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Ackerblut
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eBook468 Seiten6 Stunden

Ackerblut

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Über dieses E-Book

Sarah Hansen, die bei ihrem letzten Fall in ihrer Heimat in Schleswig-Holstein fast ums Leben gekommen wäre, kommt in ihrem neuen Wirkungsbereich in Freiburg im Breisgau an. Kaum hat sie ihre neuen Kollegen kennengelernt, werden sie und ihr Partner Thomas Bierman beauftragt, die Todesumstände eines Demonstranten zu klären, der nach dem Einsatz von Wasserwerfern tot aufgefunden wurde. Doch bevor Rechtsmediziner Dr. Schwarz eine Obduktion durchführen kann, geschieht ein bestialischer Mord, der die Arbeit an diesem Fall zunächst verzögert. Sehr bald kommt der Verdacht auf, dass die beiden Tode zusammenhängen. Was Sarah, Thomas und die Kol¬leg*innen im Laufe der weiteren Ermittlungen herausfinden, hätten sie sich nicht einmal im Traum vorstellen können!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. Mai 2019
ISBN9783748594956
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    Buchvorschau

    Ackerblut - Andre Rober

    La Jolla, Kalifornien

    Sarah Hansen, die bei ihrem letzten Fall in ihrer Heimat in Schleswig-Holstein fast ums Leben gekommen wäre, kommt in ihrem neuen Wirkungsbereich in Freiburg im Breis­­gau an. Kaum hat sie ihre neuen Kollegen kennen­gelernt, werden sie und ihr Partner Thomas Bierman be­auftragt, die Todesumstände eines Demon­stranten zu klä­ren, der nach dem Einsatz von Wasserwerfern tot auf­gefunden wurde. Doch bevor Rechtsmediziner Dr. Schwarz eine Obduktion durchführen kann, geschieht ein besti­ali­scher Mord, der die Arbeit an diesem Fall zunächst ver­zögert. Sehr bald kommt der Verdacht auf, dass die bei­den Tode zusammenhängen. Was Sarah, Thomas und die Kol­leg*innen im Laufe der weiteren Ermittlungen her­aus­finden, hätten sie sich nicht einmal im Traum vorstellen können!

    Andre Rober, geboren 1970 in Freiburg im Breisgau, studierte Volkswirtschaftslehre und arbeitete nach dem Ab­schluss mehrere Jahre für Banken im In- und Ausland. Mit der Absicht, sich beruflich zu verändern, machte er eine Aus­bildung zum Business Coach und arbeitete parallel an seinem Erstlingswerk „Sturmernte".

    Nach „Sündenlohn schickt er mit „Ackerblut seine Pro­tagonisten Sarah Hansen und Thomas Bierman zum dritten Mal in den Einsatz.

    Andre Rober

    Ackerblut

    Thriller

    Ungekürzte Taschenbuchausgabe

    1. Auflage April 2019

    © Andre Rober, Merzhausen

    Korretorat: Christiane Portele, Dr. Friederike Zimmermann

    Umschlaggestaltung: Büro für angewandte Reklame, Merzhausen

    Umschlagfoto: © Andre Rober

    Satz: Andre Rober

    Gesetzt aus der Palatino

    Papier: Munken Cream

    Druck: Online Druck.biz

    ISBN: 978-3-947252-02-2

    „Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!"

    (Genesis 4, 10)

    Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, wischte sich Tra­vor Willard mit seinen übergroßen Funktions­schweiß­bän­dern über das Gesicht und konnte so verhindern, dass das Transpirat seine Brauen durchdrang und ihm in die Augen lief. Trotz seiner vierundfünfzig Jahre war er in über­durch­schnittlicher körperlicher Verfassung und lief die knapp zehn Meilen, die er täglich noch vor dem Frühstück zu­rücklegte, deutlich unter einer Stunde. Und das, obwohl ihn die Stre­cke nicht nur über den Sand von La Jolla Shores führte, sondern auch hinauf bis zum Gipfel des Mount Soledad. Zugegeben, dort oben angekommen, hielt er seinen Polar-Trainingschronographen immer für einige Minuten an, und auch heute ließ er die letzten Meter eher lockeren Schrittes hinter sich, bevor er den linken Arm hob, Zeit und Puls kontrollierte und dann die Uhr anhielt. Er stemmte seine Arme auf die Knie und atmete einige Male tief durch. Dass jetzt der Schweiß von seiner Nasenspitze herunter tropfte und auf dem staubigen Asphalt Spuren wie bei einem ein­setzenden Herbstregen hinterließ, störte ihn nicht. Ein Mann seines Alters durfte ruhig ordentlich schwitzen, wenn er derart hart an seinem Körper arbeitete. Als sich sein Atem innerhalb kürzester Zeit beruhigt und sein Puls eine Frequenz unter achtzig Schlägen pro Minute erreicht hatte, richtete er sich auf und wandte seinen Blick als erstes gen Westen auf die Weite des Pazifiks, wo der Horizont um die­se Uhrzeit noch eine ungetrübte dunkelblaue Farbe hatte. Obwohl er diese Aussicht, seit er dem Ruf an die UCSD vor fünfzehn Jahren gefolgt war, beinahe jeden Tag genießen konnte, war sie für ihn immer aufs Neue über­wältigend. Und da sich heute der June Gloom, ein häufig im Frühsommer auftretender Morgennebel, nicht über dem Küstenstreifen gebildet hatte, war die Sicht atemberaubend. Langsam drehte er sich nach links. Im Sü­den konnte er nun Richtung San Diego sehen. Er erkann­te die Bauten des Sea World an den Wasser­flächen von Mission Bay. Westlich vom Point Loma waren eindeutig die Umrisse einiger Kriegsschiffe zu erkennen und der Flugzeug­träger, der langsam hinter der Landzunge auftauchte, bestätigte Tre­vors Verdacht, dass gerade ein kompletter Trä­ger­ver­band den Hafen von San Diego verließ. Richtung Osten konn­te er selbst mit zu­sammengekniffenen Augen nicht schauen, zu grell war bereits das Licht der Sonne, die über den Bergen des Cleveland National Forrest und des Cuyamaca Rancho State Parks stand. Erst als er seine Augen weiter in Rich­tung Norden wandern ließ und mit ausgestreckter Hand für Schatten auf seinem Gesicht sorgte, konnte er wie­der in die Ferne schauen. Er versuchte die weißen Kuppeln des etwa 50 Meilen entfernten Palomar Observatory auszu­machen, durch dessen Teleskope er und seine Tochter am letzten Wo­chenende Sterne und Planeten beobachtet hatten. Die sech­zehnjährige Helena, benannt nach der nach Troja ent­führten griechischen Prinzessin, hatte sich seit langem wieder einmal zu einem Wochenendausflug mit Trevor über­reden lassen. Auch wenn er als alleinerziehender Vater alles un­ternommen hatte, um seine Tochter behütet auf­wachsen zu lassen, forderte die Pubertät ihren Tribut. Trotz­dem konnte er zufrieden sein, sie war ein anständiges Mäd­chen, das Zu­sammenleben mit ihr - angesichts der Ge­schich­­ten, von de­nen er bei Elternabenden erfuhr - insge­samt sehr harmonisch. Und dass sie sich seit dem Tod von Christine, ihrer Mutter, gegenseitig umeinander kümmer­ten, sprach für das gute Verhältnis. Sein Blick traf jetzt den Campus der UCSD und wanderte die Küste entlang bis zu seinem Haus in der Marine Street. Wenn er zurückkam, hatte sie bestimmt schon das Frühstück vorbereitet, peinlich auf die Erfordernisse beider abgestimmt: für ihn, seit bei ihm eine Laktoseintoleranz diagnosti­ziert worden war, ohne Milch oder mit entsprechend anderen Pro­dukten. Für sie, da sie sich mit dreizehn für ein Leben als Vegetarierin entschieden hatte, ohne Fleisch. Trevor muss­te lächeln. Er schüttelte die Beine ein wenig aus, star­tete seine Polar-Watch, und nahm sein Training wieder auf. Das Gipfelkreuz ließ er hinter sich und lief, um seine Knie zu schonen, etwas langsamer durch den Soledad Park hinunter. Als er an der Via Capri ankam, lief ihm bereits wieder der Schweiß durch das Gesicht. Die Abbiegung zur Hidden Valley Road war einer seiner Mess­punkte, und als er abbog, sah er auf seine Polar am Hand­ge­lenk. Da er fast vierzig Se­kunden über seiner Durchschnitts­zeit lag zog er das Tempo merklich an. Als er sich von hin­ten einem am Straßen­rand geparkten schwarzen Chevrolet Tahoe näherte, bemerkte er ein undefinierbares Gefühl in der Herz­gegend. Er maß dem keinerlei Bedeutung bei und lief un­ver­ändert weiter, doch das Gefühl wurde stärker. Mit ei­nem Mal glaubte er, sein Herz sei etwas aus dem Rhyth­mus gekommen. Auch solche Aussetzer beunruhigten ihn nicht. Er hatte dies bereits von einem Kardiologen untersu­chen lassen, der ihm versichert hatte, dass nichts so besorg­nis­erregend sei wie ein Herz, das immer stur seinen mono­tonen Takt schlug. Ein paar Hüpfer waren folglich sogar ge­sund und mit diesem Gedanken lief er stoisch vor sich auf den Boden blickend weiter. Selbst als das Organ endgültig sei­nen Dienst einstellte, die Welt um ihn herum dunkel zu werden schien und er aus vollem Lauf auf dem Asphalt zu­sammenbrach, spürte er keinerlei Schmerzen.

    Freiburg im Breisgau, sechs Monate später

    Immer näher kamen sich die beiden Gesichter. Inmitten des lauten Tumultes, der sie umgab, zeigte der eine der bei­den Männer eine konzentrierte Wachsamkeit, während der andere durch den Sehschlitz seiner schwarzen Woll­mütze eine zunehmende Aggression erkennen ließ. Bis auf wenige Zentimeter hatte er seine Nase bereits der seines abwarten­den Gegenübers genähert, und wäre da nicht die Plexiglas­scheibe zwischen den beiden gewesen, hätte er auch vor ei­ner Berührung nicht zurückgeschreckt. Der Polizist, der den Schild zwischen sich und dem vermummten Mann hoch­hielt, ver­mied den direkten Blickkontakt: Er wollte den an­deren unter kei­nen Umständen provozieren, sei es durch ein Signal der Stärke, noch durch die Offensicht­lichkeit von Schwäche oder gar Angst. So lag seine Kon­zen­tration da­rauf, in einer Linie mit seinen Kollegen zu blei­ben und dem physischen Druck der Menschen vor ihnen standzu­hal­ten, ohne jedoch mit zuviel Dominanz den Schild der auf­gebrachten Menge entgegenzuschlagen. Wie lange eine Es­ka­­lation durch dieses Verhalten noch verhindert wer­den konn­te, stand für ihn jedoch in den Sternen.

