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Der Sommer mit dem Krähenmann
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eBook169 Seiten2 Stunden

Der Sommer mit dem Krähenmann

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Über dieses E-Book

Die Geschichte erzählt von Franz, einem Fünfzehnjährigen, der vaterlos, mit einer streng katholischen Mutter und seinem älteren Bruder in ärmsten Verhältnissen lebt. Für einen Moment kann er dem gewalttätigen und psychisch belastenden Elternhaus entfliehen. Er lernt durch Zufall einen alten Schauspieler kennen, und für Franz beginnt vorübergehend ein völlig neues Leben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Apr. 2019
ISBN9783748590439
Der Sommer mit dem Krähenmann
Autor

Stefan G. Rohr

Stefan G. Rohr, Autor klassischer Belletristik; er greift gesellschaftliche Entwicklungen, Menschen und Typen, aber auch Schicksale auf, durchaus einmal mit Tiefensendung. Sein Erzählstil führt den Leser locker, schwere Kost übermittelt er spielerisch und mit Vorliebe auch mit satirischer Note. Er liebt die Spannungsbögen, ebenso wie die Überraschung und den unerwarteten Ausgang; unterhaltend, ans Herz gehend, stets aber mit einer guten Portion Humor. Autorenwebsite: www.belletristik.online

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    Buchvorschau

    Der Sommer mit dem Krähenmann - Stefan G. Rohr

    Prolog

    Novelle nach einer wahren Geschichte.

    Es war gerade Anfang Mai. Die Zeit im Jahr, in der man sich zu strecken begonnen hatte und die kargen Wintermonate fast schon wieder in Vergessenheit geraten waren. Das Grün der Bäume lag satt und unverbraucht auf den Kronen, und die Menschen in unserer schönen Fördestadt machten sich bereit für den Sommer, für kurze Hosen, Picknicks, Ostseestrand, Sonnencreme und Badehandtuch.

    Die großen Ferien waren zwar noch einige Wochen entfernt, doch das Gefühl, es werde bald so weit sein, schwebte bereits in allen Schülerköpfen, ließ Pläne schmieden und linderte den Schmerz über akut bevorstehende Versetzungsängste. So ein auflebender Sommer bewirkte eben auch schon damals all diese typischen kleinen Wunder, öffnete jedermanns Seelen und Herzen, ließ faszinierend Neues entdecken, bei Fortgeschrittenen unbekannte Hormone Kapriolen schlagen, machte aber allen Mut für das Leben, gab Kraft und Energie.

    So begann eben auch der Sommer 1971, auf ebensolche Weise. Frischer Wind von der Förde mischte sich in die aufsteigende Wärme, ließ Blätter rauschen und verteilte den Duft der ersten aufgehenden Heckenrosen in der Umgebung. Die Mutigsten unter uns machten sich schon einmal zum Strandbad auf, auch wenn das Wasser die Vierzehngradmarke noch nicht überschritten hatte. Alles war irgendwie schon auf Sommer ausgerichtet. Er sollte deshalb auch kommen können. Man war bereit.

    Mein Sommer in diesem Jahr, ich stand kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag, sollte jedoch ein ganz besonderer werden. Ich wusste das natürlich noch nicht, und auch im Nachhinein betrachtet kann ich ohne Umschweife bestätigen, dass es noch eine ganze Weile gedauert hatte, bis ich begreifen sollte, welch eine wunderbare Begegnung mir das Schicksal in jenen Tagen zuspielte. Denn es war, auch das wurde mir erst viel später klar, eine dieser Fügungen, deren Bedeutung und Wertigkeit sich erst im eigenen Herzen und der Seele entfalten mussten. Ebenso, wie sich aus der Saat die Frucht entwickelt.

    Doch war ich noch weit davon entfernt, mir hierüber das Bewusstsein zu schärfen. Denn vor allem hatte ich in dieser Zeit ganz andere Probleme, die mich beschäftigten. Dass ich es daseinsmäßig in vielen Dingen recht schlecht getroffen hatte, war mir zu diesem Zeitpunkt allerdings längst schon bewusst. Mit den meisten dieser Defizite hatte ich mich sogar bereits irgendwie abgefunden. Doch die Tatsache, dass alle ein Fahrrad hatten, manche sogar schon ein Mofa, ich aber mangels ausreichender Mittel immer noch per pedes unterwegs sein musste, setzte mir in dieser Zeit deutlich mehr zu, als die bereits zur Gewohnheit gewordene Kenntnis, von Tyche vaterlos, dazu noch mit einer kranken Mutter ausgestattet worden zu sein.

