Wiederbelebung
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Über dieses E-Book
Memoiren einer jungen Frau vor und nach ihrem Coming-out.
Im Sommer 1964 packt die 19-jährige Judith ihre Koffer und düst mit dem Cabrio ihrer Mutter nach Katalonien, um einen Job als Touristenführerin anzutreten. Was nach jugendlicher Abenteuerlust klingt, ist in Wahrheit zugleich Flucht und Suche: Wenige Monate zuvor sind Judiths Eltern ums Leben gekommen - ertrunken, als sie bei einem Feuer auf dem Kreuzfahrtschiff Lakonia genötigt waren, mitten in der Nacht ins eiskalte Meer hinabzusteigen.
Um ihren brennenden Schmerz zu betäuben, stürzt sie sich in den Exzess: Sie feiert die spanischen Nächte durch, geht zahllose Affären mit Männern ein und treibt Körper und Seele an ihre Grenzen. Erst Jahre später gelingt es ihr, die Trauer über den Verlust der Eltern zuzulassen und sich zugleich einzugestehen, was sie schon lange geahnt hat - dass sie echte Liebe und Begehren nur für Frauen verspürt. Was an dieser Suche besticht, ist der beherzte unsentimentale Stil der Autorin, gewürzt mit einem guten Schuss (Selbst-)Ironie und Poesie.
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Buchvorschau
Wiederbelebung - Judith Barrington
Zweifel.
Erster Teil
Kein Entkommen
Hubschrauber kreisten über dem Schiff, aber angesichts der Hitze und der dichten Rauchschwaden konnten sie nicht tief genug gehen, um jene hochzuziehen, die nach Ablegen aller Rettungsboote noch an Bord des Dampfers festsaßen. Rundum versammelte sich eine ganze Flotte von Schiffen, aber auch sie musste Distanz halten, weil das Wasser von Menschen wimmelte, die in lecken Booten herumtrieben, sich an Möbelstücke klammerten oder in Rettungswesten zwischen verkohlten Wrackteilen schwammen. Die Welt sah Fernsehbilder des Schiffs, dessen Rauchwolke wie ein Leichentuch über den Atlantik wehte, bis schließlich kurz vor Morgengrauen alle an Bord verbliebenen Passagiere über eine Strickleiter ins Meer hinabstiegen. Ein Schiff der britischen Marine barg die Leichen meiner Eltern, sie wurden nach Gibraltar gebracht und dort zusammen mit etwa einem Duzend weiterer britischer und deutscher Passagiere beigesetzt.
Einige Monate davor, im Herbst 1963, war ich von zu Hause ausgezogen in eine riesige Wohnung in Kensington, die ich mit drei anderen jungen Frauen teilte. Trotzdem fuhr ich fast jedes Wochenende nach Hause, und im Gepäck hatte ich neben meiner schmutzigen Wäsche auch diverse Geschichten über meine neue Stelle bei der BBC und einen explosionsartig wachsenden Kreis von Bekannten, die ich als Freunde bezeichnete. Ich spielte unabhängig sein, ein Spiel, das ich mit neunzehn noch nicht wirklich gut beherrschte, und meine Eltern schienen willens, mir Zeit zu lassen. Sie halfen mir aus der Klemme, wenn ich pleite war; sie holten mich Freitagabend vom Bahnhof ab und fuhren mich Sonntagabend wieder hin. Ich kehrte nach London zurück, erholt nach einem Wochenende mit viel Schlaf und richtigen Mahlzeiten – beides Seltenheiten in der Kensingtoner Wohnung.
Mein Bruder und meine Schwester, fünfzehn und elf Jahre älter als ich, hatten die Familienbande, auf die ich mich noch verließ, schon lange gekappt. Beide waren verheiratet und hatten kleine Kinder, und hin und wieder statteten sie meinen Eltern in Brighton einen Sonntagsbesuch ab, aber die zwei Familien kamen selten gleichzeitig. Große Familientreffen waren nicht unsere Sache, ich vermute, dass niemand allzu lange so viele kleine Kinder unter einem Dach haben wollte.
In jenem Winter hatte es Streit um die Frage gegeben, wo wir Weihnachten feiern sollten. Bisher hatte immer meine Mutter zu Truthahn und Christmas Pudding eingeladen, in jenem Jahr aber protestierte meine Schwester Ruth, oder vielleicht war es auch mein Bruder John, ich weiß es nicht mehr, dagegen, dass wir uns wieder bei unseren Eltern trafen. Es gab eine Reihe angespannter Telefongespräche, und schließlich verkündeten meine Eltern mit deutlich trotzigem Unterton, dass sie über Weihnachten verreisen würden (und also niemand auf sie Rücksicht nehmen müsse). Mir persönlich war das ziemlich egal. Der Dezember quoll förmlich über vor Partyeinladungen, einige von Leuten, deren Namen ich nicht einmal kannte, und ich wollte einfach so lange wie irgend möglich in London bleiben. So saß ich auch an Heiligabend in der Regent Street beim Friseur, als John mich aufspürte. Er rief an, um mir mitzuteilen, dass das Schiff in Flammen stehe.