    Das Rufen um sie herum wurde lauter, die Stimmung im­mer explosiver. Plötzlich ging ein Wasserschwall mit der Härte einer Keule über den Mann mit der Wollmütze und seine ebenfalls vermummten Mitstreiter nieder.

    Also doch die Wasserwerfer, dachte der Beamte und zog re­flex­artig die Schultern ein wenig nach oben. Der zwölf Bar star­ke Strahl trieb die Gruppe vor ihm mit großer Präzision nach hinten. Der Druck auf dem Schild ließ augenblicklich nach. Als klar war, dass sich niemand mehr der phalanx­ähn­lichen Linie der Uniformierten nähern würde, atmete auch der äußerlich immer noch gelassen wirkende Polizist auf und ließ seinen Schild fürs Erste sinken.

    »Kann mir vielleicht jemand sagen, warum Gröber uns ins Sitzungszimmer bestellt hat?« Nico Berner knallte, nach­dem er sich mit einem kurzen Blick durch den Raum von der Abwesenheit seines Chefs überzeugt hatte, die Tür ins Schloss. Von den drei Beamten, die bereits an dem langen Be­s­prechungstisch saßen, zeigte zunächst keiner eine Re­gung. Dann lud ihn Thomas Bierman jedoch mit einer knap­pen Geste zum Sitzen ein. Der Kriminalhaupt­kom­mis­sar war kein Freund vieler Worte, deswegen sagte er nur:

    »Die neue Kollegin!«

    Nico Berner nahm neben Bierman Platz, ihm gegenüber sa­ßen seine Partnerin Karen Polocek und der dienstälteste Be­am­te des Dezernats, Hans Pfefferle.

    »Aha«, murmelte Berner, »hoffentlich hat er sie nicht per­sön­lich ausgesucht.«

    Allein der Tonfall ließ seine Skepsis bezüglich der neuen Kollegin und seine Abneigung gegen den Ressortleiter er­kennen. Henning Gröber war, ganz den Kli­schees eines Chefs entsprechend, ein cholerischer Opportunist, der sei­nem akademischen Titel zufolge über ein abgeschlos­senes Jura­studium verfügte. Was die polizeiliche Ermitt­lungs­arbeit anging, war er jedoch keine große Leuchte. Auch wenn er, bedingt durch die Umstruk­turierung der Ab­teilung und das Ausscheiden des allseits beliebten Lei­ters Peter Schmitthen­ner, von Beginn an einen schweren Stand hatte, so trug er durch seine Art keinesfalls dazu bei, die Vorurteile gegen seine Person abzubauen oder seine Unter­gebenen gar von seinen positiven Seiten zu überzeu­gen. Allerdings hatten die Ermittler um Thomas Bierman schnell begriffen, dass Henning Gröber kein Rückgrat besaß und sie im Prinzip wie unter der lockeren Führung von Peter Schmitthenner weiterarbeiten konnten. Ankündigun­gen und Drohungen lie­fen regelmäßig ins Leere und so hatte sich die Gruppe mit dem neuen Posten des Ressort­leiters und der Person Henning Gröber arrangiert.

    »Soweit ich weiß, kommt sie irgendwo aus dem Norden und hat ihre Versetzung aufgrund der Härtefallregelung genehmigt ­be­kom­men,« teilte Pfefferle in seiner gewohnt gemüt­lichen Art mit. »Und da bei uns die Planstelle frei war und sie auch unbe­dingt zu uns wollte, lief das rei­bungslos durch. Mehr Infor­mationen habe ich auch nicht. Weißt du irgend­etwas, Thomas?«

    KHK Bierman schüttelte den Kopf.

    »Nicht mehr als das, was du gerade gesagt hast.«

    »Na, wenigstens handelt es sich um eine Kollegin«, stellte Karen Polocek fest. »Dann bekomme ich hier endlich mal etwas weibliche Unterstützung.«

    »Als ob du die nötig hättest", meinte Nico Berner, der sich bei der aufgeweckten und schlagfertigen Kollegin schon die ein oder andere verbale Ohrfeige geholt hatte, trocken. Er schaute auf die Uhr.

    »Mal sehen, ob das so ein karriere­versessenes, lesbisches Mannweib ist. Ich würde ja allzu gerne...«

    Was er allzu gerne würde, erfuhr niemand mehr, denn noch bevor Thomas oder Karen den sexistischen Rede­schwall unter Protest abwürgen konnten, öffnete sich schwung­voll die Tür zum Sitzungszimmer und die hagere, ausgemergelte Figur Henning Gröbers erschien zwischen den weißlackierten Zargen. Der Ressort­leiter trat nur halb in den Raum und hielt die Türe für seine Begleitung offen. Unter den abschätzigen Blicken der Tischrunde betrat eine etwa achtundzwanzigjährige schlanke Frau mit langen blon­den Haaren den Raum und sah sich offenen Blickes mit einer gewissen Neugier um. Und während Thomas Bier­man verblüfft die Augenbrauen hob und Nico Berner der Mund offen stehen blieb, sagte Gröber:

    »Meine Dame, meine Herren, darf ich Ihnen Ihre neue Kollegin Sarah Hansen vorstellen?«

    Mit ein wenig Herzklopfen folgte Sarah ihrem neuen Vorgesetzten Henning Gröber den Flur entlang. Gleich würde sie ihre neuen Kollegen kennenlernen. Nach all den Anstrengungen, die es gekostete hatte, endlich hier im K11 der Kriminalpolizei Freiburg angenommen zu werden, waren ihre neuen Partner ein erstes Indiz, ob sich all die Mühen gelohnt hatten. Der Leiter, den sie schon zuvor in zwei Gesprächen begutachten konnte, war freundlich aber auf irgendeine Art unangenehm gewesen. Allein seine War­nung vor ihrem neuen Partner Thomas Bierman, den er als ungehobelt, undiszipliniert und eigenbrötlerisch bes­chrie­ben hatte, war ihr seltsam aufgestoßen. Wobei diese An­merkung eher ihre bis dahin unterschwellige Abneigung gegen Gröber nährte, als ihren neuen Partner Bierman zu diskreditieren. Im Gegenteil, die Neugier auf den Mann, mit dem sie zumindest für die nächsten ein, zwei Jahre eng zusammenarbeiten sollte, wurde dadurch noch mehr ge­weckt. Auch die anderen Kommissare der Gruppe hatte Gröber kurz angesprochen und in groben Zügen soweit be­schrieben, dass sich Sarah sicher war, die vier Kollegen bei ihrer ersten Begegnung zu erkennen. Über keinen der anderen drei hatte Gröber etwas Negatives geäußert und zu guter Letzt auch Thomas Bierman bescheinigt, dass seine Erfolge überdurchschnittlich seien... und sie sich glücklich schätzen dürfe, im Kreis dieser erfolgreichen Gruppe ar­bei­ten zu können. Für Sarah wäre dies die übliche Lob­hu­delei des Chefs gegenüber der neuen Mitarbeiterin ge­we­sen, hätte sie sich nicht im Vorfeld über das Team er­kun­digt. So waren ihr bereits die zum Teil spektakulären Er­gebnisse zu Ohren gekommen, welche die ihrer Meinung nach höchst heterogene Gruppe in der Vergangenheit her­vor­gebracht hatte. Vielfalt schafft eben doch immer wieder Vorteile, dachte sie bei sich.

    »So, hier wären wir.« Gröber hielt vor der mit Kleiner Sit­zungs­raum beschrifteten Tür an, wartete noch einige Se­kunden, als ob er Sarah Zeit zum Sammeln geben wollte, und drückte dann die Klinke herunter. Sarah versuchte, als sie den Raum betrat, so selbstbewusst wie möglich, gleich­zeitig jedoch offen und verbindlich zu wirken. Die kurze Vorstellung, die Henning Gröber an seine Mitarbeiter richtete, hörte sie indes nur beiläufig, weil sie sofort die vier Personen musterte, die an dem Konferenztisch saßen. An der linken Seite, der Tür am nächsten, saß ein überge­wichtiger Mann Ende fünfzig, der sie freundlich an­lächelte. Das musste Hans Pfefferle sein, der Dienstälteste, der so wie ihr Partner Thomas Bierman den Rang eines Krimi­nalhauptkommissars bekleidete. Sarah lächelte ein wenig verhalten zurück und wandte den Blick auf die neben Pfef­ferle sitzende Frau. Da sie die einzige weibliche Person im Team war, musste dies Karen Polocek sein, die Jüngste der Ermittlergruppe, der Gröber eine hervor­ragende Intuition und ein ziemliches Temperament be­scheinigt hatte. Die klei­ne, schwarzhaarige Frau grinste breit und hob die linke Hand zu einem kurzen freudigen Winken. Sarah erwiderte den Gruß mit einem einladenden Nicken, dann wanderte ihr Blick auf die andere Seite des Tisches, wo ein gutaus­sehender Mitdreißiger sie unver­wandt interessiert anstarrte und, als sich ihre Blicke trafen, Sarah süffisant lächelnd zu­zwinkerte.

    Oh shit, dachte sie innerlich. Er weiß um sein Aussehen und schämt sich nicht, sich als Macho zu geben. Folglich musste es sich bei ihm um Nico Berner handeln. Bei ihm wurde ihr Lächeln ein kaum spürbares Maß reservierter, bevor sie sich der letzten am Tisch sitzenden Person zuwandte. Ihr neuer Partner Thomas Bierman musterte sie. Seiner Miene konnte man lediglich eine gewisse Neugier entnehmen, sie war weder übermäßig freudig, noch in irgendeiner Weise feind­selig und wohl am ehesten als neutral zu bezeichnen. Einen kurzen Augenblick schien er zu über­legen, welche Art der Begrüßung wohl angemessen wäre. Dann nickte er kurz mit dem Kopf und es kam ein knappes Hallo über seine Lippen.

    Aha, dachte Sarah bei sich, nicht sehr aufgeschlossen, so wie Gröber es beschrieben hat.

    Nichtsdestotrotz ging sie um den Tisch herum auf ihren neuen Partner zu, lächelte charmant und streckte ihm die Hand entgegen.

    »Hallo«, sagte sie. »Ich freue mich sehr, hier zu sein.«

    Bierman schien etwas verunsichert, stand dann aber doch auf und schüttelte ihre Hand. Ein fester, sehr sachlicher Händedruck.

