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Das geliehene Glück des Samuel Goldman
Das geliehene Glück des Samuel Goldman
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eBook530 Seiten7 Stunden

Das geliehene Glück des Samuel Goldman

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Über dieses E-Book

Über Glück hatte Samuel Goldman die meiste Zeit seines Lebens bisher nie wirklich nachgedacht. Und das obwohl er, wie alle stets bekundeten, wirklich mehr Grund dazu gehabt hatte, als jeder andere, den sie kannten. Aber in einem einzigen, kurzen Augenblick, er war gerade sechsunddreißig Jahre alt geworden, hätte er eigentlich selbst, mit einem Mal, die ganze Gnade eines unergründlichen und einzigartigen Glücks erkennen können. Doch bis dahin bedurftes es eines langen und beschwerlichen Weges, den er sich so, wie er sich ergeben sollte, ganz gewiss nicht gewünscht hatte.

Es begann alles, wie es eben bei Sam Goldman fast schon üblich war. Mit unglaublich großem Glück. Und wie anders hätte es auch bezeichnet werden können? Als Zufälligkeit etwa, emotionslos und schnöde? Vielleicht als logische Folge verschiedener Gegebenheiten, die synergetisch verbunden als physikalische Zusammenhänge erklärbar waren? Aber wie man es auch drehen oder wenden wollte, ihm wiederfuhr etwas, das überall auf dem Erdball schlussendlich gleich verstanden wurde. Es war ganz einfach pures Glück. Denn er hatte von 113 Passagieren als einziger einen Flugzeugabsturz überlebt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. März 2019
ISBN9783748588375
Das geliehene Glück des Samuel Goldman
Autor

Stefan G. Rohr

Stefan G. Rohr, Autor klassischer Belletristik; er greift gesellschaftliche Entwicklungen, Menschen und Typen, aber auch Schicksale auf, durchaus einmal mit Tiefensendung. Sein Erzählstil führt den Leser locker, schwere Kost übermittelt er spielerisch und mit Vorliebe auch mit satirischer Note. Er liebt die Spannungsbögen, ebenso wie die Überraschung und den unerwarteten Ausgang; unterhaltend, ans Herz gehend, stets aber mit einer guten Portion Humor. Autorenwebsite: www.belletristik.online

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    Buchvorschau

    Das geliehene Glück des Samuel Goldman - Stefan G. Rohr

    Prolog

    Über Glück hatte Samuel Goldman die meiste Zeit seines Lebens bisher nie wirklich nachgedacht. Und das, obwohl er, wie alle stets bekundeten, wirklich mehr Grund dazu gehabt hatte als jeder andere, den sie kannten. Aber in einem einzigen, kurzen Augenblick, er war gerade sechsunddreißig Jahre alt geworden, hätte er eigentlich selbst, mit einem Mal, die ganze Gnade eines unergründlichen und einzigartigen Glücks erkennen können. Doch bis dahin bedurfte es eines langen und beschwerlichen Weges, den er sich so, wie er sich ergeben sollte, ganz gewiss nicht gewünscht hatte.

    Es begann alles wie es eben bei Sam Goldman fast schon üblich war. Mit unglaublich großem Glück. Und wie anders hätte es auch bezeichnet werden können? Als Zufälligkeit etwa, emotionslos und schnöde? Vielleicht als logische Folge verschiedener Gegebenheiten, die synergetisch verbunden als physikalische Zusammenhänge erklärbar waren? Aber wie man es auch drehen oder wenden wollte, ihm widerfuhr etwas, das überall auf dem Erdball schlussendlich gleich verstanden wurde. Es war ganz einfach pures Glück. Denn er hatte von 113 Passagieren als einziger einen Flugzeugabsturz überlebt.

    Samuel Goldman erfüllte sich gerade einen lang gehegten Wunsch. Eine vierwöchige Reise querbeet durch Südafrika, von Süd nach Nord, von West nach Ost, durch eine faszinierende, für ihn fremde Welt. Das war zumindest sein Plan. Auf dem Flug von Johannesburg nach Durban, seinem zweiten Reiseziel, geschah es. Und es ging rasend schnell, ohne Vorwarnung, urplötzlich.

    Der Flug war bereits fast am Ziel angekommen, die Maschine befand sich nur noch wenige Kilometer von der Landebahn entfernt und war bereits auf achthundert Meter Höhe gesunken, als plötzlich ein fürchterlicher Ruck das gesamte Flugzeug erschütterte. Unmittelbar darauf drehte der Flieger stark nach rechts und begann leicht zu trudeln. Die Landschaft unter ihm kam immer schneller auf ihn zu. Es schien, als ob ein riesiger Magnet das Flugzeug anzog, während die Piloten verzweifelt versuchten, die Maschine wieder zu stabilisieren, und das schier Unvermeidliche zu verhindern.

    Unter den Passagieren brach Panik aus. Laute Schreie mischten sich in das Tosen der Triebwerke. Sam saß allein am Fenster rechts in der letzten Reihe, und seine finalen Gedanken vor dem Aufprall auf den Boden kreisten um die Frage, ob er wohl sofort tot sein würde. Und unter dem zornigen Gesang der Götter, Sam hatte bereits das Bewusstsein verloren, hatte die Gravitation ihr Soll erfüllt, und die über vierzigtausend Kilogramm schwere Aluminiumhülle in einen Sarg verwandelt, der mit unvorstellbarer Gewalt am Erdboden zerschellte.

    Wieviel Zeit vergangen war, bis Sam seine Augen wieder öffnete, wusste er nicht. Er sah zunächst nur helles Licht. Dann nahm er ein ziemlich zerstörtes Maisfeld wahr, dass er trotz des dunklen Rauches, der fast allgegenwärtig war, gut erkennen konnte. Er saß immer noch angeschnallt auf seinem Flugzeugsitz. Direkt vor ihm war nichts mehr, nur noch klaffende Leere, und es war ihm fast so, als säße er im vordersten Waggon einer Achterbahn.

    Was er sah, als er sich umschaute, war ein apokalyptisches Desaster. Die Maschine war offensichtlich in mehrere Teile zerborsten, das konnte er unzweifelhaft erkennen. Einige Teile brannten lichterloh, und beißender Geruch von Kerosin, Gummi und Tod stieg ihm in die Nase. Sam bekam kaum noch Luft und er ahnte, dass es endgültig mit ihm vorbei sein würde, wenn er nicht bald hier wegkäme. Er prüfte vorsichtig, ob er Verletzungen an sich feststellen konnte. Hatte er Schmerzen? Blutete er? Konnte er sich noch bewegen? Und er vernahm keinerlei Anzeichen dafür, dass es ihm, außer seiner misslichen Lage, nicht gut gehen würde. Nur schnell hier raus, das war sonnenklar.