Später fiel mir wieder ein, dass ich die Nachricht schon gelesen hatte, als ich auf dem Weg zu meinem Friseurtermin die Piccadilly entlanghetzte: »Kreuzfahrtschiff Lakonia in Flammen!« war auf die Reklametafeln der Evening Standard-Verkäufer gekritzelt, die die Information zudem im gelangweilten Singsang eines tausendmal wiederholten Slogans riefen. Ich hatte dem keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt, ich wusste ja nicht einmal, wie das Schiff hieß, das meine Eltern gebucht hatten.
»Welches Schiff?«, fragte ich deshalb dämlich.
»Das Kreuzfahrtschiff«, sagte er. Ich stand an der Theke des Friseursalons und blickte auf eine Vitrine voller Haarspraydosen. »Auf dem Ma und Pa sind. Komm heute Abend her, die anderen sind schon unterwegs.«
Wir verständigten uns darauf, einmal pro Stunde die Nummer der Greek Line anzurufen, wofür wir der Reihe nach in das stickige Kämmerchen unter der Treppe gingen, um die Tonbandaufnahme der Namen anzuhören. Derer, die man lebend aus dem Meer gezogen hatte. Und derer, die tot geborgen und identifiziert worden waren. Unter der Schräge, an die mit Bleistift Telefonnummern von Babysittern und Handwerkern gekritzelt waren, stand ich nun am kühlen Nachmittag in meinem ausgeleierten blauen Pullover und nachts im Flanell-Pyjama. Das Band begann nicht immer bei A: Sobald die Verbindung hergestellt war, kam man in das laufende Band hinein. Manchmal war es gerade bei C oder D, dann mussten wir das ganze Band bis B anhören, nur um herauszufinden, dass seit unserem letzten Anruf weder mein Vater noch meine Mutter hinzugefügt worden waren. In den Stunden dazwischen veranstalteten wir für die Kinder Weihnachten: Geschenke unterm Baum, Truthahn und Christmas Pudding, abends am 26. eine Weihnachtspantomime (vermutlich Dick Whittington und seine Katze), und während all dessen lief uns Erwachsenen unablässig die alphabetische Liste durch den Kopf, wie ein Mantra. Wenn wir zu den Nachrichten zusammenkamen und hörten, dass Unmengen schwarzen Rauchs aus dem Schiff quollen, witzelten wir, dass unser Vater, wenn es sonst nichts gab, ein Floß bauen würde. Einmal rief meine Schwester die Putzfrau meiner Eltern an und trug ihr auf, Decken zum Aufwärmen in den Trockenschrank zu legen.
An einem dieser Tage stand ich am Fenster des Gästezimmers und blickte auf den reifbedeckten Rasen, wo Spatzen sich um Kuchenreste zankten. Ich hörte die Tür aufgehen, John kam herein. Ich hörte, wie er sich räusperte und sagte: »Sie haben Pa gefunden. Ihn geborgen. Er ist tot.« Dann hörte ich, wie die Tür ins Schloss gezogen wurde, und wartete darauf, dass er zu mir kam. Ich fühlte mich kalt und weiß wie der Reif, aber irgendwo in mir flackerte etwas Warmes für meinen Bruder, ich sehnte mich danach, dass er bei mir war. Ich wollte mich an ihn lehnen. Mein Kopf sollte seine Schulter berühren.
Wenig später drehte ich mich um. Der Raum war leer. Das Geräusch der Tür, die sich schloss, war das Geräusch von John gewesen, der ging. Ich komme schon klar, hätte ich sicher gedacht, wenn Denken möglich gewesen wäre. Ich kann allein auf mich aufpassen. Aber mein Gehirn war eisig, und der kleine warme Fleck in mir erfroren.
Nach den Feiertagen kehrte ich in meine Wohnung und zu meiner Arbeit zurück. Es gab immer noch keine Nachricht von meiner Mutter, obwohl man viele Leichen geborgen hatte, die noch nicht identifiziert waren. Dabei handelte es sich vor allem um Frauen, die meisten Männer hatten eine Brieftasche dabei. John flog nach Gibraltar und entdeckte die Leiche meiner Mutter, er fuhr dorthin, ohne es mir zu sagen, und er organisierte auch, dass unsere Eltern dort beigesetzt wurden, auf dem Fels von Gibraltar. Hätte er mich gefragt, ich hätte vermutlich gesagt: »Es ist mir egal. Mach, was du für richtig hältst.«
An einem stürmischen Januartag kamen wir in einer kleinen Kirche in Patcham zusammen, meine Mutter hatte dort manchmal sonntagmorgens den Gottesdienst besucht. Es gab keine Särge, nur viele Menschen, die ernst dreinblickten, und meine weinende Schwester. Ich weinte nicht: Ich war noch immer am Fenster des Gästezimmers eingefroren. Ich weinte über ein Jahr lang nicht, dann gab es eine kleine Schmelze, auf die eine noch viel längere Eiszeit folgte. Es hallte in der Kirche, als wir Oh hear us when we cry to Thee for those in peril on the sea sangen – wegen seiner wunderbaren Melodie schon immer eins meiner liebsten Kirchenlieder. In meinen besten Mantel gewickelt, sang ich trotzig mit und überging Ruths unerwartetes