    »Äh, ja, wir uns selbstverständlich auch.«

    Sein Blick hielt dem ihren stand und Sarah glaubte in sei­nen Augen einen Funken freudiger Erwartung aufblitzen zu sehen, seine Mundwinkel zeigten die Andeutung eines Lächelns. Sarah nahm neben ihrem neuen Partner Platz und sah wie die anderen in gespannter Erwartung zu Gröber.

    »Frau Hansen kommt aus Flensburg zu uns. Und wir dür­fen uns sehr freuen, eine junge und sehr kompetente Kolle­gin in unseren Reihen zu begrüßen. Frau Hansen war maß­geblich an den Ermittlungen zum Monster von Büsum beteiligt. Sie erinnern sich sicher an die Schlagzeilen vor ein paar Wochen.«

    Sarah errötete leicht und versuchte, den Blicken ihrer neu­en Kollegen auszuweichen. Den psychopathischen Serien­mör­der, den sie und ihre Husumer Kollegen vor einigen Wochen zur Strecke bringen konnten, hatte die Presse erst im Nachhinein als Monster von Büsum bezeichnet, da erst während der Ermittlungen klargewor­den war, dass er im Laufe der Jahre mindestens sieben junge Frauen entführt und getötet hatte. Dass dieser Fall auch hier im Südwesten bekannt geworden sein musste, entnahm sie den Reak­tio­nen der Kollegen. Während Nico Berner einen aner­ken­nenden Pfiff von sich gab und Hans Pfefferle beein­druckt mit dem Kopf nickte, hob Karen Polocek den Dau­men und flüsterte ein Wow in Sarahs Richtung.

    Lediglich Thomas Bierman regte sich nicht und Sarah ver­mutete, dass er über diesen Sachverhalt bereits Bescheid wuss­te. Gröber, von dem Interesse, auf das die Worte bei seinen Mitarbeitern stießen sichtlich beflügelt, ergriff die Chance, die Ansprache fortzuführen.

    »Auch wenn wir Ihnen hier im Schwarzwald solch spekta­kuläre Fälle nicht bieten können, so bin ich doch zuver­sichtlich, dass Sie sich hier wohlfühlen werden. Die Stadt und Regio bieten auch in der Freizeit…«

    Sarah schaltete ab. Wie immer ihr neuer Vorgesetzter jetzt die Vorzüge Südbadens beweihräuchern würde, sie wollte alles selbst herausfinden und erkunden. Vielmehr musterte sie ihre Kollegen und erkannte an deren Mienen, dass auch sie ganz offensichtlich den Worten des Chefs kein Interesse entgegenbrachten. Karen Polocek, mit deren Blicken sich die ihren trafen, lächelte verschmitzt und verdrehte leicht die Augen nach oben. Sarah grinste wissend zurück. Als Gröber schließlich nach zwei Minuten fertig war, sah sie sich genötigt, aufzustehen und ihm für den herzlichen Em­pfang zu danken und auch ihrerseits der Zusammen­arbeit freudig entgegenzusehen. Dann war die Vorstellung been­det und Gröber ließ die Ermittler allein.

    Es war der Wasserwerfer, dessen

    Einsatz die Stim­mung bei der Demonstration eskalieren ließ. Anfangs wurden die Teilnehmer von dem kalten Strahl nur in die Flucht geschla­gen. Jetzt war die Wasserfontäne, die gezielt auf die Perso­nen gerichtet wurde, welche sich den Polizeihundert­schaften näherten, so hart und konzentriert, dass die Men­schen förm­lich weggespült wurden. Kleidung zerriss, mit aufge­schlagenen Knien und gebrochenen Rippen traten die Ge­troffenen den Rückzug an. Manch einer konnte nur noch durch den Matsch kriechen, um zurück in den Schutz der skandierenden Menge zu gelangen. Der Uniformierte in der ersten Reihe, dem die Demonstranten mehrfach sehr nahe­gekommen waren, blickte skeptisch auf den gepan­zerten Wasserwerfer. Immer wieder lösten sich einige Men­schen aus dem Pulk, deren Versuch, sich den Einsatz­kräften zu nähern, sofort mit einem Schwall Wasser abge­straft wurde.

    Warum musste die Situation derart entgleiten? fragte sich der Polizist. Die Demonstration bot zwar einiges an Konflikt­po­tential, war bis zu diesem Zeitpunkt aber friedlich ver­lau­fen. Und das Anliegen der aufgebrachten Menge war dur­chaus hehr.

    Gegen die Sammlung privater Daten!

    Stopp dem Zugriff der Geheimdienste!

    Keine totale Überwachung!

    Recht auf Anonymität!

    Das Volk wird verkauft!

    Mein Privatleben gehört mir!