    Um sich seiner Lage zu vergewissern, drehte er langsam den Kopf. Scheinbar war das Heck des Flugzeugs zuerst abgerissen und zudem auch noch mittig zum Gang zwischen den Sitzen in zwei Teile geborsten. Links von ihm war die gegenüberliegende Sitzseite ebenso verschwunden. Der mit ihm übriggebliebene Teil des Fliegers lag schräg auf dem Maisfeld und ihm kam es nun so vor, als säße er in einem Kinosessel und sähe seinen eigenen Katastrophenfilm. Da vernahm er die immer lauter werdenden Sirenen, die aus der Ferne ankündigten retten zu wollen, was noch zu retten war.

    Sam war allein. Um ihn herum war einfach nichts mehr, und auch hinter ihm, in der Pantry im Heck vor dem Ausstieg, war es totenstill. So sehr sich Sam nun bemühte, den Sitz, der ihn mit stoischer Gewalt an sich fesselte, verlassen zu können, gelang es ihm partout nicht loszukommen. Später erinnerte Sam sich noch sehr genau an diesen Moment, besonders immer dann, wenn er von Berufsbesserwissern – meist Journalisten – gefragt wurde, warum er bloß unverändert in seiner Position verharrte. Sie selbst, wie alle anderen, wären doch sofort aus den Trümmern in Sicherheit geflohen, weit weg vom Unglück mit einem sicheren Abstand zur Absturzstelle. Eine unsichtbare Kraft hingegen, vielleicht war es auch ein sadistischer Dämon, hielt ihn gefangen, und forderte ganz sicher seinen Tod.

    Sam aber dachte in dem Moment nicht etwa an die Gefahr eines ausbrechenden Feuers in seinem Wrackteil. Auch fragte er sich nicht, ob gleich der tosende Knall einer Explosion das Letzte sein würde, was er auf dieser Erde vernehmen würde. Eigentlich dachte er jetzt gar nichts mehr. Vielleicht, so sagte er einmal im Nachhinein, wollte er instinktiv abwarten, ob er tatsächlich noch zugegen war, und nicht etwa das Ganze nur noch auf seiner Reise ins Jenseits beobachtete. Denn Sam war sich in diesem Moment alles andere als sicher, ob er wirklich noch am Leben war.

    So verlor er unmittelbar jegliches Zeitgefühl, so auch wie lange es brauchte, bis die Rettungskräfte ihn entdeckten. Es waren wohl nur Minuten, denn die Einsatzkräfte des Flughafens Durban waren schnell vor Ort. Die Absturzstelle lag schließlich nur einige hundert Meter vor der Sicherheitszone vor dem Flughafenareal, im Vorfeld der Landebahn. Doch was sind in einer solchen Situation Minuten? Sie blähen sich auf wie Monate oder Jahre, mutieren zu einer bitteren Kostprobe der Unendlichkeit.

    Mit Eintreffen der Helfer kam bei Sam der Filmriss, er verlor das Bewusstsein. Erinnerungen an seine Befreiung aus dem Wrack oder seine Einlieferung in das Krankenhaus hatte er deshalb nicht. Er erwachte irgendwann einfach wieder. Da wusste er, dass er noch lebte. Ihm kam es nur so vor, als schlüge er die Augen an einem Morgen nach einer großen körperlichen Anstrengung auf. Sein Körper fühlte sich ermattet, ausgelaugt und schlaff an. Gleichzeitig aber auch leicht, fast schwerelos. Er fühlte, dass er einer großen Belastung ausgesetzt gewesen sein musste. Aber Schmerzen hatte er gottlob keine. Ebenso meldete sein Gehirn ihm weder erkennbare Einschränkungen, noch Anomalien. Nur seine Augenlider waren weiterhin schwer, und ihm wollte es einfach nicht gelingen, diese so lange aufzuschlagen, bis er seine Umgebung erfassen konnte. So vernahm er zunächst allein die Stimmen um sich herum. Es mussten die Ärzte und Krankenschwestern sein, die sich um ihn bemühten. Er hörte das Piepsen eines Gerätes, wie es rhythmisch und gleichbleibend das Signal seiner Herzschläge wiedergab. Ja, er war offenbar in einem Krankenhaus.

    Sam aber hatte auch jetzt weder Angst noch Panik. Er vermutete, dass er sich gerade in der Phase des Aufwachens befand, und ging davon aus, dass es nur noch wenige Augenblicke dauern würde, bis er wieder ganz bei Bewusstsein war. Und er konzentrierte sich deshalb auf alles, was einen Schlafenden von selbst erwachen lassen würde, denn er war festen Willens, sobald es ginge, die Augen ganz aufzuschlagen.

    Er bemerkte dabei selbst, dass er immer wieder zurück in eine dumpfe Tiefe versank, aus der er aber sogleich wieder aufzutauchen das Gefühl hatte. Und dann, nach einigen Malen des Ab- und wieder Auftauchens, öffnete er seine Augen und die Schwere der Lider war fort. Samuel Goldman war wieder bei vollem Bewusstsein.

    Die Ärzte erkundigten sich sogleich nach seinem Befinden. Erste Untersuchungen wurden vorgenommen, Reaktionstests unternommen, seine Wahrnehmungsfähigkeit geprüft, und man kam zu dem Ergebnis, dass ihm nichts fehlen würde. Sam war, abgesehen von Schwäche und psychischer Belastung, offensichtlich kerngesund, und hatte keinerlei Verletzungen davongetragen. Sein vorausgegangener Bewusstseinsverlust wurde deshalb auch als ein schockbasiertes Kurztrauma verstanden. Sams Gehirn habe sich für einen Moment selbst ausgeklinkt, zum eigenen Schutz, und hatte alle Wahrnehmungen, die mit der Gefahr im Zusammenhang stehen, kurzzeitig blockiert.

    Schnell wurde Sams Überleben zur Sensation. Er hatte unglaublicher Weise als einziger von 113 Passagieren und 5 Besatzungsmitgliedern überlebt. Und das auch noch völlig unbeschadet. Nicht einmal eine Schramme hatte er davongetragen, lediglich einen Bluterguss dort, wo ihn der Sicherheitsgurt im Sitz gehalten hatte. Alle Anderen in der Unglücksmaschine waren beim Aufprall oder unmittelbar hiernach ums Leben gekommen. Waren sie nicht beim Aufprall zerrissen worden, starben die Unglücklichen in den Flammen.