    Der fehlende Besitz eines solchen Gefährts wog deshalb besonders schwer, da der Wettstreit unter den glücklichen Eigentümern solcher Geräte bereits in der nächsten Ebene angekommen war, während ich eben noch nicht einmal ein nacktes Gestell vorweisen konnte. Sie protzten mit einer Torpedo-Dreigangschaltung, mit einem Renn- oder Büffellenker, einige Auserwählte mit einem ganz und gar vollkommenen Rennrad, mit fliehender Zehngangschaltung, und die wenigen Götter unter meinen Schulfreunden besaßen ein orangenes Bonanza-Rad mit Bananensattel und Profilreifen. In derlei Gesellschaft der Einzige sein zu müssen, der den davonbrausenden Nachbarskindern hinterherschauen musste, den einzigen Zurückbleibenden abzugeben hatte, erneut und auch in dieser Hinsicht wieder einmal den armen Schlucker abgeben zu müssen, trübte mir die Einkehr des herannahenden Sommers erheblich ein.

    Was nutzen blauer Himmel und die herrlichste Ostsee-Frische, wenn das Herz eines heranwachsenden Jünglings schwer wie Blei anmutet? Und das Gewicht zerrte an mir, zog an meinem Selbstbewusstsein, rang mich noch weiter zu Boden und machte mir abermals deutlich, dass es schon einen Unterschied darstellte, zu den Kindern zu gehören, deren Gabentische zu Weihnachten oder Geburtstagen voll gedeckt waren und die Beschenkten von unbekümmerter Freude über erfüllte Wünsche berichten konnten. Ich kannte das Delta zwischen Wunsch und Wirklichkeit leider schon in epischer Breite, doch in bestimmten Momenten brannte mir die wiederaufflammende Erkenntnis ein neuerliches Loch in meine Seele und ließ mein Spiegelbild wie das eines Verlierers erscheinen.

    Abhilfe war von keiner Seite zu erwarten. Ebenso gut hätte ich nämlich auch auf Sterntalerchen oder die Zahnfee hoffen können. Das Geld für ein Fahrrad, ein solches zum Beispiel, welches mir unser Nachbar, Herr Hinrichsen, gebraucht angeboten hatte, war weder in meinem Sparschwein noch auf dem Bankkonto meiner Mutter vorhanden. Das lag vor allem an zwei Gründen: Zum einen besaß ich kein Sparschwein, da ich weder Taschengeld erhielt noch in die Pflicht zu nehmende Verwandte oder gönnerhafte Patentanten vorweisen konnte. Das Schicksal hatte derlei Bevorteilungen auf andere verteilt, für mich war offensichtlich nichts mehr übrig. Zum zweiten reichte die Witwenrente meiner Mutter stets nur bis zum Zwanzigsten eines jeden Monats. Für das letzte Drittel hatten sich mein älterer Bruder und ich uns auf Haferflocken mit Zucker und Kakaopulver zu beschränken. Die Gabe von Taschengeld wäre uns damals deshalb so absurd vorgekommen wie der Wunsch nach einem eigenen Zimmer oder einer Urlaubsfahrt mit dem familieneigenen Auto an die italienische Riviera. Wie gesagt, nach Hilfe Ausschau zu halten war ein völlig ungeeigneter Gedanke.

    Ich fasste deshalb einen Plan. Und so einfach dieser auch formuliert werden konnte, so schwierig erschien dessen Umsetzung. Nicht sofort, doch je näher der Tag rückte, desto geringer erschienen mir die Erfolgsaussichten. Mein Ziel war es, am Ende des Sommers ausreichend Geld verdient zu haben, um Herrn Hinrichsens Drahtesel erwerben zu können. Er wollte einhundert Mark für diesen, denn es war ein gutes Rad, mit Dreigangschaltung und zwei Felgenbremsen, deren Züge mit rot-weißen Plastikverzierungen umkleidet waren. Um diese astronomische Summe verdienen zu können, hatte ich mir vier Monate Zeit eingeräumt. Pro Monat also fünfundzwanzig Mark. Das wollte ich schaffen, denn mein Konzept war kalkulatorisch mehr als simpel. Fünfmal Rasenmähen zu jeweils fünf Mark im Monat ergäbe das erste Viertel des Kaufpreises. Das Ganze mal vier, und der Drops sollte gelutscht sein. Es bedurfte nur entsprechend vieler Kunden, denen ihr Rasen vielleicht nicht ganz so wichtig war und sie diesen deshalb einem zwar eifrigen, zu allem Übel aber leider völlig unerfahrenen, Fünfzehnjährigen zur Beschneidung überließen. Mir war klar, dass derlei Menschen nicht so einfach vom Himmel fallen würden. Man musste sie suchen und sich anbieten. Und das genau war die Crux.