    Die Plakate und Banner waren mannigfaltig und zielten al-le auf dasselbe Thema ab: die zunehmende Überwachung der Kommunikation und des öffentlichen Raumes sowie die Speicherung der Daten seitens der Behörden. Entfacht wor­den war die Diskussion, als die EU-Länder als Reaktion auf die Anschläge auf die Züge in Madrid weitgehende Maß­nahmen angekündigt hatten. Neben der Vorrats­daten­spei­cherung, dem Ausbau der öffentlichen Überwachung und des verbesserten Informationsaustausches zwischen den Ge­heimdiensten, war es auch die Neuausrichtung des Joint Situation Center kurz JSC, die den Unmut der Kritiker her­vorrief. Der Polizist war gut informiert. Allzu gerne wäre er auf der anderen Seite der sich immer mehr verhär­tenden Fronten, denn auch seiner Meinung nach war die Konzen­tration und Vernetzung von privaten Daten eine sehr diffu­se, jedoch ernstzunehmende Bedrohung der freien Gesell­schaft. Insofern konnte er nicht verstehen, warum in dieser Härte gegen die Demonstranten vorgegangen wurde. Jen­seits der schlammigen Wiese waren auch Mütter mit Kin­derwagen, Jugendliche, ältere Menschen, ein Quer­schnitt aus allen Bevölkerungsgruppen, die mit ihrer Anwe­senheit und ihrer Stimme der Sorge um eine Zukunft in Freiheit und ohne staatliche Kontrolle Ausdruck verleihen wollten.

    Anke Werth konnte sich inmitten der skandierenden Men­ge kaum bewegen. Das Gedränge war so dicht, dass sie keine Chance hatte, darüber zu bestimmen, wohin sie ihre Schritte lenkte. Immer wenn die Masse versuchte, den kal­ten, harten Wasserfontänen auszuweichen, wurde sie mit­ge­rissen; mal in die eine, mal in die andere Richtung. An­fangs, als der Kontakt zu den anderen Demonstranten noch eher locker war und sie, einer Art Schwarmintelligenz fol­gend, selber aktiv in Deckung gegangen war, fand sie das Ganze noch ein wenig belustigend. Ineinander gehakt ver­mittelten die gemeinsame Bewegung und die Sprech­chöre eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl im Kampf gegen ei­nen überlegenen Gegner. Aber jetzt, da sie keine Kontrolle mehr über ihren Körper hatte, missfiel ihr die Situation zu­sehends. Nur zwei Meter neben ihr konnte sie beob­achten, wie eine junge Frau mit einem bunten Kopftuch über ihrem Rastafari scheinbar lautlos schrie und mit den Armen ver­suchte, sich an den Schultern der sie Umgebenden nach oben zu drücken. Auf ihrem geröteten Gesicht machte sich zu­sehends Angst, ja fast Panik breit, während sie, genau wie Anke, in dem Getümmel umhergewirbelt wurde. In der Mas­se wurde die missliche Lage der jungen Frau offen­kun­dig nicht wahrgenommen, nur Anke schien ihr Schick­sal nicht gleichgültig zu sein. Ihre Blicke trafen sich. Für Anke war klar: Sie würde sich nicht ohne dieses Mädchen aus dem Gerangel zurückziehen. Unter dem Ein­satz ihrer Ellen­bogen und mit lautem Schreien arbeitete sie sich das kurze Stück nach vorne. Sie nutzte die erste Chance und griff nach dem Ärmel der ihr unbekannten Frau, die mitt­lerweile wieder mit beiden Füßen auf dem Boden stand.

    »Halt dich fest«, rief sie und versuchte mit ihrem linken Arm eine kleine Lücke offenzuhalten, die sich für einen Mo­ment gebildet hatte. Noch bevor der Wollpullover, in des­sen dicke Fasern Anke ihre Finger krallte, der Belas­tung nach­gab, schaffte es der Teenager ihrerseits, Ankes Hand­gelenk zu fassen. Sofort zog Anke sie zu sich und machte bereits einen Schritt rückwärts, prallte jedoch mit dem Rü­cken gegen eine Mauer von Demonstranten. Un­fass­bar! Es gab immer noch jede Menge Menschen, die weiter in die entgegengesetzte Richtung drückten, um an die Front der Ausein­andersetzung zu gelangen. Bilder von der Love Pa­rade in Duisburg kamen Anke in den Sinn. Auch in ihr stieg nun Panik auf. Immerhin konnte sie die junge Frau, die um Luft rang und einen Arm auf ihre offensichtlich schmer­zende Brust drückte, an der Schulter fassen. Kaum fühlte sie Ankes Umarmung, knickten ihr die Knie ein und sie drohte, zu Boden zu sinken.

    »Wir müssen hier raus«, schrie Anke dem Mädchen ins Ohr. Ein dankbarer Blick und eine merklich erhöhte Kör­per­­spannung gaben ihr zu erkennen, dass die junge Frau sich nicht aufgegeben hatte. Gemeinsam stemmten sie sich ge­gen die nachrückenden Demonstranten und Anke tat alles, um die Reihen zu durchbrechen ohne den Kontakt zu ihrem Schützling zu verlieren.

    Nach etwa zehn Minuten hatten sie sich durch das Ärgste hindurchgewühlt. Es befanden sich immer noch sehr viele Men­schen um sie herum, jedoch mussten sie sich nicht mehr mit den Ellenbogen den Weg bahnen, sondern konn­ten meist schon mit einem festen Blick die Reihen öffnen und sich ge­gen den Strom fortbewegen. Erst als sie nur noch vereinzelt auf jemanden trafen, schlugen sie den Weg zum Rand des Feldes an. An einem tiefen Wassergraben sanken sie schließlich Arm in Arm zu Boden. Die junge Frau weinte bitterlich und musste zwischendurch heftig hus­ten. Anke strich ihr über die Rastalocken und sprach be­ruhi­gend auf sie ein.