    Die Reporter drängten sich vor dem Krankenhausportal oder kamen mit Tricks als Ärzte verkleidet direkt in sein Krankenzimmer. Man stellte Polizisten vor seine Tür, und nur die Unfallermittler sowie einige Manager der Airline hatten Zutritt. Sam fühlte sich gesund, und so bat er die Verantwortlichen der Fluggesellschaft, dass sie ihm doch eine baldige Reise nach Hause organisieren mögen. Doch so schnell wollte man Sam nicht loswerden. Die Medien waren ganz verrückt nach seiner Geschichte, und fast stündlich trudelten Angebote für seine Exklusiv-Story an sein Krankenhausbett.

    Für die Airline war Sam so etwas wie ein Qualitätsbeweis. Trotz des Absturzes – welche Ursache für diesen dann auch immer festgestellt werden würde – gab es Überlebende. Sicher, nur einen, aber immerhin. An diesem könnte die Fluggesellschaft nun belegen, wie verantwortlich man in derlei Situationen mit der Angelegenheit umgeht. Und nach der Wahrscheinlichkeitstheorie war die Fluglinie mit diesem Absturz nun für mehrere Jahrzehnte vor weiteren Unglücken gefeit. Jedenfalls statistisch. Das war immerhin eine gute Nachricht. So ließen die Obersten der Airline, vom Vorstand bis zum Pressesprecher, auch keine Gelegenheit aus, sich mit Sam vor die Kameras zu stellen und ihr Bedauern über dieses schreckliche Unglück auszudrücken. Am glücklichsten aber waren sie über ihren glücklichen Überlebenden. Und so etwas lässt sich ein Marketingleiter nicht so einfach entgehen.

    Die Bilder gingen in den Nachrichten um die Welt. Und in der fernen Heimat von Sam begaben sich die TV-Sender und Redakteure jener Zeitungen, die etwas auf sich hielten, auf die Jagd nach diesem gruselig schönen Aufmacher. Diese Sensation versprach mit reichem Bildmaterial und dramatischen Berichten, ein Garant für steigende Quoten und Auflagen zu werden. Mit dem einzigen Überlebenden dieser Katastrophe als Hauptdarsteller. Ein gefundenes Fressen, ein wirklich schöner Kuchen. Und es ging jetzt darum, einen möglichst großen Teil für sich zu sichern. Mit Kirsche, das versteht sich!

    Sam hatte riesiges Glück gehabt. Wieder einmal. Selbst er musste das jetzt zugeben. Aber dieses Mal sollte es noch sein ganzes Leben verändern.

    Kapitel 1

    Samuel Goldman war ein eher unauffälliger Mann, den man landläufig wohl als Durchschnittstyp bezeichnen konnte. Das Maß der ihm zuteil gewordenen Aufmerksamkeit lag eher im Mittelfeld, was durchaus auch damit zusammenhing, dass das Kaleidoskop seiner Eigenschaften nicht polychrom ausgelegt war. Dafür stieß er im Gegenzuge aber auch deutlich weniger auf Widerstand in seinem Umfeld, erzeugte kaum Neid und schwamm weitgehend unbekümmert mit der Allgemeinheit mit. Er verfolgte so gut wie keine ehrgeizigen Ziele, strebte nicht nach Prädikatsexamen und Stipendium, nicht nach Pokalen, wollte weder Footballstar der High-School, noch heißester Schwarm aller Cheerleader werden.

    Sam erkannte schon früh, dass er über keine herausragenden Talente oder gar Begabungen verfügte. Ihm war zwar ein durchaus über dem Durchschnitt liegender kluger Kopf gegeben, er lernte schnell und einfach, kam überall gut mit und niemand hätte behaupten können, Sam Goldman sei nicht gescheit. Den Drang aber, eine besondere Rolle hierdurch einnehmen zu wollen, war bei ihm schlichtweg nicht vorhanden. So gab es denn auch wenig Anlass für seine Eltern, ihn zu mehr motivieren zu wollen, als er von sich selbst aus leistete, denn es reichte ja allemal für gute Noten, später für einen recht passablen Abschluss an der High-School in Greenville, South Carolina.

    Sie waren dennoch durchaus stolz auf ihren Sprössling, so zum Beispiel, als er dann doch einmal für die Football-Mannschaft nominiert wurde. Es tat nicht viel zur Sache, dass er nur als Ersatzspieler aufgestellt war, auch nie zum Einsatz kam, es zählte allein die Tatsache, der olympische Gedanke, und für den Rest sein durchaus geschmeidiger Durchmarsch auf dem Weg zur Universität. Der Besuch der Furman, natürlich auch in Greenville, verlief in der Regelstudienzeit und er erhielt, wie zu erwarten, problemlos sowie ohne Aufsehen seinen Abschluss als Master in der Fakultät der Wirtschaftswissenschaften. Seine Examensnote lag präzise am unteren Rand des oberen Drittels, und so begann er – man könnte fast meinen automatisch – seine Tätigkeit in der örtlichen Bank von Greenville. Denn etwas anderes, als in seiner Geburtsstadt zu bleiben, war ihm niemals in den Sinn gekommen.

    Man könnte jetzt meinen, Sam wäre ein leicht unförmiger und zur Akne leidender junger Mann, spießig, etwas fahlhäutig, eher antriebsarm, und verfüge nur über mäßig ausgeprägte Phantasie. Mitnichten war dem so. Auch versteckte er keine schmutzigen Bildchen unter seiner Matratze, jedenfalls nicht für besorgniserregend lange Zeit. Er war auch auf keine andere Weise sonderbar oder skurril. Genau betrachtet war er sogar das ganze Gegenteil. Mit seinen fast 1,90 Metern und einer von der Natur ihm mitgegebenen athletischen Figur hätte er nicht nur einen idealen Sportler abgeben können, er wirkte so auch äußerst dynamisch.

    Er war mehr als nur nett anzuschauen, hatte schöne, leicht gewellte braune Haare und erfreute sich des Gesichtes eines altgriechischen Kriegers. Seine Nase war schmal und gerade, vielleicht nur ein ganz klein wenig zu lang. Doch sie passte zu ihm, und war wahrscheinlich einer der entscheidenden Faktoren, dass ihn sowohl Männer als auch Frauen spontan als sympathisch empfanden. Seine Ruhe und vollkommene Eitellosigkeit ließen es für Fremde so erscheinen, als stünde er besonnen über den Dingen, stets mit einer gewissen Anmutung von angenehmer Ausgeglichenheit und wohltuender Souveränität. Aber er war sich seiner Wirkung lange Zeit alles andere als bewusst, und das Spielen mit Eigenschaften war in seinem Wesen einfach nicht verankert. Überhaupt nahm er sich ohnehin nicht besonders wichtig, es mangelte ihm einfach vollkommen an überzogener Selbstdarstellung oder gar narzisstischen Attitüden. Und er empfand es eher belustigend, derlei Verhalten bei anderen zu beobachten. Bei solchen zum Beispiel, die sich bereits mit Eintritt in die Grundschule für den Beruf des Nobelpreisträgers entschieden hatten, und deren Eltern deshalb vorsorglich schon einmal die Visitenkarten drucken ließen.

