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Höllenteufel
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eBook452 Seiten6 Stunden

Höllenteufel

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Über dieses E-Book

Als ein junges Paar nachts durch den verschneiten Schwarzwald von einem Familientreffen nach Hause fährt, haben sie ein schockierendes Erlebnis: Plötzlich steht ein in Weiß gekleidetes junges Mädchen auf der Fahrbahn. In der Hand hält es einen blutigen Dolch und auch das Gewand ist blutdurchtränkt! Den Ermittlern Sarah Hansen und Thomas Bierman mangelt es zunächst an Ansatzpunkten, denn das geheimnisvolle Mädchen spricht kein Wort! Auch der Fund des Ortes der gruseligen Geschehnisse bringt die Polizei nicht weiter. Schließlich ist es eine missglückte Entführung, die eine Verbindung zu dem seltsamen Fall aufweist und die Er¬mittlungen in eine andere Richtung lenkt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Nov. 2021
ISBN9783754176665
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    Buchvorschau

    Höllenteufel - Andre Rober

    Kapitel 1

    Als ein junges Paar nachts durch den verschneiten Schwarzwald von einem Familientreffen nach Hause fährt, haben sie ein schockierendes Erlebnis: Plötzlich steht ein in Weiß gekleidetes junges Mädchen auf der Fahrbahn. In der Hand hält es einen blutigen Dolch und auch das Gewand ist blutdurchtränkt! Den Ermittlern Sarah Hansen und Thomas Bierman mangelt es zunächst an Ansatzpunkten, denn das geheimnisvolle Mädchen spricht kein Wort! Auch der Fund des Ortes der gruseligen Geschehnisse bringt die Polizei nicht weiter. Schließlich ist es eine missglückte Entführung, die eine Verbindung zu dem seltsamen Fall aufweist und die Er­mittlungen in eine andere Richtung lenkt.

    Andre Rober, geboren 1970 in Freiburg im Breisgau, studierte Volkswirtschaftslehre und arbeitete nach dem Ab­schluss mehrere Jahre für Banken im In- und Ausland. Mit der Absicht, sich beruflich zu verändern, machte er eine Aus­bildung zum Business Coach und arbeitete parallel an sei­nem Erstlingswerk „Sturmernte".

    Mit „Höllenteufel" erscheint der vierte Band rund um die Ermittlerin Sarah Hansen, ihren Partner Thomas Bierman und deren Team bei der Kriminalpolizei Freiburg.

    Andre Rober

    Höllenteufel

    Thriller

    Ungekürzte Taschenbuchausgabe

    1 Auflage Dezember 2021

    © Andre Rober, Merzhausen

    Korrektorat: Christiane Portele, Martina Woppman, Bettina Lieke-Rober, Nicole Rober-Kleber

    Umschlaggestaltung: Andrea Budig, Merzhausen

    Umschlagfoto: © Andre Rober

    Satz: Andre Rober

    Gesetzt aus der Palatino

    „Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier"

    (William Shakespeare, Der Sturm)

    Kapitel II

    комната вскрытия - Obduktionsraum - stand auf der wuchtig anmu­ten­den, doppelflügeligen Tür. Der einsti­ge Glanz des Edelstahls war im Laufe der Jahrzehnte zu einer matten, mit Kratzern übersäten, un­ansehnlichen Ober­fläche verkommen. Der Einsatz scharfer Scheuermittel hatte aber nicht nur auf dem Metall seine Spuren hinterlassen: Auch das Glas der beiden bullaugenähnlichen Fenster, die in je einem der Flügel in ge­nieteten Rahmen für einen Ein- oder Ausblick sorgen sollten, war stumpf geworden. Nicht blind, aber man konnte dahin­ter nur noch schemenhaft Strukturen erken­nen.

    Vor dieser Barriere, der Grenze zwischen den Lebenden und den Toten, stand der junge Uniformierte und starrte vor sich auf den Boden. Betroffen zum einen und ängstlich, verlegen zum anderen. Sein erstes Mal. Nicht dass er im Laufe der Aus­bildung schon den obligatorischen Gang in die Gerichts­medizin hinter sich gebracht hatte. Heute war es etwas an­deres. Scheu blickte er auf und als er merkte, dass seine Be­gleiterin in den Anblick einer Fotografie vertieft war, er­laubte er seinen Augen, einige Momente auf der jungen Frau zu verweilen. Zusammengesunken, fast kauernd, saß sie auf einem der Plastikstühle und hielt das Bild mit beiden Hän­den geradezu andächtig vor ihr Gesicht. Ihre Lippen formten stum­­me Laute, fast, als würde sie allein in einer Kirche sitzen und innig beten. Sie war schlank, zierlich, aber nicht dünn. Ihr ebenmäßiges Gesicht wurde eingerahmt von einigen lo­ckigen Strähnen, die nicht wie der Rest ihrer blonden Haare in dem wilden Dutt an ihrem Hinterkopf gezähmt waren. Das Blau ihrer Augen konnte er auch aus dem ge­bo­tenen Abstand noch leuchten sehen, die Stupsnase, gerötet vom Ge­brauch zu vieler Taschentücher, stand gerade über dem kleinen, aber volllippigen Mund. Zerbrechlich wirkte das Mäd­chen, und erschöpft. Er kannte ihre Geschichte und wuss­­te, dass ihr das Leben in ihren jungen Jahren schon zu viel zugemutet hatte. Umstände, die ihr schon früh Verant­wor­tung abgerungen hatten, die Entscheidungen und Taten er­forderten, denen Menschen in ihrem Alter eigentlich noch nicht ausgesetzt werden sollten. Und wenn sich gleich hinter dieser Tür, die so abweisend kalt den Raum dahinter ver­schloss, die Vermutung bestätigen würde… ein weiterer Schick­­salsschlag für seinen Schützling, als den er sie zumin­dest für den Moment ansah. Da sie immer noch das Foto betrachtete, von dem er nur vermuten konnte, was darauf zu sehen war, studierte er die zarten Finger, die schlanken Bei­ne. Ihm fiel auf, dass sie die Füße, die in weinroten Stie­feletten steckten, ein wenig nach innen gedreht hatte, was ihre Ver­letzlichkeit in dieser Situation noch unterstrich.