    Es half aber nichts. Wenn ich es nicht wenigstens versucht haben würde, wäre auch kein Klagelied zu singen. Und so entschloss ich mich nicht nur für ein zügiges Umsetzen meines Vorhabens, sondern fasste auch allen Mut zusammen und machte mich auf den Weg in eine der feinen Wohngegenden meiner Heimatstadt, in denen – ganz im Gegensatz zu meinem Wohnviertel – schöne Einfamilienhäuser und so manche größere Villa standen. Denn dort gab es Gärten, Rasen und Hecken. Wege, die es zu fegen oder vom Unkraut zu befreien galt. Rosen, die geschnitten werden mussten, Blumenbeete, die geharkt, Büsche, die ausgedünnt und vielleicht sogar Autos, die gewaschen werden konnten.

    Ich machte mir keine Gedanken darüber, ob meine Konstitution überzeugend daherkam. Ich glaubte vielmehr, dass ein sauberer Scheitel im Haar eher über Wohl und Wehe entscheiden würde als bullige Kraft und das Kreuz eines Raubmörders. Ich war nämlich das ganze Gegenteil eines kräftigen Burschen. Meine Körpergröße maß ganz sicher schon über 1,70 Meter, doch hatten sich meine Muskeln und Gelenke darauf geeinigt, ihre Entscheidung darüber, dass ich ein Junge war, gegebenenfalls noch einmal zu revidieren. So kam ich eher daher wie ein Spatz mit Krampfadern, neigte zu Blässe und dunklen Augenringen, und wenn mich Frau Hagel sah, sie betrieb einen der damals noch üblichen Tante-Emma-Läden an der Ecke zum Kupfermühlenweg, fragte sie fast immer, ob ich zuhause auch wirklich genug zu essen bekäme. Und ganz ehrlich, würde heute ein Knabe meiner damaligen Statur vor meiner Türe stehen und sich für harte Arbeit empfehlen, wäre meine Prognose seines Arbeitsergebnisses sicher auch nicht schmeichelhaft.

    Gottlob aber war meine Befähigung zu einer objektivierten Selbstreflektion in jenen Tagen noch stark unterentwickelt, und so stieg mit jedem Schritt in Richtung der `Westlichen Höhe´ meine Zuversicht auf das Antreffen freudestrahlender Gesichter ältlicher Villenbesitzer, deren größtes Problem gelöst werden sollte, nämlich ihr getrübter Blick aus dem Terrassenfenster auf einen zu lang gewachsenen Rasen.

    Schaue ich nun auf diesen Sommer zurück, und das tue ich sehr häufig, erwische ich mich immer mal wieder bei der Überzeugung, dass es auch im Olymp so etwas wie frühsommerliche Euphorie geben muss. Das berühmte Homerische Lachen, dem so köstlichen Einfall des altertümlichen Dichters, den Göttern durch ihre Fähigkeit zum Lachen mehr Menschlichkeit einzuverleiben, hätte in diesem Moment ganz sicher gehört werden können. Denn es war durchaus wahrscheinlich, dass sie sich am Rand, allen voran Zeus und Athene, herübergebeugt hatten, nach unten schauten, und den tapferen kleinen Franz in Richtung der westlichen Villen stampfen sahen. Sie werden sich dabei ebenso köstlich amüsiert haben, wie sie es taten, als sie den hinkenden Kollegen Hephaistos herumtorkeln sahen.

    Nach einer knappen Stunde erreichte ich die ersten Straßen des Viertels. Dort sah es völlig anders aus als bei mir zu Hause. Die Straßen waren von hohen Bäumen gesäumt, meist Kastanien oder Buchen. Sie spendeten wohltuenden Schatten und sorgten für ein lebendiges Spiel der Lichtstrahlen, die immer wieder durch das dichte Laub hindurchschienen und helle Kegel auf die Straße warfen. Es war schon sehr warm an diesem Tag und ein leichter Wind, der wie fast immer vom offenen Meer herüberwehte, strich durch mein Haar.