    Sam war einfach mit seinem Leben, so wie es für ihn lief, völlig zufrieden. Er verspürte nie den Drang, Änderungen erzwingen zu müssen, hatte keine ausufernden Karriereziele und dachte bisher nicht im Traum daran, eine Familie zu gründen. Seine Beziehungen verliefen deshalb auch nicht so, wie es den jeweiligen Damen vorschwebte. Immer, wenn eine bestimmte Zeit des Zusammenseins vergangen war, wurde er mit ihren Zukunftsplänen konfrontiert, die ihm nicht recht geeignet schienen, seine aktuell empfundene Komfortzone im Tausch für diese aufzugeben. Zudem war seiner Ansicht nach das Artenspektrum und die Population potenziell geeigneter Aspirantinnen von ihm noch lange nicht ausreichend genug erforscht. In einem Land mit immerhin über 325 Millionen Einwohnern, von denen die Hälfte das passende Geschlecht aufwies, wollte er sich nicht voreilig festlegen. Seinen weiblichen Pendants gingen dann irgendwann die Lichter auf, und sie erkannten, dass Samuel Goldman wohl nicht der Richtige sein würde. Sie entschieden sich deshalb mehrheitlich, sich nach einem geeigneteren Anwärter für Familiengründung und Lebensgestaltung umzusehen, was in der Regel auch von Erfolg gekrönt war. Sam hatte nichts dagegen einzuwenden. So richtig verliebt war er zuletzt in der achten Klasse seiner High-School, was im Übrigen für ihn ohne nachhaltige Schäden blieb.

    Auch beruflich hielt es Sam eher mit einer ausgeglichenen Gelassenheit. Eine Bank sei schließlich keine Gladiatoren-Arena, auch wenn es Kunden gab, die das anders sahen. Er war der Auffassung, nichts zu überstürzen, denn mit der Zeit richtet sich alles in gewünschter Weise und Dimension. Und so kam es dann auch – wieder fast automatisch bei ihm – dass er Leiter einer kleinen Filiale der Public Bank of South Carolina wurde, mit einem hübschen, gläsernen zwanzig Quadratmeter Eck-Büro, bei dem er im Bedarfsfall die Jalousien herunterlassen konnte, wenn er mit Kunden über das Hausdarlehen oder ein Fondssparpaket sprach.

    Nun könnte noch einmal der Eindruck aufflammen, bei Samuel Goldman handelte es sich um einen eher trivialen Menschen, temperamentreduziert und mit dem Hang dazu, Lebenshürden zu umgehen, statt über diese risikofreudig und beherzt zu springen. Und auch das mitnichten. Sein attraktives Äußeres war schon das eine, und ließ es nicht zu, ihn der Gruppe von antriebsschwachen Menschen zuzuordnen. Er war auch kein mehläugiger Schlafwandler mit Wanderdünen-Charisma. Er war durchaus lebenslustig, humorvoll und eloquent. Er bediente sich zudem einer ausgefeilten und wohlklingenden Sprache und hatte einen Sinn dafür, diese mit intellektuellen Häppchen und Kostproben seiner Allgemeinbildung anzureichern. Das geschah aber nie aufgesetzt, nie mit künstlichem Bemühen, nie mit dem Ziel, sich selbst mit einer überzogenen Selbstdarbietung zu erhöhen. Vielmehr war es ein ganz einfacher Teil seines Wesens, wenig kapriziös und frei von dem Verdacht der Beifallhascherei. Weder Arroganz noch Überschläue wurde jemals von seinem Gegenüber empfunden, vielmehr die angenehme Erkenntnis, dass es sich bei ihrem Gesprächspartner um einen gebildeten Mann handelte, frei von Eitelkeit, offen, ohne Niedertracht und Hintergedanken. Kurzum: Man konnte ihm spontan vertrauen. Direkt und zielsicher, mitunter leicht süffisant, nie aber beleidigend oder gar anmaßend, schaffte er es in der Gesellschaft anderer spielend als unterhaltsam und schlagfertig zu gelten. Alles zusammen genommen – Geist, Bildung, Körpermaße, Attraktivität, Humor und Eloquenz – war Samuel Goldman alles andere als vielleicht zuvor vermutet.

    *

    Als die Götter aus ihren Füllhörnern das Glück über der Menschheit verteilt haben, stand Samuel Goldman durchaus auf einem der bevorzugten Plätze. Es fehlte allerdings auf den ersten Blick ein wenig an publikumswirksamer Spektakularität, welches das bittersüße Drücken in der Magengegend verursacht, wenn vom Glück anderer Menschen Kenntnis erlangt wird. Nicht jeder Klumpen Mist, den Sam in die Hand nahm, wurde unversehens zu Gold. Nein, es war viel profaner, ja geradezu trivial. Das normale Pech, welches jedem Menschen immer wieder und in unzähligen Lebenssituationen widerfährt, welches mal größer, meist aber auf der Skala von eins bis zehn die 2,5 nicht übersteigt, dieses Pech war ihm nahezu unbekannt. Es wäre nun falsch anzunehmen, dass es Sam nicht auch passiert war, einmal eine unschöne Schicksalsfügung zu erleben. Doch derlei erfolgte bei ihm in homöopathischen Dimensionen, die vom Leben so gering verabreicht wurden, dass deren Messung nicht gelang. Zudem empfand Sam solche Momente auch nie als beklagenswert oder gar dramatisch. Er nahm sie einfach nicht als solche wahr, sie gehörten dazu und würden schon für irgendetwas gut sein. Schließlich lief bei ihm nahezu alles schlichtweg positiv und in gewohnter Eintracht mit dem auf dem Fuße folgenden Eintreten glücklicher Fügungen. So, als fiele es ihm zu, das ständige Glück.