    Da waren sie nun: Er, wahrscheinlich kaum fünf Jahre älter als sie, und die blonde Frau, zwei Fremde, die sich erst kurz zuvor getroffen hatten, um an diesem unwirtlichen Ort zu­sammen zu warten. Zu warten, dass entweder eine schreck­liche Ahnung zur nicht minder schrecklichen Gewissheit würde oder aber, dass die Erleichterung einen Atemzug lang durch den Körper strömte, um dann der zernagenden Unge­wissheit wieder jenen Raum zu geben, der von allen anderen Gedanken Besitz ergriff.

    Jetzt blickte sie auf, jedoch richtete sie ihre traurigen Augen nicht auf ihn, sondern auf die Uhr, die ihr gegenüber neben der Stahl­tür an der Wand hing. Was sie sah, löste keine er­kenn­­bare Reaktion aus: keine Langeweile, keine Ungeduld, keine Verärgerung. Wahrscheinlich schaute sie nur auf die Uhr, weil es Menschen, die auf etwas warten, einfach tun – und fragte man sie nach der Zeit, sie wüssten die Antwort nicht…

    Hinter den Bullaugen veränderte sich das Licht ein wenig und kurz darauf öffnete sich ein Türflügel nach innen. In der Öffnung erschien ein Mann, vielleicht Anfang sechzig, unter­setzt. Sein langer weißer Kittel war schmuddelig, die Finger, die an der Tür zu sehen waren, ungepflegt. Um seinen Hals baumelte eine OP-Maske und die dicken Gläser seiner Weit­sichtbrille vermochten nicht, seinen glasigen Blick zu ver­schleiern. Ebenso wie die rote Nase und das aufgedun­sene Gesicht gab er davon Zeugnis, dass auch am heutigen Vor­mittag schon zu viel Vodka die Kehle des Rechts­medi­ziners benetzt hatte.

    модойдите сюда", grunzte er kaum verständlich und ohne Begrüßung. Kommen Sie.

    Er trat einen Schritt zur Seite.

    Zögerlich erhob sich die junge Frau, sah unsicher zu dem Uniformierten und trat, nachdem dieser genickt und mit der Hand Richtung Tür gewiesen hatte, in den Raum. Der junge Mann blieb dicht bei ihr. Schüchtern sah sie sich um, wäh­rend sie dem Arzt zu einer Wand aus Kühl­fäch­ern folgte, de­ren Stahltüren ebenso abgenutzt und über­al­tert aussahen, wie die am Eingang. Sie fröstelte augen­schein­­lich, schob die gestrickten Pulswärmer bis über die Hand­fläche, stellte den Kragen ihres Mantels auf und zog den Schal etwas enger. Wie­der suchte sie Augenkontakt zu dem Beamten, der ihren Blick unbeholfen erwiderte und sich dann dem Kühlfach zu­wandte, an dem sich der bekittelte Mann zu schaf­fen mach­te. Die Tür schwang auf und eine Bahre wurde sichtbar. Ein La­ken, weiß und sauber, deckte den mensch­lichen Kör­per ab, der auf der metallenen Schublade lag. Der Pathologe zog sie heraus, bis etwa die Hälfte davon in den Raum ragte. Ohne Ankündigung, ohne vorbereitende Worte und ohne die Fra­ge, ob sie denn bereit sei, schlug er das Lei­nentuch zu­rück, so dass Kopf und Schul­tern einer jun­gen Frau zum Vorschein kamen. Der Tod war gnädig mit ihr ge­we­sen. Die an Alabas­ter erinnernde Haut war un­versehrt, die Augen und Lippen waren geschlossen. Sie strahl­te eine para­doxe Friedlichkeit aus, fast, als würde sie schlafen. Der Poli­zist konnte sich dem zarten Antlitz der To­ten ebenso nicht ent­ziehen wie zuvor auf dem Gang dem Anblick seines Schütz­lings. Trotz der schulterlangen, rot­gefärbten Haare der Verstorbenen war die ver­wandt­schaft­liche Bezie­h­ung zu seiner Begleiterin leicht zu erkennen. In­nerlich sank er ein wenig zusammen. Wie musste sie sich füh­len? Er sah hin­über und bemerkte, dass sie vor sich auf den Boden starr­te – sie hatte es noch nicht fertiggebracht, den Leichnam an­zu­sehen. Und wie sie da­stand, noch hilfloser und angreif­barer als zuvor, hätte er ihr die Notwendigkeit am liebsten erspart, auch wenn er wusste, dass dies nicht mög­lich war. Doch bevor er sich mit trösten­den Worten an die Frau wen­den konnte, raunte der ungedul­dig wirkende Arzt ein bar­sches „это ее?" Ist sie es?