    »Ist ja gut, es ist vorbei! Du hast es geschafft!«

    Das Mädchen nickte, hob den Kopf und lehnte ihn an An­kes Schulter. Bis auf die verquollenen Augen war sie sicht­lich entspannter, die angestrengte Röte war einer der Er­schöpfung geschuldeten Blässe gewichen. Anke betrach­tete das hübsche Gesicht des Teenagers. Sie war bestenfalls sieb­zehn Jahre alt, hätte somit Ankes Tochter sein können. Mit ein wenig Stolz über ihre erfolgreiche Rettungsaktion lä­chel­te sie verhalten, während sie weiter Augen, Nase und Mund des Mädchens studierte. Nach einer Weile öffnete sie die Augen und musste ebenfalls lächeln.

    »Glaubst du, du bist verletzt? Soll ich dich zu einem Arzt bringen?«, fragte Anke.

    Mit einem Kopfschütteln richtete sich die junge Frau auf und setzte sich auf ihre Fersen.

    »Ich bin okay«, sagte sie und tastete ihre linke Seite und die Brust ab.

    »Ein paar blaue Flecke, fürchte ich, aber mehr nicht.«

    Sie lehnte sich ein wenig zurück und sah sich um.

    Anke beobachtete sie, wie sie erst die tobende Menschen­menge betrachtete, dann das freie Feld in Augenschein nahm und schließlich mit müden Augen in den Wasser­graben starrte. Zuerst schien es Anke nur ein Blick ins Leere zu sein, doch dann bemerkte sie eine Ver­änderung im Ausdruck ihres Gegenübers. Ein kaum wahrnehmbares Stirnrunzeln, dann wurde ihr Blick fester, so, als ob etwas ihr Interesse erregt hatte, sie aber noch nicht in der Lage war, zu erkennen um was es sich dabei handelte. Neugierig ver­folgte Anke die Nuancen im Mienenspiel des Mädchens, dessen Augen nun eindeutig etwas fixierten. Als die Un­gläubigkeit aus dem Gesicht gewichen war und sich zuneh­mend Entsetzen breitmachte, spürte Anke, dass der Teen­ager ihre Hand förmlich zerquetschte. Sie folgte dem Blick hin zu einer Stelle, die sich um die fünfundzwanzig Meter ent­fernt im Wasser des etwa anderthalb Meter tiefen Gra­bens befand. Erst konnte sie nicht erkennen, was die junge Frau derart erregte. Doch dann erkannte sie die Sohlen zwei­er Stiefel, die in ihre Richtung zeigten. Anke legte die Hand auf den Mund! Was sie zuerst für einen Ast gehalten hatte, in dem sich eine Tüte oder ein Stück Stoff verfangen hatte, identifizierte sie nun als einen Arm, der seltsam abgewinkelt an der Böschung aus dem Wasser her­ausragte. Nun war es eindeutig: Im Wasser lag, mit dem Ge­sicht nach unten, ein menschlicher Körper!

    »Thomas?« Helen Dörr, Gröbers Sekretärin und die gute Seele der Abteilung, steckte den Kopf in den Besprechungs­raum, wo immer noch Bierman, Polocek und Berner bei­sammensaßen und Sarah einen Einblick in die polizeiliche Arbeit in der Breisgaumetropole gaben. Natürlich war auch der ein oder andere Tipp zur Wohnsituation, zu Gastro­nomie oder Freizeitaktivitäten zur Sprache gekommen. Ge­ra­de hatte sich Nico Berner Sarah als ihr persönlicher Be­glei­ter für das städtische Nachtleben angeboten, als das Klop­fen Berner fürs Erste vor der Peinlichkeit einer höf­li­chen aber sehr bestimmten Abfuhr bewahrte.

    »Ja, Helen, was gibt’s?« Bierman unterbrach Berners Rede­fluss mit einer rüden Geste seiner rechten Hand.

    »Wir haben einen Todesfall bei der Großdemo am Flug­platz.« Helen betrat das Besprechungszimmer.

    »Nachdem die Situation eskaliert war und die Menge mit Was­serwerfern aufgelöst wurde, fand sich in einem der Abwas­sergräben eine männliche Leiche. Jetzt werden natürlich die Ru­fe laut, die Einsatzpolizei hätte den Tod verschuldet. Ziem­lich aufgeheizte Stimmung da draußen.«

    Nico Berner verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Helen fuhr fort.

    »Das Einsatzteam der Schutzpolizei, das die Demo betreut hat, kommt aus Stuttgart, so dass nichts dagegenspricht, wenn wir die ersten Ermittlungen durchführen. Gröber möch­te, dass du«, sie wandte sich an Bierman, »Frau Han­sen mitnimmst und ihr zwei alles in die Wege leitet.«

    Bierman stand auf.

    »Okay.«

    Er richtete seinen Blick auf Sarah.

    »Sind Sie bereit? Fehlt noch was in Ihrer Ausrüstung?«

    Sarah erhob sich ebenfalls.

    »Meine Waffe habe ich noch nicht, die bekomme ich mor­gen. Ich muss noch auf dem Schießstand den sicheren Um­gang demonstrieren und die erforderlichen Schieß­ergeb­nisse erreichen. Ansonsten bin ich vorbereitet.«

    Sie schob ihren Stuhl an seinen Platz.

    »Aber ich glaube nicht, dass ich sie jetzt brauchen werde, oder?«

    Bierman schüttelte den Kopf.