    So begab es sich vor vielen Jahren, Sam war gerade sechs Jahre alt, als er mit anderen Jungs im nahegelegenen Park wieder einmal auf die Bäume kletterte. Und es standen dort ausgewachsene Platanen, deren Ausmaße deutlich über die dreißig Meter hinausgingen. Obwohl Sam auch beim Klettern stets bedacht vorging, geschah es, dass er für einen kurzen Augenblick unaufmerksam war. Er verlor den Halt unter seinen Füßen und stürzte, zuerst kopfüber, aus fünfzehn Metern in die Tiefe. Dem sicheren Tod allerdings war er dennoch entgangen. Am Fuße des Baumes, direkt unter seiner Fallrichtung, wuchs ein dichter Haselnussbusch. Satte grüne Blätter rankten sich dicht an dicht um die dünnen, flexiblen Äste des Strauches. Sam krachte zwar in den Busch, doch dieser, von einer guten Vorsehung dort gepflanzte Strauch, federte Sam ab und er plumpste wie ein Waschbär auf den Sand, schaute kurz, stand auf, klopfte sich seine Hosen ab und strahlte. Nichts war passiert, alles war gut. Die Fallhöhe betrug stolze zwanzig Meter, was einem Sprung aus der sechsten Etage eines Appartementhauses entsprach. Die aufmerksam gewordenen Spaziergänger, auch der in Amerika stets zur richtigen Zeit anwesende Cop, und natürlich seine Spielkameraden staunten nicht schlecht. Das Kind musste einen sehr aufmerksamen Schutzengel haben. Oder war einfach ein riesiger Glückpilz.

    Bei weitem erstaunlicher allerdings war ein Ereignis, welches sich ereignete, als Samuel Goldman Teenager war. Diese Geschichte erzählte man sich noch lange, denn sie war nicht nur wahrhaftig eindrücklich, sondern zugleich äußerst seltsam. Sam kürzte seinen Schulweg gerne dadurch ab, indem er die bequeme Fahrradstrecke verlies und die Schienen der Greenville & Western Railway Company überquerte. Das schien ihm keine Spur riskant. Trotz mehrerer parallel verlaufender Schienenstränge war die Strecke an dieser Stelle gut zu übersehen, und er brauchte nur von seinem Fahrrad abzusteigen und dieses kurzerhand über die Schienen zu tragen. Sodann konnte er seine Fahrt fortsetzen und war gute zehn Minuten schneller am Ziel.

    Der Krug geht bekanntlich so lange zum Brunnen, bis er bricht. Und bis das so weit ist, kann es sein, dass der Teufel sich als Eichhörnchen verkleidet und uns Menschen mit Minimalismen quält. Die Crux steckte auch hier mal wieder im Detail. Sam überquerte wie immer die Schienen, sein Fahrrad behände geschultert. Doch plötzlich rutschte er inmitten eines Gleises seitlich weg und sein Fahrrad verkantete sich unglücklich zwischen den beiden Gleisschienen. Sam wollte sich erheben, merkte aber sofort, dass sein Fahrrad störrisch blieb und seine Position nicht freigeben wollte. Er rüttelte und versuchte mit allen Kräften, sich aus dieser Lage zu befreien. Sein Rad aber verharrte verkantet und ließ sich nicht um einen einzigen Millimeter lockern. Da hörte Sam auch schon den herannahenden Zug. Er wusste, dass dessen Geschwindigkeit auf diesem Teil der Strecke hoch war. Er begann noch stärker am Rad zu rütteln, Verzweiflung machte sich breit, und er realisierte, dass es nur noch wenige Augenblicke dauern würde, bis ihn der rasende Zug, voran die schwere Diesellok, überrollen würde.

    Sam hörte Rufe aus der Ferne. Zwei Arbeiter, die vielleicht dreihundert Meter entfernt an einer Zaunanlage tätig waren, hatten gerade die Situation bemerkt und das herannahende Unglück erfasst. Es war zu spät für sie, Sam zu Hilfe zu eilen. Sie riefen laut, wedelten mit den Armen und versuchten Sam klarzumachen, dass er doch schnellstens von den Gleisen sollte. Es schien aber so, als sei Sams Schicksal besiegelt. Der Lokführer gab verzweifelt Signal und hatte bereits die Notbremsung eingeleitet. Es war aber klar, dass ein Halt vor der Unglücksstelle unmöglich war, und damit der Zug unausweichlich über den Jungen und sein Fahrrad rollen würde.

    Zwischen dem Zug und Sam lagen vielleicht gerade noch 50 Meter, da schlug das unter lautem Quietschen herandonnernde Ungetüm förmlich einen Haken und rauschte mit tosendem Rattern auf dem seitlich neben Sam verlaufenden Gleis an ihm vorbei. Sams Haare und seine Kleidung flatterten durch den aufwühlenden Luftzug der Lok und der schweren Waggons. Etliche hundert Meter weiter, hinter Sam, kam der Zug zum Stehen. Die beiden Arbeiter hatten nun den Jungen erreicht, und gemeinsam konnten Sie ihn aus seiner unfreiwilligen Gefangenschaft von Rad und Gleis befreien, nicht ohne dabei kräftig zu fluchen und Sam mit Vorwürfen zu überhäufen.

    Das Besondere an diesem Vorfall erklärt sich aber nicht allein aus der Tatsache, dass Sam gottlob auf dem falschen Gleis eingeklemmt war. Es war nämlich das richtige. Es war das reguläre Gleis, welches der Zug nach Stellplan der Greenville & Western Railway Company befahren sollte. Doch genau dieser Stellplan war an diesem Tag, vielleicht auch nur in dieser Minute, fehlerhaft. Ein Mitarbeiter hatte die Route und Gleiszuteilung eines anderen Zuges verwendet und damit die Weiche, die sich nur wenige Meter vor Sams Position befand, nicht geradeaus auf Sam zu, sondern zum anderen Gleis in Richtung der Industrieanlagen gestellt. Dieser Fehler rettete Sam das Leben.

    Obendrauf brachte es ihm einen fast mystischen Ruf ein. Denn bei der Aufnahme der Fahrtunterbrechung und der sofort routinemäßig eingeleiteten Untersuchung stellten die Techniker der Greenville & Western fest, dass circa zwei Kilometer nach Sams Position ein Gleisbruch vorhanden war. Der Zugführer, der Sam fast überrollt hatte, bemerkte den Schaden ebenfalls, denn als er sich den Schweiß von der Stirn wischte und beim Verschnaufen nach links aus dem geöffneten Fenster schaute, hatte er freien Blick auf das Werk der Göttin Ate. Und seine Stirn wurde unmittelbar wieder nass. Er begriff sofort, dass die Fahrt auf dem vorgesehenen Gleis nicht nur das Leben dieses Jungen gekostet hätte, der donnernde Zug wäre zudem auf den Gleisbruch zugerast, und es wäre zu einer fürchterlichen Katastrophe gekommen. Neben diesem unverschämten Glück des Bürschchens war das eigentliche Glück bei weitem größer. Sam, dem nun unbestreitbar der Ruf als Liebling der Götter, zumindest der freundlich gesonnenen, und als Magier des Glücks anhaftete, wurde für eine kurze Zeit eine echte Berühmtheit in Greenville und Umgebung. Zudem Ehrenlokführer der Western Railway.