    Die Frau blickte auf und sofort zeigte sich der Schmerz auf ihrem Gesicht. Es dauerte eine Zeit, bis sie schweigend nickte und sich, bevor einer der beiden Männer es hätten ver­hin­dern können, nach vorne beugte und der Toten einen Kuss auf die Stirn gab. Dann wandte sie sich dem Polizisten zu, den die feste, fast entschlossene Stimme überraschte, als sie ihn bat, ihr genau zu erzählen, was passiert sei.

    Kapitel III

    Heute, 14 Jahre später

    „Ich habe doch gleich gesagt, dass es keine gute Idee ist, zu diesem Treffen zu gehen!" Holger Wohlfahrt sah seine Frau Iris nicht an, der vorwurfsvolle Ton erübrigte eine Verstär­kung durch einen scharfen Blick. Außerdem konnte er trotz des Ärgers, den er verspürte, den Anblick ihres ver­heulten Gesichts nicht gut ertragen, immerhin war sie es, die es in die­ser Situation am schwersten hatte, das musste er ohne Abstriche eingestehen. Aber warum Iris im Vorfeld geglaubt hatte, dass es bei diesem – dem x-ten – Versuch besser laufen sollte als die Male zuvor, konnte Holger sich nicht erklären. Ein harmonisches Zusammen­treffen mit ihrer Schwester und deren Mann hatte sie sich trotz der nieder­schmetternden Er­fahrungen gewünscht. Er hatte sich gleich gefragt, warum es auf einmal anders sein könnte. Warum Patrick sie diesmal nicht von oben herab behandeln sollte, sich nicht über seine Tätigkeit als Sachbearbeiter in dem Lo­gistikunternehmen lus­­tig machen und nicht das halbe Deputat von Iris an der Grund­schule kleinreden? Nicht über die faszinie­ren­den Rei­sen prahlen würde oder ihn nicht gönner­haft zu einer Probe­fahrt in seinem neuen Ferrari oder McLaren einzu­laden, da­mit Holger auch einmal im Leben dieses Gefühl haben konn­te? Er hatte Iris diese Frage gestellt, aber in ihr schien der Wunsch, von ihrer Schwester ein wenig Beachtung, Zunei­gung, vielleicht gar Anerkennung zu erhal­ten, so be­stim­mend zu sein, dass sie seine Bedenken ausge­blendet und das Tref­fen organisiert hatte. Im Waldesruh, jenem sündhaft teu­ren Schlosshotel weit abseits gelegen in einem engen Schwarz­waldtal, in dem sie sich jetzt bei wildem Schnee­treiben durch die immer höher werdenden Verweh­ungen in Richtung Frei­burg kämpften.

    „Wir nehmen bei diesem Wetter selbstverständlich ein Zim­mer", hatte Patrick spontan entschieden, obwohl es in Hol­gers Augen nichts gab, was den Mercedes G 4x4² seines Schwa­­gers hätte aufhalten oder in Gefahr bringen können. Doch sie mussten zurück nach Freiburg: Der Gutschein, den Iris von ihren Kolleginnen zum Geburtstag bekommen hatte, deckte nicht einmal die Hälfte der Kosten für das Abend­essen ab. Und so fanden sie sich, frustriert, genervt, er­nied­rigt und in Sorge um eine sichere Heimkehr in ihrem 2001er Renault Clio und schwiegen sich seit Holgers Fest­stellung gegenseitig an.

    Die Bedingungen verschlechterten sich zu­sehends. Die Ne­belscheinwerfer halfen wenig dabei, die Straße unter der Schnee­­decke auszumachen, und wären nicht die schwarz-ro­ten Stangen am Fahrbahnrand gewesen, hätte man sich nicht sicher sein können, noch Asphalt unter den Rädern zu ha­ben. Wenn es so weiterging, würden sie bald nicht mehr vor­wärts­kommen. Schon jetzt schob der Clio mit seiner Front­schürze Schnee auf, der dann und wann von Windböen über die Motorhaube und die Windschutzscheibe geblasen wur­de. Nach und nach wurden Holgers Gedanken an den desas­trösen Abend verdrängt von Plänen und Szenarien, wie Iris und er die Nacht in dem Auto verbringen könnten, sollten sie tatsächlich nicht mehr weiterkommen. Er sinnierte über die Risiken und Chancen, die Temperatur im Wagen­inneren bei laufendem Motor aufrechterhalten zu können und ver­suchte einzuschätzen, wie lange der Tankinhalt im Leerlauf die lebenserhaltende Wärme wohl bereitstellen konnte.

    „Vorsicht!"

    Erschrocken trat Holger auf die Bremse und riss das Steuer herum, um der Gestalt auszuweichen, die wie ein Geist aus dem Dunkel vor dem Renault aufgetaucht war! Im Augen­winkel erkannte er in Sekundenbruchteilen ein zierliches Mäd­chen mit lan­gen, roten Haaren, die in ihrem weißen Nacht­hemd über der Straße zu schweben schien, dann schleu­derte der Wagen um die eigene Achse und das Bild verlor sich Schneegestöber. Doch als das Auto nach zwei kompletten Drehun­gen mit dem Heck in einen Schnee­berg prallte und entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung wie­der zum Stehen kam, erfassten die Scheinwerfer die groteske Erscheinung wieder! Etwa zehn Meter vor ihnen stand das Mädchen, fast noch ein Kind. Erst jetzt nahm Holger Details der Szenerie war: Das weiße Nachthemd schien an Bauch und Brust blut­durch­tränkt zu sein! Die Arme und Beine, die nackt aus dem dün­nen Stoff ragten, waren blau vor Kälte und das furchteinflößende Mes­ser, das das Mädchen in der Hand hielt, war ebenfalls blut­verschmiert! Doch das bei weitem Schlimm­ste war der ausdrucks­lose, irre anmutende Blick, mit dem die Unbekannte ins Wagenin­nere starrte. Erst als die Gestalt mit zombieähnlichen Bewegun­gen auf sie zu­wankte, hörte Holger die verzwei­felten Schreie seiner Frau auf dem Beifahrersitz.