    »Sicher nicht.«

    Er packte seine Unterlagen zusammen und steckte sie in eine speckige Ledertasche.

    »Und Sie müssen hier nochmal den Umgang mit der Schuss­waffe unter Beweis stellen, obwohl Sie schon in Schles­wig-Holstein bei der Polizei waren? Seltsam.«

    »So wollen es wohl die Vorschriften. Außerdem hatte ich in Schleswig-Holstein die Sig Sauer P225 und hier wird seit kurzem die Heckler und Koch P2000 ausgegeben.«

    Bierman zuckte mit den Schultern.

    »Habe mir auch sofort eine H&K geben lassen, auch wenn die alten P5 weiterbenutzt werden sollten.«

    Er steuerte die Tür an. Sarah folgte ihm aus dem Raum, den er, ohne sich von den anderen zu verabschieden, ver­ließ.

    Neugierig sah Sarah während

    der Fahrt aus dem Wagen. Da Thomas Bierman nicht zum Reden aufgelegt schien, stu­dierte sie die Umgebung. Sie war noch nie in Freiburg ge­wesen, und so beschränkte sich ihr Wissen über die Stadt und den Südschwarzwald auf den Text eines alten Bae­dekers, dessen Auflage ein Copyright aus den späten Acht­zigern aufwies. Die entsprechenden Wikipediaeinträge zu le­sen war ihr zeitlich nicht mehr möglich gewesen, da sie unmittelbar nach Abschluss ihres Falles in Husum die Um­zugsvorbereitungen getroffen hatte. Gestern schließlich, als sie nach nervigen Staus bei Hannover, Kassel und zu­letzt auf der A5 bei Karlsruhe erst bei Dunkelheit in Frei­burg eingetroffen war, konnte sie nicht wie erhofft etwas von der Stadt erkunden. Sie hatte sich von ihrem Garmin Naviga­tionsgerät direkt ins Park Hotel Post leiten lassen. Dies war für die nächsten knapp zweieinhalb Wochen ihre Unter­kunft, denn die hübsche Maisonette, die sie kurzer­hand ohne Besichtigung über einen Makler gekauft hatte, war noch nicht bezugsfertig. Sogar den Münsterturm, der die meisten Gebäude in der Stadt deutlich überragte, hatte sie heute Morgen auf dem Weg zum Präsidium lediglich kurz im Rückspiegel gesehen. Jetzt verrenkte sie sich schier den Hals, um sich zu orientieren, konnte aber nichts Markantes erkennen.

    »In welche Richtung fahren wir?«, fragte sie Bierman.

    »Westen, Richtung Flugplatz.«

    Seine lakonische Antwort ließ nicht auf die Aufnahme ei­ner Konversation hoffen, und so unterließ auch Sarah jeden Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Erst als sie von der Straße auf ein sehr weitläufiges, begrüntes Areal bogen und auf eine etwa fünfhundert Meter entfernte Menschen­menge zuhielten, war es Bierman, der die Stille unterbrach.

    »Eine Demo gegen die jüngsten Beschlüsse des Bundes­tages bezüglich Datenvorhaltung, Vernetzung der interna­tionalen Polizei und so.«

    Er wies auf die etwa drei- bis viertausend Demonstranten.

    »Ein Teil von denen hat bestimmt schon bei den Wyhl-De­mos mitgemacht. Freiburg hat eine sehr ausgeprägte De­mon­strationskultur, müssen Sie wissen.«

    Sarah konnte dem Tonfall nicht entnehmen, ob das Gesagte lediglich der reinen Informationsvermittlung diente, oder ob Bierman auch eine bestimmte Wertung zum Ausdruck brachte. Sie sah ihn von der Seite an und entschied sich für ersteres. Angesichts seines fast schon rebellischen Äußeren konnte sie sich nicht vorstellen, dass er den Anliegen und Taten des eher linksalternativen Spektrums mit Res­pektlosigkeit und Sarkasmus begegnete. Ob er überhaupt politisch war? Sie konnte es beim besten Willen nicht sagen.

    Sie erreichten eine Absperrung, hinter der die sichtlich erregten Demonstranten von Einsatzkräften einer Hundertschaft in Schach gehalten wurden. Ein unifor­mier­ter Beamter winkte sie zu sich. Bierman ließ die Seiten­scheibe hinunter und streckte dem Polizisten seinen Aus­weis entgegen.

    »Dort hinten«, sagte der Kollege und deutete in Richtung eines Einsatzwagens, der mit Blaulicht etwa fünfzig Meter entfernt stand. Auf sein Zeichen hoben zwei weitere Beamte das Absperrband und Bierman steuerte im Schritttempo den Fundort an. Durch das offene Seitenfenster konnte Sa­rah auch die Sprechchöre verstehen, die die wütende Men­ge ihnen entgegenbrüllte. Von Datenschutz und Privat­sphäre war allerdings nichts zu hören. Vielmehr hallten ih­nen Sätze wie Polizisten sind Mörder und Nieder mit der Staats­gewalt entgegen. Das Geschehen hatte sich also, wie nicht anders zu erwarten, wie ein Lauffeuer verbreitet. In­nerlich zuckte sie mit den Achseln und auch Bierman schie­nen die verbalen Attacken kalt zu lassen. Von ihren Psycho­logieseminaren wusste sie, wie leicht eine Menschen­an­sammlung, die im gemeinsamen Interesse gebildet wur­de, und die einen gewissen Grad

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