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Vorm Mast: Klar vorn und achtern
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eBook677 Seiten7 Stunden

Vorm Mast: Klar vorn und achtern

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Über dieses E-Book

Entgegen den elterlichen Wünschen schafft es der 16 jährige Wolfgang, seinen Kindheitstraum zu verwirklichen und zur See zu fahren. Wenn auch die Zeit der Windjammer vorbei ist, bleibt noch genügend Romantik, die ihn den harten Alltag manchmal vergessen lässt. Die Besatzung eines Frachtschiffe entsprach der Einwohnerzahl eines kleinen Dorfes, einschliesslich seiner Intrigen und Freuden...

Doch nichts währt ewig. War durch die Umstellung von Segel- auf Motorenantrieb die Seefahrt zu Beginn des 20 ten Jahrhunderts schon stark verändert worden, so erfährt sie in den 70er Jahren einen erneuten Wandel: Der Container verdrängt das Stückgut, die Schiffe werden zu riesigen Stahlmonstern, die Besatzungen schrumpfen auf ein Muinimum.

Doch die Weite und Gewalt des Meeres und der funkelnde nächtliche Sternenhimmel lassen einem auch heute noch den Hauch des Unendlichen erleben...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum12. Apr. 2017
ISBN9783742791412
Vorm Mast: Klar vorn und achtern
Autor

Wolfgang Bendick

Geboren 1948 im Münsterland, verbringe ich meine Kindheit am Halterner See. 1959 zieht die Familie nach Bayern. 1964 mache eine Ausbildung auf See bis zum Matrosen. Von 1967 bis 1971 mache ich das humanistische Abitur. Nachdem ich ‚Hair‘ und ‚Woodstock‘ gesehen habe, ist klar: auf nach Osten! Auf dem Hippie-Trail bis Indien, Australien und halb Amerika. Folgen erneute Reisen, dann Zivildienst, eine Gärtnerlehre, die ersten 2 Kinder. 1980 siedeln wir nach Frankreich, um Bio-Bergbauer zu werden.

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    Buchvorschau

    Vorm Mast - Wolfgang Bendick

    WIDMUNG

    Für meine Eltern

    Verdient haben sie es, bei den Sorgen die ich ihnen gemacht habe... (oder die sie sich gemacht haben...)

    Vorwort zur neuen Auflage

    Das große Echo, das mein Buch in den fünf Jahren seit seinem Erscheinen gefunden hat, hat mich bewogen, es nochmals zu überarbeiten und mit über 200 Fotos zu vervollständigen. Außerdem soll ein Glossar von rund 850 erklärten Stichwörtern dem Leser helfen, sich besser auf einem Frachtschiff in jener Zeit orientieren zu können. Denn die Seefahrt ist heute nicht mehr dieselbe. Die Passagierschiffe haben sich in schwimmende, luxuriöse Wohnblöcke und Freizeitparks verwandelt, die Nachfolger der Stückgutfrachter, die Containerschiffe gleichen bestenfalls einer Ansammlung von überdimensionierten, bunten Lego-Steinen. Alles ist gigantisch geworden. Dadurch ist auch die Ästhetik verschwunden.

    Damit nicht alles in Vergessenheit gerät, soll dieses Buch eine bleibende Momentaufnahme im Album der Seefahrtsgeschichte sein. Alles ist im Wandel. Der Gigantismus wird an seine Grenzen geraten. Und, wer weiß, vielleicht wird die Zukunft uns wieder kleinere, lebendigere Schiffe bescheren und Häfen voller Arbeiter.

    Früher handelte man nur mit Gütern, die es am Ort nicht gab. Jetzt lässt man woanders herstellen, was man selber auch machen könnte. Weil es billiger ist. Wie lange noch? Wann endlich wird Vernunft stärker sein als Profitgier und auch die Umwelt als ausschlaggebender Faktor einbezogen werden? Wann werden die Meere nicht mehr als Mülldeponie dienen, sondern ihre Reinheit von damals wiedergefunden haben?

    Bis dahin, lieber Leser, viel Freude bei der Lektüre dieses Buches!