    Als das Klingeln ihres Mobiltelefons Sarah Hansen aus der ersten Tiefschlafphase riss, musste sie sich zuerst orien­tieren. Die vier Wochen zuvor hatte sie sich, den Resturlaub nutzend, um ihre Mutter gekümmert, die nach einem Bein­bruch aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen worden war. Sarah hatte selbst­verständlich in ihrem Elternhaus über­­­nachtet und war erst gestern Abend aus Kiel zurück­gekehrt. Und da sie die Woh­nung in ihrer Wahlheimat Frei­burg erst vor einem guten hal­ben Jahr bezogen hatte, war die Zeit im Norden lang ge­nug gewesen, um jetzt im schlaf­trun­kenen Zustand erst ein­mal stirnrunzelnd umher­blicken zu müssen. Doch nach wenigen Sekunden hatte sie die Ge­dan­ken sortiert, stand auf und steu­erte zielsicher die Tür zur Wohn­küche an, wo sie das Handy offensichtlich drei Stun­den zuvor vergessen hatte. Im Display sah die Polizistin die Nummer ihres Partners Tho­mas Bierman, mit dem sie, seit sie sich zur Kriminalpolizei in der Breisgaumetropole hatte versetzen lassen, zusammen­arbeitete. Dass ihr wortkarger Kol­lege um diese Uhrzeit bei ihr anrief, konnte nichts an­de­res bedeuten, als dass es einen Fall gab, bei dem ihrer beider Anwesenheit zwingend erfor­derlich war.

    „Hallo Thomas, was gibt es?", meldete sie sich.

    „In einem Nebental zwischen Furtwangen und Titisee hat ein Ehe­paar fast ein Mädchen überfahren. Sie konn­ten aus­wei­­chen, ohne den Teenager zu verletzen, stehen aber selbst un­ter Schock. Ich bin schon auf dem Weg zu dir."

    „Und was haben wir damit zu tun?", fragte Sarah, steuerte jedoch bereits wieder das Schlafzimmer an, um sich der ei­sigen Nachtkälte angepasste Kleidung zusammen­zusu­chen. Denn eins war sicher: Wenn Thomas anrief, um sie abzu­holen, war die Frage der Zuständigkeit eigentlich be­langlos. Es würde triftige Gründe geben und er würde recht bald bei ihr vor der Tür stehen.

    „Es sind äußerst merkwürdige Umstände: Die Kleidung des Mädchens war mit Blut geradezu durchtränkt. Außerdem trug sie nichts außer einem weißen, ja, sagen wir Gewand und hatte obendrein ein merkwürdiges Messer bei sich."

    Sarah hatte bereits die Merinounterwäsche hervorgeholt, stell­te das Telefon auf Lautsprecher und streifte sich die war­me Unterkleidung über. Jetzt nahm sie die Skisocken und die etwas dickere Jeans aus dem Schrank und langte auch nach ihrem wärmsten Winterpullover.

    „Hat das Mädchen irgendetwas gesagt? Ist sie an­sprech­bar?"

    Sie begann, in die Sachen zu schlüpfen.

    „Es war hochgradig unterkühlt, wurde von den Ret­tungs­sanitätern stabilisiert und ist auf dem Weg in die Kin­der­uniklinik. Wann bist du soweit?"

    „Ich brauche noch drei bis vier Minuten. Wo bist du?"

    „Ich biege gerade in deine Straße ein, stehe also gleich vor der Haustür."

    Das hatte Sarah in etwa erwartet. Sie beeilte sich, ihr Outfit zu komplettieren, stieg in die kanadischen Winterboots und steckte sich auf die Schnelle einen Apfel in die Tasche. Auch wenn es ihr überflüssig erschien, holte sie noch ihre Dienst­waffe aus dem Möbeltresor hervor, steckte sie in den Gürtel­holster, angelte den Schlüsselbund vom Küchentisch und verließ die Woh­nung. Durch die Fenster im Treppenhaus konnte sie sehen, dass es wieder heftig schneite und sich be­reits eine mehrere Zentimeter dicke Schneeschicht auf den parkenden Autos ge­bil­det hatte. Auf der ebenfalls ver­schneiten Straße fuhr ge­rade im Moment Thomas in dem brand­neuen Mercedes ML vor und hielt direkt vor der Haus­tür. Sarah trat hinaus in die Kälte und beeilte sich, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.

    „Hallo", sagte sie, schlug die Tür zu und schnallte sich an.

    „Grüß dich", entgegnete ihr Partner und fuhr sofort los.

