familiengründungsphase eingetreten. Zu diesem Behufe mochte ihr Nikolaus als formbarer Kindsvater, geduldiger Ernährer und fügsamer Hanswurst erscheinen. Auf einmal bekamen die Dinge ihr eigenes Tempo, und er konnte sich mitunter nur noch bestürzt umsehen, bevor er verwirrt hinterdrein hastete. Was ihm dabei in keiner Weise bewusst war: In der Sekunde der Eheschließung im Rathaus am Heidelberger Marktplatz begann die Geschichte seiner Verstoßung.
Wir treffen auf Nikolaus Henn an jenem Abend Ende März, welcher für ihn mit einem unerwarteten, dabei außerordentlich folgenreichen Einschnitt beginnen sollte. Annedore hatte Kerzen angezündet, zwei Stück, die sie zu beiden Seiten des Küchentischs aufstellte. Sie tat das manchmal: die Wohnung schmücken, das Alltägliche mit einer Idee von Festlichkeit impfen – doch gewöhnlich nur dann, wenn sie Besuch empfing und niemals, wenn nur Nikolaus zugegen war. Annedore nötigte Nikolaus, Platz zu nehmen. Erwartungsvoll kam er der Aufforderung nach. Erwartungsvoll? Wahrhaftig! Nikolaus wartete immer noch. Seit vierzehn Jahren war er der Auffassung, Annedore würde doch einmal erkennen, dass er der Richtige für sie sei – auch wenn während dieser knapp anderthalb Jahrzehnte wenig, nein, so gut wie nichts davon zu spüren gewesen war. Sie setzte sich ihm gegenüber und begann zu