    Ich ging die Straße entlang und schaute mir die Häuser an. Sie lagen meist hinter dichten Buchenhecken, und waren nur durch das Eingangstor zu erspähen. Die meisten von ihnen waren zweistöckig und aus rotem Klinker gebaut. Sie trugen hellrote oder dunkelgraue Ziegeldächer, hatten weiße Holzfenster mit einfachem Kreuz oder Sprossen, und nicht wenige von ihnen zeigten grüne oder blaue Fensterläden mit Lamellen an den Seiten, die den Häusern einen ganz besonders anheimelnden Reiz verliehen. Weiße Gardinen im Inneren, Blumentöpfe oder kleine englische Leselampen aus Messing mit grünen Glasschirmen zeigten an, dass in diesem Haus eine sorgsame Hand für Wohl und Gemütlichkeit sorgte. Kleine Treppen reichten zu den seitwärts gelegenen Hauseingängen, an deren Ende eine schwere Türe zu sehen war, in die ein ovales oder viereckiges Fenster eingelassen war. In den Vorgärten blühten karmesinrote Azaleen, buschige Rhododendren mit großen roten, weißen oder violetten Blüten, rankten sich Kletterrosen mit ersten aufgehenden Knospen an feinen Holzspalieren, oder säumten kugelförmig getrimmte Buchsbäume Ecken und gepflasterte Steinwege, die sich kunstvoll über das Grundstück schlängelten.

    Alles sah sehr fein aus. Ganz anders als in meinem Block des Arbeiterbauvereins, in denen die Schweißer und Kranführer der hiesigen Werft wohnten. Unsere Flora bestand in einer Unmenge von Heckenrosen und einigen Vogelbeerbäumen, während die Wege mit groben Betonquadern belegt waren und der Platz zwischen den Häusern aus festgefahrenem Sand bestand. Unsere Häuser waren die typischen Mietskasernen der Nachkriegszeit, schnell gebaut, dafür wenig Platz und kein Komfort. Keine der Wohnungen verfügte über mehr als fünfzig Quadratmeter, und nur die Privilegierten konnten einen winzigen Balkon ihr Eigen nennen.

    Meine Mutter, mein Bruder und ich wohnten in einer vierunddreißig Quadratmeter umfassenden und ofenbeheizten Zweizimmerwohnung, mit einem Badezimmer in der Größe von zwei Telefonzellen. Die Hälfte nahm schon ein riesiger Wasserboiler ein, das übliche Interieur drängte sich auf dem Rest. So erschien es mir hier, vor diesen Villen stehend, wie ein Zugegensein auf einem anderen Stern. Es hing nirgends die Bettwäsche heraus, niemand hatte sein Kissen im Fenster platziert und gaffte auf die Straße, niemand klopfte auf der Teppichstange seine Läufer. Alles war still, alles glänzte in vornehmer Pracht, alles schirmte sich durch mannshohe Hecken und gusseiserne Zäune vom Rest der Welt ab.

    Mich verließ bei diesem Anblick sofort der dünne Mut. Sollte ich jetzt einfach eine dieser Pforten öffnen, hinauf bis zur Tür gehen, klingeln und mein Angebot platzieren? Ein Junge, wie ich es war, dessen Adresse zu denjenigen in der Stadt gezählt wurde, die als Problembezirke galten? Wer in einem dieser hübschen Villen wohnte, der blickte doch auf mich herab, würde wohl kaum Vertrauen haben, mir den schönen Rasen zum Mähen zu überlassen, mich gar unbeaufsichtigt um das Haus schleichen zu lassen. War es also nicht eine völlig dämliche Idee, sich hierhinbegeben zu haben, dieses in der Hoffnung, man würde einen dahergelaufenen Jungen mit offenen Armen aufnehmen und ihm eine Arbeit geben? Doch ich war nun schon einmal da. Der Weg war lang genug. Und einfach wieder unverrichteter Dinge zu gehen, es nicht einmal versucht zu haben, war ein schlimmerer Gedanke als abgewiesen zu werden.

    So passierte ich einige der Häuser. Ein Muster hatte ich nicht im Kopf, ich wollte mich leiten lassen,

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