    „Ich habe dich, erläuterte er, „so kurzfristig informiert, weil ich erst noch Schwarz gebeten habe, das Kind in der Klinik in Empfang zu nehmen und Spuren zu sichern, be­vor sie vernichtet werden. Außerdem habe ich die Hunde­staffel or­ganisiert. Die werden wir bei diesen Bedingun­gen dringend brauchen, denn Spuren sind inner­halb einer halben Stunde zugeschneit. Zudem musste ich die Rettungs­sanitäter dazu bewegen, ein Stück Kleidung zu entfernen, wel­ches wir als Probe für die Hunde verwenden können. Sie haben sich ziemlich geziert, aber sie haben den Streifen­polizisten ein Stückchen dagelassen.

    Sarah war wie schon mehrfach zuvor von der Übersicht und der tadellosen Organisation Biermans beeindruckt. Den Rechts­­­mediziner Dr. Schwarz in die Klinik zu beordern und dafür zu sorgen, dass vor Ort die Spuren verfolgt werden konnten, war angesichts der unklaren Sachlage sehr vor­aus­schauend.

    „Okay, antwortete Sarah. „Da du nur von Unterkühlung gesprochen hast, gehe ich davon aus, dass das erwähnte Blut nicht von dem Mädchen stammt?

    „So ist es", bestätigte Thomas. „Auf dem Messer, das die Polizisten vor Ort als merkwürdig bezeichnet haben, soll auch jede Menge Blut gewesen sein. Aber ganz offensichtlich stammt es nicht von dem Mädchen."

    „Konnte schon festgestellt werden, ob es sich um mensch­liches Blut handelt?"

    „Nein. Aber die Skurrilität der Szenerie hat ausgereicht, dass die Streifenpolizisten es für angesagt hielten, die Kripo zu informieren. Und du kennst ja Gröber, wenn ein Fall das Potential hat, spektakulär zu werden, reißt er ihn sich unter den Nagel."

    Sarah musste lächeln, kannte sie doch die Profilneurose des Chefs nur allzu gut.

    „Ist das Paar noch vor Ort?", fragte sie, während Thomas in Richtung der Schnellstraße Richtung Höllental fuhr.

    „Ja, auch wenn den beiden sicherlich recht kalt sein dürfte, habe ich darauf bestanden, dass sie dortbleiben. Im Umfeld der Vorkommnisse ist das Erinnerungsvermögen besser und wer weiß, welches Detail uns später weiterhilft."

    Trotz der fortgeschrittenen Zeit näherten sie sich einem Schneepflug, der vor ihnen die Straße freiräumte und am Heck Salz auf der Straße verteilte. Thomas schien die Ge­schwindigkeit des Räumfahrzeugs aber nicht auszurei­chen. Kurzum scherte er auf die noch schneebedeckte linke Spur und gab ordentlich Gas. Sarahs fragenden Blick von der Seite bemerkte er offensichtlich, denn er lächelte und mur­melte nur etwas von Allradantrieb und Winterreifen.

    „Wo ist das Ganze denn eigentlich passiert?", fragte Sarah, als sie am Ende der Schnellstraße auf die rechte Spur wech­selten.

    „Gegen Ende des Höllentals müssen wir erst Richtung Furt­wangen abbiegen und dann in ein Seitental, dessen Na­men ich nicht kenne. Es führt wohl zu einem Schlossres­taurant ir­gendwo in den Tiefen des Schwarzwalds."

    Sorge darüber, dass auch irgendwann für das SUV der Schnee zu hoch liegen konnte, hatte er offensichtlich nicht.

    Als sie die Gemeinde Kirchzarten hinter sich gelassen hatten und schon ins Höllental einfuhren, läutete Thomas` Mobilte­lefon und der Anruf sprang auf die Freisprecheinrichtung des ML. Die Nummer war beiden Polizisten bekannt.

    „Schwarz, was haben Sie für uns?", fragte Thomas den Rechts­­­mediziner ohne jegliche Begrüßung.

    „Ich wollte Sie beide nur informieren: Die Kleine ist gerade angekommen, informierte der Anrufer. „Sie scheint stabil, wird aber erst untersucht, ob nicht doch Verletzungen vor­liegen, die lebenserhaltende Maßnahmen erfordern. Danach kann ich mit der behandelnden Ärztin zusammen die Unter­suchungen vornehmen und Beweismaterial sichern. Sie ist sehr kooperativ.

    „Sehr gut!, ließ Thomas zufrieden verlauten. „Stellen Sie bit­te so schnell wie möglich fest, ob das Blut an der Klei­dung des Mädchens menschliches Blut ist. Davon hängt unsere weitere Vorgehensweise ab.

    „Das werde ich, versprach Schwarz. „Haben Sie sonst noch etwas, auf das ich im Besonderen achten soll?

    Thomas wandte Sarah den Kopf zu und sah sie fragend an.

    „Fesselungsspuren werden Ihnen ja sicherlich ohnehin auf­fallen", meinte er, fügte aber einer Intuition folgend noch eine Bitte hinzu.

    „Ist ein Tox-Screening Standardprocedere? Ich würde gerne überprüft haben, ob Sedativa oder andere Betäubungsmittel nachzuweisen sind", fragte Sarah.

    „Werde ich an das Labor weitergeben. Und die Finger­ab­drücke sowie physiologische Daten werde ich Ihnen zu­kom­men lassen, dass Sie so schnell wie möglich bei den Vermiss­ten­meldungen und in der Datenbank forschen können."

    Schwarz hatte aus den Nachfragen geschlossen, dass die Polizistin einen Zusammenhang mit einem Vermisstenfall oder gar einer Entführung für möglich hielt.

    „Sehr gut, danke", quittierte Thomas den Vorschlag.