    Wäre er auf regulärer Strecke zur Schule gefahren, wäre er andernfalls vielleicht einfach nicht auf den Gleisen ausgerutscht, hätte er nur sein Fahrrad anders getragen, hätte sich das Rad nicht derart verklemmt, dann wären viele Menschen in den Tod gerast. Ja, natürlich, der Stellwärter hatte das mit seinem Fehler bereits verhindert. Der Zug wäre dann aber in die Industrieanlage gerauscht, was sicher ein noch größeres Desaster angerichtet hätte. Und eines Gedankens konnte man sich nicht erwehren: Hingen alle diese Zufälle nicht am Ende zusammen? Schicksalsfügung? Das Glück von Sam zugleich die Abwendung einer Katastrophe? Man mag als Realist und Pragmatiker nach kurzer Überlegung zu einfachen, sich selbst erklärenden und logischen Lösungen in dieser Sache gekommen sein. Der Nimbus Sams aber fand in jenen Tagen seine Grundsteinlegung. Gottlob, so empfand es vor allem auch die Familie Goldman, verblasste der Ansatz eines Mythos wieder schnell. Es wuchs reichlich Gras über die Angelegenheit, und Sam konnte sich für eine längere Zeit wieder ungestört seinem Heranwachsen widmen.

    Wie an einer Perlenkette aufgeknüpft erlebte Sam fast schon regelmäßiger Weise Dinge, für deren glücklichen Ausgang man im Nachgang keine logische Erklärung fand. Man bemühte sich dann gerne der Physik und eher technischen Faktoren, die Ursachen der Fügung, Zusammenhänge und begünstigenden Zufälle, anzuführen. Eine Korrelation der einzelnen Perlen miteinander, die auf Sams Glückfallkette nach und nach aufzuziehen waren, wurde nie in Erwägung gezogen. Nie wurde ein Gedanke daran verschwendet, dass nur in der Betrachtung des Ganzen die Sinnhaftigkeit erkennbar wird.

    Und von diesen Perlen gab es viele. Ein weiteres Beispiel für eine solche lieferte Sam bei einer winterlichen Klassenreise zu den Rocky Mountains. Gemeinsam lernten sie das Skifahren, und am Tag vor der Abreise konnten alle in seiner Klasse, somit auch Sam, bereits ganz passabel fahren. Sam geriet auf der letzten Abfahrt, ganz ohne eigenes Zutun, leicht von der Piste ab, und ehe er sich‘s versah verlor er die Kontrolle. Immer weiter entfernte er sich von seiner Gruppe, die bereits schon einige hundert Meter weiter abgefahren war. Der Schnee unter seinen Brettern wurde tief und das Manövrieren ihm unmöglich. Das Gelände wurde steiler. Die Geschwindigkeit erhöhte sich. Und mit einem Mal löste sich der Schnee unter ihm vom Hang, und Sam ritt für einen kurzen Moment auf einer abgehenden Lawine in einen Talkessel. Die Lawine war nicht allzu groß – gottlob – doch sie reichte, um Sam, der schnell sein Gleichgewicht verloren hatte, an die fünfzig Meter mitzuschleifen und unter einer Schneedecke zu begraben.

    Bis Sams Fehlen bemerkt, die Suche eingeleitet und der Unglücksort gefunden wurde, vergingen über drei Stunden. Und es bedurfte nochmals dreißig Minuten, bis die Retter ihn unter dem Schnee entdeckten. Die Bergwacht und der anwesende Notarzt hatten jeder Hoffnung auf Sams Überleben eine Absage erteilt. Eine Chance, unter einer zentnerschweren Schneelast, ohne lange Sauerstoffzufuhr in Eiseskälte lebend zu überstehen, gab es ihrer Ansicht nicht. Doch Sam wurde nach fast vier Stunden nahezu unbeschadet, von einer leichten Unterkühlung abgesehen, quicklebendig aus der Lawine geborgen.

    Dass das ein unverschämtes Glück war, bestritt natürlich niemand. Man suchte aber vielmehr nach der Logik, nach physikalischen Zusammenhängen, der zufälligen Konstellation von Faktoren und Einwirkungen, die das Überleben Sams erklären würden. Man kam zu dem Schluss, dass der Schnee ungewöhnlich locker war, und dadurch die Sauerstoffzufuhr möglich machte. Man ging zudem davon aus, dass Sam nicht ganz vom Schnee umgeben war, und sie konstatierten einen noch ausreichend vorhandenen Raum für Bewegung, der die Körperwärme des Verunglückten auffing und Sam vor dem Erfrieren bewahrte. Und schließlich war die abgegangene Lawine eine eher kleine, so dass in diesem Fall nicht alle, sonst stets tödlichen Größenordnungen zu verzeichnen waren. Alles glückliche Umstände? Sicher, aber ein Wunder mitnichten. Denn Physik galt ja auch für die, die sie nicht verstehen. Die Freude über das gute Ende dieses Vorfalls war dennoch groß, aber es kam niemandem in den Sinn, dieses neuerliche Geschehen mit Sams gesamtem bisherigen Glück zu korrelieren.

    Denn man hätte es eigentlich bemerken müssen. Von diesen Perlen gab es in Samuel Goldmans Leben eine weit mehr als ungewöhnliche Anzahl. Einen Vorwurf hieraus zu formulieren wäre dennoch ungerecht. An Sams Glück hatte sich sein Umfeld längst ebenso gewöhnt, wie er selbst. Wer Zeit seines Lebens an den sonnigen und warmen Ufern Maledivens, unter Palmen und vor der Kulisse türkisfarbenen Wassers, an einem weißen Sandstrand lebte, dem käme kaum in den Sinn, dieses als ungerechte Vorteilsgabe zu verstehen. Der Feriengast aus London aber, dessen Jahreszeitenwechsel sich lediglich dadurch auszeichnet, dass der Regen eben nur einmal kälter oder wieder wärmer ist, bemerkt hingegen sofort, dass es glücklichere Umstände gibt, als im Einflussbereich eines nordatlantischen Klimas zu leben. Vielleicht bestand genau auch hierin der Grund für das Empire, seinem Wunsch nach fernen Kolonien so lange und intensiv gefrönt zu haben.