    Im September 2021

    MUSCHELSUPPE

    Ich wollte zur See fahren. Ich musste zur See fahren! Ich weiß nicht, woher das kam. Hatten wir doch niemanden in der Familie, der mich mit diesem Virus hätte infizieren können. Schon in meiner Kindheit war mir das klar. Nur hatte ich schnell gemerkt, dass man mit den Erwachsenen, vor allem wenn sie die eigenen Eltern sind, nicht über alles sprechen darf. Sie tun alles mit einer Handbewegung ab oder mit den Worten: „Warte erst mal, bis du groß bist."

    Ich verbrachte meine Kindheit am Ufer des Halterner Sees. Für mich war es das größte Gewässer, das ich kannte, also gleichbedeutend mit dem Meer. „Das Meer ist aber viel, viel größer!, sagten die Erwachsenen, „man sieht nicht seine Ufer! Aber wenn ich mich mit dem Kopf ganz nah an die Oberfläche bückte, war das andere Ufer verschwunden. Also war das doch das Meer, die großen Leute bemerkten das nur nicht.

    Man kann sagen, dass ich die eine Hälfte meiner freien Zeit am Wasser verbrachte, die andere bei Bauer Nolte in Overath. Der bestellte mit Hilfe seiner Söhne seinen kleinen Hof. Nebenher arbeiteten sie noch in den Wasserwerken. Die schwere Arbeit wurde vom Pferd Fanny erledigt, manchmal holte man zusätzlich ein Pferd vom Nachbarn, hauptsächlich zum Pflügen oder um den Bindemäher zu ziehen. Sie nannten mich scherzend den „Verwalter", was mich stolz machte. Vielleicht stand ich oft im Weg. Nahm aber an allen Arbeiten teil, weil auf einem Hof jede Hand, sei sie auch noch so klein, nützlich ist. Meine größte Freude war, mit dem Pferd zu arbeiten, seine Zügel zu halten, den Leiterwagen bei der Ernte zu lenken oder auf seinem Rücken zum Schmied zu reiten.

    Irgendwas schwamm immer in meinem Meer. Die Wellen spülten alles irgendwann ans Ufer: Holzstücke, Flaschen, tote Schweine oder Fische, mit dem Bauch nach oben. Mit einem Stock suchte ich ein Stück Holz in dem Treibgut und lenkte es am Ufer entlang. Ich stellte mir vor, es sei mein Schiff. Es schwammen noch andere Schiffe auf dem See. Da waren einige Segelboote und Paddelboote, die meist an Wochenenden den See befuhren. Ein richtiges Schiff sei aber noch viel, viel größer, sagte man mir. Wie ein Haus, wie mehrere Häuser, wie eine Häuserzeile.

    Die toten Schweine oder Fische waren für mich wie U-Boote. Ich hatte gehört, dass es Schiffe gab, die sowohl auf als auch unter Wasser fahren können. Kriegsschiffe. Krieg ist schrecklich, hatte ich aus den Gesprächen anderer gehört. Viele Menschen seien darin gefallen. Ich war auch schon oft gefallen. Aber meist war das nicht sehr schlimm. Trotzdem hatte das Wort Krieg für mich einen bedrohlichen Klang. Drum ließ ich die U-Boote, die außerdem erbärmlich stanken lieber da, wo sie waren. Ich fand ein Stöckchen und ein Stück Pappe. Daraus machte ich einen Mast und das Segel und rüstete mein Schiff damit aus. Es war bereit, um in See zu stechen. Es fehlte nur noch die Ladung. Ich besaß eine Sammlung von Spielzeugtierchen. Butter gab es damals nicht, oder sie war zu teuer. Wir aßen Margarine. Und beim Kauf eines Würfels gab es ein kleines Plastiktierchen dazu. Diese stellte ich auf das Deck meines Bootes. Und schob es mit dem Stock auf den See hinaus. So stellte ich mir die Arche Noah vor, wie sie von der Sintflut davongetrieben wurde. Erwachsene würden sagen, das sei ein Tiertransportschiff.