    „Die Ärztin kommt gerade aus dem Untersuchungsraum, ich lege jetzt auf", unterbrach Schwarz das Telefonat und es klickte in der Leitung.

    Während der nächsten zwanzig Minuten, die die Polizisten schweigend nebeneinandersaßen, wurden die Straßen im­mer schmaler, der Wald immer dichter und die Schneehöhe erreichte geschätzte vierzig Zentimeter. Trotzdem kamen sie in der weißen Winterlandschaft zügig voran. Sarah, für die es der erste Winter im Schwarzwald war, beobachtete inter­essiert das Spiel von Licht und Schatten, das die Schein­wer­fer auf Straße und Bäume vor ihnen zauberte. Die Sze­nerie löste ambivalente Gefühle in ihr aus. Zum einen spürte sie einen tiefen Frieden, strahlten die unberührte Schnee­decke und die dicken, nieder­sinkenden Flocken doch etwas Be­ruhigendes, fast Weihnachtliches aus. Ein Gefühl von Ge­bor­genheit, einer warmen Stube mit einem knis­ternden Kamin­feuer. Zum anderen aber erschienen ihr die bewegten Schat­ten zuweilen wie flüchtige Geister oder bös­artige Krea­turen, die vor dem Licht des SUV zu fliehen such­ten. Sie stell­te sich vor, was für ein Schock es für das Ehepaar gewesen sein muss­te, als plötzlich die blutver­schmierte Ge­stalt auf der Straße aufgetaucht war, und sie fröstelte unwill­kürlich. Ja, der Wald hatte auch eine sehr be­drohliche Aus­strahlung!

    Nach einer Kurve, die Thomas Bierman mit leicht ausbre­chen­dem Heck etwas zu schnell durchfuhr, war in gut ein­hun­dert Metern Entfernung ein Blaulicht zu erkennen. Aus der Ent­fernung sah es aus, als wäre die Stelle, an der auch zwei Fahr­zeuge zu erkennen waren, aus einer Märchener­zählung ent­nommen, in der ein Zauberer mit blauen Blitzen die schnee­bedeckten Bäume mystisch zum Leuchten brachte. Ob ihr Partner ebenfalls von dem fast magischen Schauspiel gefes­selt war, oder er einfach gerade nichts mitzuteilen hatte, ver­mochte Sarah nicht zu entschei­den. Aber er starrte auch durch die von den Wischblättern vom Schnee freigehaltene Wind­schutz­­s­cheibe und sprach kein Wort, bis der ML hinter dem Einsatzfahrzeug der Polizei zum Stehen kam.

    „Da wären wir", sagte er kurz, zog sich den Kragen seines Parka fester zu und stülpte sich die Kapuze über. Dann öff­nete er die Tür und stieg aus. Sarah folgte seinem Beispiel und optimierte den Sitz ihrer Kleidung, verließ das Fahrzeug und stapfte neben ih­rem Partner auf den Polizeiwagen zu, der mit laufendem Mo­­tor sowohl den zwei Polizisten als auch offensichtlich dem unbekannten Ehepaar Wärme und Schutz bot. Thomas klopfte an die Scheibe. Als das Glas her­untergefahren war und einen mehrere Zentimeter hohen Schneerand im Rah­men stehen ließ, bat Thomas zunächst das Paar auszusteigen und zu schildern, was ihnen wider­fahren war. Erstaunlich ge­lassen berichteten die beiden von dem Vorfall und zeigten auch, wo das Mädchen zum ersten Mal aufgetaucht war, wie ihr Fahrzeug ins Schlittern geriet und an die Stelle rutschte, an der es immer noch stand.

    „Wie haben Sie danach mit dem Kind interagiert?", fragte Sarah.

    Der Mann blickte kurz zu seiner Frau und antwortete, nach­dem diese ihm zugenickt hatte.

    „Zunächst haben wir nur dagesessen, im Schock sozusagen, denn es sah unheimlich gruselig aus, wie diese Gestalt mit dem Messer in der Hand auf uns zugetorkelt ist."

    Er schüttelte sich ein wenig

    „Aber wir haben recht schnell bemerkt, dass das Mädchen orientierungslos war und sich in einer Notlage befand. Ich bin ausgestiegen und habe es angesprochen."

    „Hat es irgendwie reagiert?", hakte Thomas nach.

    „Es hat aufgeschaut, aber eher durch mich durch. Ich bin ganz langsam zu ihm gegangen und habe leise und be­schwich­­­­tigend auf es eingeredet."

    „Sie haben sich ihr trotz des Messers genähert? Das ist mu­tig!" stellte Sarah fest.

    „Ja, aber es war doch ganz offensichtlich noch fast ein Kind. Aber vor­sichtig war ich trotzdem, das können Sie mir glau­ben. Meine Frau hat auch gerufen, ich solle von ihm fernblei­ben."

    Er warf einen Blick auf seine Partnerin, die sofort anfing, sich zu verteidigen.

    „Ich hatte so eine Angst um ihn! Diese groteske Situation, wir zwei allein hier im verschneiten Wald…man hat schon so viele entsetzliche Geschichten gehört."

    „Und 99,99 Prozent davon sind Urban Legends", ließ Thomas verlauten, doch Sarah beschwichtigte die Frau.

    „Ich hätte auch große Sorge gehabt, werfen Sie sich nichts vor." Dann wandte sie sich wieder dem Mann zu, der gerade den frischen Schnee von der Mütze schüttelte.

    „Wie haben Sie das Mädchen entwaffnet?"