    Sam war ein Kind der Sonne. Gedanken an Regen waren ihm fern. Die Sonne schien für ihn jeden Tag, und so hatte sich bei ihm gleichermaßen wie bei den anderen nach und nach ein unbekümmertes Gefühl der Selbstverständlichkeit eingeschlichen, welches im Allgemeinen als Gewohnheit bezeichnet wird. So fehlte es ihnen schlichtweg an einschlägigen Momenten, ähnlich denen des Londoners Malediventouristen, der zum ersten Mal inmitten des Indischen Ozeans seiner Überwältigung durch große Augen und lautes Staunen Luft macht. Sie waren nicht mehr fähig dazu, denn es war ja nichts Besonderes für sie. Samuel Goldmans Glück war ihnen so alltäglich, wie es für Adam und Eva der wolkenlose blaue Himmel über dem Paradies war. Wer verschwendet in dieser Eintracht schon einen Gedanken daran, dass eine Schlange und ein profanes Stück Obst der Idylle ein jähes Ende bereiten wird.

    *

    Die Familie Goldman bestand allein aus seinen Eltern und ihm als Einzelkind. Vater und Mutter nahmen in wohltuender Distanz, gleichfalls aber mit großem Herz und ständiger Hilfsbereitschaft, am Leben und dem Werdegang ihres Sam teil. Sie waren stolz auf ihn, ohne dabei die Nerven ihrer Mitmenschen durch ständige Berichte von Sams Tun und Lassen durch eitles Loben oder glorreiche Erzählungen zu strapazieren. Inzwischen waren sie bereits ein wenig dem Lebensende nähergekommen, und sie hätten sich schon deshalb sehr über eine liebe Schwiegertochter und ein, zwei Enkelkinder gefreut. Als ausgewachsene Fatalisten aber hatten sie weder diesbezügliche Forderungen an ihn gerichtet, noch ein wirkliches Defizit empfunden. Ihr Sam wollte sich eben noch nicht entscheiden. Und früher oder später – das Schicksal sollte es wissen – würde Sam schon die Richtige gefunden haben.

    Mit pragmatischem Optimismus haben sie sogar Gutes daran entdecken können. Einige von Sams Schulfreunden und Nachbarskindern waren mittlerweile wieder geschieden, mussten ihre teuren schönen Häuser verschleudern und sich mühen, sich mit ihren Verflossenen um Besuchszeiten der Kinder zu einigen, und – nicht zu vergessen – wer den Hund behielt. Auch der ein oder andere, der mit Stipendium und Elite-Abschluss zu einem scheinbar traumhaften Karriereeinstieg gelangen konnte, war in der Zwischenzeit hart, für alle hörbar, auf den Boden der Realität geknallt. Grämte sich, neben Schulden oder Gerichtsterminen, auch noch die verlorene Mitgliedschaft im geliebten Rotary Club verkraften zu müssen.

    Sam hatte solche ehrgeizigen Ziele nie verfolgt und wurde tatsächlich von den Konsequenzen eines allzu schnellen und selbstverliebten Aufstiegs verschont. Die Gescheiterten sahen in ihm deshalb nicht selten den wahren Glückspilz, einen, der fast traumwandlerisch die richtigen Register zur rechten Zeit zu ziehen vermochte. Maßvoll aber kalkuliert. Sie lagen mit ihrer Sichtweise zwar falsch, doch für ein gutes Image war das nicht abträglich. Und Sam war´s egal. Ihm erwuchs hieraus weder Schaden noch Nachteil.

    Als die Nachricht von seinem Überleben des Flugzeugabsturzes in Südafrika seine Heimat erreichte, war die Aufregung groß. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Geschichte. Man wurde aufmerksam auf diesen Goldman, dieses wahre Kind des Glücks, der ein Liebling der Götter und Sonntagskind zugleich sein musste. Für sie, allen voran die sensationshungrigen Reporter, Zuschauer und Leser, sorgten die Bilder von der Absturzstelle, den zerschellten Rumpfteilen, den brennenden Wrackteilen und seiner spektakulären Bergung aus dem winzigen Rest des Hecks für Furore. Seine offensichtliche Unversehrtheit, die ersten Interviews der Medien aus Durban und Johannesburg – ja vor allem aber die gemeinsamen Bilder mit den Managern der Airline – machten ihn fast über Nacht zu einer Glücks-Ikone. Allen wurde spontan klar, dass sein Überleben einer Chance gleichgekommen war, deren Wahrscheinlichkeitsbetrachtung die Vorstellungskraft eines Menschenverstandes überforderte. So viel Dusel war nicht von dieser Welt. Und jemand, dem so etwas passiert war, hatte das Potenzial für einen richtigen Helden.

    Und wenn es eine Zeit gab, in der Heroen besonders notwendig waren, dann ist es die unsere.

    *

    Greenville, im Staate South Carolina, auf halber Strecke zwischen Atlanta und Charlotte gelegen, war eine angenehme und attraktive Stadt. Nun ja, mit 60.000 Einwohnern war diese eigentlich eher als Kleinstadt zu bezeichnen. Es ging hier gleichermaßen lebendig wie ehrlich zu. Dafür sorgten die ansässigen Wirtschaftsunternehmen, die überwiegend mit der Automobilindustrie verbunden waren, und natürlich die vielen Baptisten, die in der Region eine stattliche Anzahl ausmachten. Der bekannte Prediger und Bürgerrechtler Jesse Jackson war ein Kind der Stadt, ebenso, wie dessen leiblicher Vater, die ehemalige Boxlegende Noah Louis Robinson.

    Sam hatte sich vor zwei Jahren ein kleines Haus gekauft. Eines dieser flachen Holzhäuser, mit kleiner, geländerumzierten Veranda zur Straße hin und mit einer hübschen roten Holztür, die harmonisch zu den Sprossenfenstern links und rechts passte, und seinem neuen Zuhause ein freundliches, fast schon lustiges Gesicht verlieh. Er hatte sich bewusst für den Stadtteil Pleasant Valley entschieden. Dieser lag verkehrsgünstig nahe des 85er Highways, zum anderen war dieser Teil von Greenville besonders beliebt, da viele kleine Wohnstraßen, im Grünen liegend, das Wohnen attraktiv machten. Bunte Vorgärten, unzählige Bäume, die fast alle Straßen des Viertels zu Alleen machten, gepflegte Häuser und freundliche Nachbarn. Das war „pleasant". Gefragt war die Gegend auch deshalb, weil dieses Wohnviertel fast genau zwischen dem Greenville Country Club, einem der schönste Golfplätze im Staate, und dessen zweiter Anlage, die nur von wenigen Straßen vom Hauptareal des Clubs getrennt einer schönen Parkanlage gleichkam, lag.