    „Es hat das Messer in den Schnee fallen lassen und ist schnur­­stracks auf mich zu gelaufen, da habe ich es in den Arm ge­nommen und festgehalten. Daraufhin stieg meine Frau aus, wir haben es ins warme Auto gebracht und die Heizung weiter aufgedreht."

    „Ich habe, warf die Frau ein, „es mit auf den Rücksitz ge­nommen und die ganze Zeit im Arm gehalten, während Hol­­ger den Notruf gewählt hat. Gott sei Dank hat man hier einigermaßen Empfang.

    Sarah und Thomas nickten wissend, gab es in den dünn besiedelten Ecken des Schwarzwalds noch so einige Funk­löcher.

    „Hat das Mädchen irgendetwas gesagt, während Sie mit ihm zusammen waren?", wollte Thomas wissen.

    Beide schüttelten den Kopf.

    „Nicht ein einziges Wort. Es hat auch keine Emotionen wie Weinen oder Schreien gezeigt, ließ sich einfach von mir festhalten." Der Frau standen Tränen der Rührung in den Au­gen.

    „Als dann die Sanitäter kamen, ließ es sich widerstandslos aus den Armen meiner Frau nehmen und in den Rettungs­wagen bringen", beendete der Mann den Bericht.

    „In Ordnung. Thomas schien mit der Befragung zufrieden. „Machen Sie sich auf den Heimweg, wir brauchen Sie im Moment nicht mehr. Ihre Personalien haben wir?

    Der Mann nickte, Thomas deutete die Straße hinunter.

    „Glauben Sie, die Spur, die wir mit dem SUV ge­zo­gen haben, reicht aus, um sicher zu den Hauptstraßen zu kommen?"

    Der Angesprochene sah sich den Weg hinter dem Mer­cedes an, wo die Schneise, die die beiden Krimina­lbeamten zuvor gebahnt hatten, bereits wieder weichere Konturen annahm.

    „Ja, das schaffen wir", entgegnete er, den skeptischen Blicken seiner Frau zum Trotz, und stieg in den Wagen. Als auch sei­ne Begleitung eingestiegen war, gelang es ihm nach einigen An­läufen und mit durchdrehenden Reifen, an den beiden Poli­zei­­fahrzeugen vorbeizumanövrieren und schließ­lich auf dem festgefahrenen Schnee ohne sichtbare Beein­träch­ti­gung weiterzufahren.

    Als die Rücklichter in der Dunkelheit verschwunden waren, stiegen Sarah und Thomas kurzerhand in den Streifen­wa­gen.

    „So, Kollegen. Zeigen Sie uns doch als erstes das Messer, welches das Kind bei sich gehabt hat."

    Der Uniformierte auf dem Beifahrersitz langte in den Fuß­raum und reichte eine transparente Beweismitteltüte nach hinten. Sarah nahm die Stichwaffe entgegen. Sie und ihr Part­­ner betrachteten das blutverschmierte Corpus Delikti eine Weile. Dann ergriff Sarah das Wort.

    „Das ist eher ein Dolch als ein Messer."

    Sie hielt die einschneidige, spitze Waffe näher an die Fond­beleuchtung des Autos.

    „Der sieht aus, als käme er direkt aus einem Fantasyfilm. Aus Herr der Ringe oder so."

    Thomas nickte bekräftigend.

    „Ja, er erinnert an eine rituelle Waffe, eine Art Opferdolch."

    Schweigend studierten sie Klinge und Griff des Objekts, die reich verziert und mit seltsamen Symbolen graviert wa­ren. Die beiden bemühten sich, die Geschehnisse und die Waffe in einen plau­siblen Kontext zu bringen. Nach einigen Mi­nuten trafen sich ihre Blicke und Thomas sagte:

    „Du zuerst!"

    Sarah nahm die Einladung gerne an und begann, ohne auf die schweigend auf die in der Front sitzenden Beamten zu achten, ihre Theorie vorzutragen.

    „So grotesk das auch klingen mag, aber ist es möglich, dass das junge Mädchen an einer rituellen Zeremonie teilge­nom­men hat? Sie nach Vollzug an dem Opfer, sei es ein Tier oder ein Mensch einen Schock erlitt und verwirrt in den Wald lief?"

    „Genau diesen Gedanken hatte ich auch." Er sah un­ge­duldig auf die Uhr.

    „Wir brauchen dringend die Hunde und auch die Spu­ren­sicherung. Ich bin sicher, dass es einen Tatort zu finden gibt."

    Jetzt erst wandte sich Thomas an die Beamten auf dem Fah­rer- und Beifahrersitz.

    „Haben Sie noch etwas bemerkt, was Ihnen aufgestoßen ist oder was für uns von Relevanz sein könnte?"

    Zwei übermüdete Augenpaare trafen sich, dann drehten sich beide nach hinten um und schüttelten den Kopf.

    „Nicht, dass ich mich an etwas erinnern könnte", sagte der ältere Polizist auf dem Fahrersitz.

    „Okay, dann wären Sie beide eigentlich hier fertig. Den voll­ständigen Einsatzbericht bitte an das K11 zu meinen Hän­den."

    Nachdem er ein verlangsamtes, fast resigniertes Nicken entgegengenommen hatte, setzte er im Laufe des Montagvor­mittags hinzu, woraufhin die Gesichter der Poli­zisten deut­lich entspannter wirkten. Sarah nahm diese ver­ständ­nisvolle Geste ihres Partners ein wenig erstaunt aber erfreut wahr, ließ Thomas doch für gewöhnlich keine Ver­zö­gerungen oder Entschuldigungen zu, wenn es um be­ruf­liche Anweisungen ging. Der Uniformierte auf dem Beifah­rersitz übergab Tho­mas, der die Tür bereits geöffnet hatte, einen wei­teren Beutel, in dem ein Stück weißer, mit Blut be­schmutzter Stoff zu se­hen war.

    „Dankeschön! Ihnen einen stressfreien Abend", wün­schte Sarah den Beamten, nachdem ihr Kollege den Wa­gen gruß­los verlassen hatte. Sie stieg ebenfalls aus, setzte sich zurück in den ML und beobachtete das Wendemanöver des Ein­satz­fahrzeugs. Noch bevor der Wagen außer Sicht war, kün­­digte eine Komposition aus gelben und blauen Blink­lichtern die Ankunft der Hundestaffel und der Kriminal­tech­nik an. Vo­raus fuhr ein ziviler Schneepflug, den die Kollegen ir­gend­wie zu dieser nächtlichen Stun­de orga­nisiert hatten. So­fort nahm sich Thomas eine Ta­schen­lampe und das mobile Funk­gerät. Dann stieg er aus, um das städt­ische Fahrzeug und die ihm folgenden Wagen der Polizei vor der Stelle zu stoppen, an dem das Mädchen aus dem Wald aufgetaucht war. Sarah rüstete sich ebenfalls mit Walkie­Talkie und Ta­schenlampe aus und verließ den Wagen. Noch während ihr Partner den Schneepflug anwies, zu wenden und die Straße weiter frei­zuhalten, verließen zwei in Winteruniformen ge­packte Be­amte der Hundestaffel das erste Fahrzeug und gin­gen in Rich­tung der Hecktüren des Kastenwagens. Sogleich war aufgeregtes Gebell zu hören. Auch dem Wa­gen der Spu­ren­sicherung entstiegen den Witterungs­verhält­nissen ent­sprech­end gekleidete Polizisten. Thomas wandte sich an die Kollegen.

    „Guten Abend, oder besser: Guten Morgen zusammen. Wir haben folgende Situation: Dort vorne, er wies auf die Stelle, die das Ehepaar zuvor gezeigt hatte, „ist es zu einem Bei­na­he­unfall mit einer Minderjährigen gekommen, die nur mit einem Nachthemd bekleidet und einem Messer in der Hand aus dem Wald aufgetaucht ist. Die Kleidung war mit einer ziemlichen Menge an Blut beschmutzt. Das Mädchen hat sich nicht zu dem Vorfall äußern können, aber wir vermuten in der Umgebung einen wie auch immer gearteten Tatort. Das bedeutet: Die Hunde gehen voraus, um die Spur auf­zu­neh­men. Meine Partnerin und ich folgen, um gegebenenfalls den Tatort zu sichern. Sie von der Spusi haben also noch etwas Zeit, um Ihre Ausrüstung zu packen. Wir rufen Sie, wenn wir etwas finden, das kriminaltechnisch unter­sucht werden muss. Kanal 48.

    Er stöpselte den Kopfhörer in das Gerät und drückte sich den Lautsprecher in den Gehörgang. Dann winkte er mit dem Funkgerät und wandte sich an die Hundeführer.

    „Ich habe eine Geruchsprobe, die sowohl von dem Kind als auch von unbekanntem Blut kontaminiert ist."

    Sarah zog die Tüte aus ihrer Tasche und zeigte sie den Be­amten.

    „Das Mädchen war wohl barfuß unterwegs. Entscheiden Sie, welcher Ihrer Vierbeiner am besten geeignet ist."

    Die beiden sahen auf das Stück Stoff in dem Beutel, blickten einander kurz an und schienen wortlos übereingekommen zu sein.

    „Das mache ich mit Connor", sagte der jüngere Hunde­füh­rer, ging um den Wagen herum und erschien kurz darauf mit einem Australian Shepherd Rüden. Der Ältere nahm Sarah die Tüte ab, öffnete sie und ließ den Hund die Schnau­ze hin­ein­stecken. Dieser schnüffelte, zog nach einer knappen hal­ben Minute die Nase aus der Tüte, setzte sich auf die Hin­terläufe und wartete.

    „Such!"

    Es dauerte nicht lange, bis Connor anschlug, und den Er­zäh­lungen der Zeugen zufolge musste dies die Stelle gewe­sen sein, wo das Kind das Messer hatte fallen lassen. Der Hunde­führer blickte fragend in Sarahs und Thomas` Rich­tung. Letz­terer bedeutete dem Kollegen, den Hund weiter­suchen zu lassen. Wieder vergingen keine fünf Minuten, bis der Vier­­beiner sein Herrchen schnurstracks von der Straße weg in den Wald zog.

    „In Ordnung, meinte Sarah und schaltete die Taschen­lam­pe ein. „Dann mal los.

    „Ohrhörer rein und Funkgerät auf VOX stellen! Ich möchte nicht, dass wir uns lautstark unterhalten müssen. Handys auf lautlos!"

    Während Sarah und der Beamte der Hundestaffel der Auf­for­derung nachkamen, kramte Thomas noch sein Smart­phone aus der Tasche, aktivierte die GPS gestützte Strecken­aufzeichnung und ließ ebenfalls die Lampe aufleuchten. Dann folgten sie Connor in kurzem Abstand ins Dickicht des Waldes.

    Auch wenn unter den hohen Tannen, um die sie der Spür­hund leitete,

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