    Sam nutzte beim Kauf seines Hauses seinen Beruf und die damit verbundenen Gelegenheiten. Als Banker erfuhr er frühzeitig, dass ein Darlehen für ein kleines Haus in Pleasant Valley von den Eigentümern nicht mehr bedient werden konnte. Es handelte sich um einen der örtlichen Autohändler, der sich geschäftlich mit dem Gebrauchtwagenverkauf übernommen hatte. Sam bot ihm an, das Haus zu kaufen und ihn auf diese Weise zumindest vom Immobiliendarlehen zu entlasten. Für Sam war die Finanzierung kein Problem, für den Autoverkäufer bedeutete es schnelles Geld, und so ging der Deal flugs über die Bühne. Sam übernahm bequemer Weise auch gleich das gesamte Mobiliar und zog kurzerhand ein.

    Mit dem Erhalt des Postens als Filialleiter der Bank wurde Sam zeitgleich auch die Mitgliedschaft im Country Club angeboten, was er natürlich nicht ausschlug. So standen ihm die Anlagen in seiner unmittelbaren Wohnlage zur Verfügung, und Sam überlegte einige Zeit, ob er tatsächlich das Golfen beginnen sollte. Er nahm sogar erste Stunden beim Golftrainer, schaffte seine Platzreife, ließ es hiernach aber dabei bleiben. Nicht, dass es ihm etwa keinen Spaß gemacht hätte. Es wurde ihm schnell zu teuer und der Wirbel der Clubmitglieder um die auffällige Reihe seiner Hole-in-ones war ihm unangenehm. Er schlug tatsächlich bereits während seiner ersten Stunden auf der Trainings-Range mehrmals den Ball mit einem Schwung vom Abschlag ins Loch. Nicht bei den Langbahnen, dazu waren die Entfernungen zu groß. Bei den Löchern mit geringerer Distanz dafür fast immer. Das sprach sich herum. Und da es üblich war, allen Anwesenden im Club für derlei Schläge einen Drink auszugeben, machte es schnell die Runde, wenn Sam trainierte oder eine Übungsrunde mit dem Pro absolvierte. Sie fanden heraus, dass es sich lohnte, einen Späher zu entsenden, dem die Beweisführung oblag, an welchem Loch und wie oft Sam mit einem einzigen Schlag den Ball im Ziel versenkte. Da er das durchaus auf stolze vier- oder fünfmal brachte, hatten alle Mitglieder eine große Freude, selbst wenn sie dem Alkohol nicht übermäßig zusprachen. Wenn Sam spielte, gab es immer Spektakel.

    Seine Treffsicherheit hatte nichts mit seiner Befähigung für den Golfsport zu tun. Als Naturtalent konnte man ihn nicht verstehen. Seine Schwünge, seine Haltung, die Fuß- und Beinstellung, die Körperdrehung, ja selbst die Art und Weise, wie er den Griff des Golfschlägers mit seinen Händen umfasste, war eher nicht geeignet, als Insignie schlummernden Talents gedeutet werden zu können. Es ließ vielmehr die Erkenntnis zu, dass Sam allenfalls ein guter Holzhacker, jedoch wohl nie ein guter Golfer werden könnte. Mit seiner Körpergröße hatte er ohnehin zu kämpfen, da er sich noch nicht durchgerungen hatte, sich ein Set mit Überlänge zu beschaffen. So sah es dann auch tatsächlich derbe und ungehobelt aus, wenn er zum Schlag ausholte.

    Dass er dennoch so ungewöhnlich häufig einen dieser seltenen Schläge fabrizierte, zudem vom Fairway aus immer wieder unmöglich erscheinende Bälle einzulochen vermochte, wo selbst versierte Spieler und Profis mit Plus-Handicap Probleme hatten, war die eigentliche Sensation. Natürlich machte Sam häufig ganz außerordentlich dämliche Fehler, stellte sich mehr als ungeschickt an, schlug weit vor dem Ball ins Gras, so dass ein Rasenstück, nicht aber der Ball, durch die Luft wirbelte, schwang meilenweit am Tee vorbei, malte wirre Löcher in die Luft, und katapultierte nicht selten statt des Balls ein Eisen oder den Driver beim Ausswingen in Richtung der Fahne. Der Bewunderung seiner Traumbälle vom Abschlag direkt ins Loch standen seine trottelhaft anmutenden Fehlschläge gegenüber. Und das empfanden alle als zusätzlichen Unterhaltungswert.

    Sam benötigte häufig übermäßig viele Versuche, selbst einfachste Bälle aufs Green zu bringen und einzulochen. An einem Tage waren es zweiunddreißig erfolglose Schläge, den Ball aus dem Sandbunker am Loch 18 in Richtung der Fahne und auf das Green zu bringen. Unter tosendem Gegröle der Golfer auf der angrenzenden Terrasse gab er ein wahres Schauspiel ab, welches er schließlich bockig beendete, in dem er den Ball mit der Fußspitze in Richtung der Zuschauer kickte, woraufhin dieser in der Tasse Earl Grey der Stadträtin Elly Sherman – pikanter Weise auch noch englischer Abstammung – landete. Kein Hole-in-one – aber ein eindrückliches Kunststück. Gottlob nahm Mrs. Sherman das sportlich und nicht als unzivilisierten Akt gegenüber dem Ursprungsland dieser Sportart. Sie äußerte sogar eine gewisse Anerkennung und attestierte dem Kunstschützen einen ausgesprochen guten Geschmack, denn dieser hatte ihrem Tee immerhin dem gewöhnlichen deutschen Bier am Nebentisch den Vorzug gegeben. Sam erhielt sogar Applaus. Und so war es dann auch nicht verwunderlich, dass er schon nach kürzester Zeit nicht mehr Sam, sondern `Mister-One´ gerufen wurde – der Anfänger mit dem unverschämten Glück.

    Sam mochte diese Freude nicht lange teilen. Es wurde ihm zu viel Brimborium um seine Löcher gemacht und er entschied sich deshalb, das geliehene Schlägerset erst einmal wieder zurückzugeben und ein wenig Abstand zu dieser Sportart zu nehmen. Alle Versuche seines Pros ihn zum Weitermachen zu bewegen, schlugen fehl. Sam versprach ihm aber, nur pausieren zu wollen und es in Bälde wieder fortzuführen. Der Trainer konnte also noch hoffen, denn er war der festen Überzeugung, dass mit einem solchen Spieler viel Geld zu verdienen war.

    *

    Sam landete kurz vor Mitternacht auf dem internationalen Flughafen von Spartanburg, unweit von Greenville. Seine Unglücksairline hatte ihm zwar angeboten, auch eine Schiffspassage von Durban nach New-York zu organisieren, doch Sam entschied sich schnell für den Flug nach Hause. Es war nicht etwa so, dass er bei dem Gedanken ans Fliegen, oder gar beim Betreten eines Flugzeuges nun ein Problem gehabt hätte. Sicher wäre es das Normalste der Welt

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