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    Mein erstes Boot

    Zum vierten Geburtstag bekam ich ein richtiges Segelboot geschenkt. Zwar nur ein Spielzeug, bunt bemalt, aber mit einem Segel aus Stoff und einem Schwert. Ich merkte schnell den Unterschied zwischen meinem Brettschiffchen und dem Schwertboot. Das erste trieb nur weg, das andere bewegte sich vorwärts. Schwimmen konnte ich nicht. Wollte ich auch nicht lernen. Wozu auch? Ich wollte ja auf einem Schiff fahren. Und das schwamm ja. Wie oft fiel ich ins Wasser, wenn mein Schiffchen sich zu weit entfernt hatte, und ich es wieder einfangen wollte? Ich kann mich gut erinnern, wie ich absank, immer tiefer. In meinen Ohren klingelte es. Und jedes Mal packte mich eine Hand und zog mich wieder ans Licht und an die Luft. „Versprich mir, das nicht wieder zu tun! Fall ja nicht mehr ins Wasser!, verlangte meine Mutter. „Versprechen, was heißt das eigentlich?, fragte ich mich. Wenn jemand etwas Falsches gesagt hatte, dann sagte er: „Oh! Ich hab mich versprochen! „Ja, sagte ich, „ich verspreche", ohne recht zu wissen, was ich da eigentlich sagte.

    Manchmal durfte ich beim Vater im Ruderboot mitfahren. Auf den See hinaus. Oder bis zum anderen Ufer, zu Fischer Bombosch. Für mich war das Amerika. Ich hatte nämlich gehört, dass Amerika auf der anderen Seite des „großen Teichs" läge. Dieser legte Reusen aus, wie mein Vater. Und Aalschnüre. Und Angeln mit Setzfischen. Auch ich angelte, mit Regenwürmern als Köder. Sie waren leicht zu finden. Man brauchte nur einen Stein anzuheben oder ein Brett. Und sie waren da. Ich verstand nicht, warum die Mädchen kreischend wegrannten, wenn ich ihnen einen zeigte. Sind halt Weiber...

    Später durfte ich auf einer Jolle mitfahren. Man erkannte sie an dem O im Segel. Oder auf einem Pirat. Der hatte ein Beil auf dem Segel. Das waren für mich die Seeräuber. Das Gute an den Piraten war, dass sie eine Fock, ein Vorsegel besaßen, das ich mit meinen dünnen Ärmchen schon bedienen konnte. „Klar zum Wendn! „Re!, und der die Ruderpinne hielt, legte sie um. Leichtes Flattern, ich zog, so gut ich konnte an meiner Schot. Schon rundeten sich die Segel wieder, und das Boot nahm erneut Fahrt auf. RE stand auch auf den Nummernschildern der Autos: Recklinghausen. Was hatte das mit Segeln zu tun? Die aus Gelsenkirchen, sagten die „Ge? Ich kannte Leute aus all den Orten, denn sie hatten Boote bei uns untergestellt. Mein Vater war Bootswart. Eine wichtige Person! Er trug eine Mütze wie ein Kapitän. Warum heißt die Stadt Essen eigentlich Essen? Essen die Leute dort so viel? Aber ich kannte auch dicke Leute aus Gelsenkirchen. Komisch, die Welt der Erwachsenen... „Ihr Kleiner ist aber witzig!, sagten die Leute, wenn ich meine Gedanken mal laut aussprach. Das machte mich wütend: Denn 1. war ich nicht klein, 2. meinte ich es ernst. Ernst? Auch wieder so ein Wort. Ich hatte einen Freund, der hieß Ernst, und der war eigentlich ganz lustig! Ein anderer hieß mit Nachnamen Mast. Und der war eher klein. Und sie hatten kein Boot. Ich hatte also genug Gründe, den Erwachsenen zu misstrauen!

    Ich band einen Zwirnsfaden ans Heck meines Segelbötchens, stieß es ab und stellte mir vor, ich durchkreuze die Meere. Wie die Kapitäne in den Büchern, die ich schon bald zu lesen imstande war.

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    Auf meiner Pamir 2

    Als das Segelschulschiff „Pamir sank, vor den Azoren, war ich schon 8 Jahre alt. Wie gerne wäre ich auch auf einem Schulschiff, anstatt in der langweiligen Marienschule... Der Untergang der „Pamir brachte mich nicht von meinem Wunsch ab, zur See zu fahren. Er gab mir nicht einmal einen Grund, endlich Schwimmen zu lernen. Ich benannte das Floß, das ich gebaut hatte, „Pamir" und fuhr hinaus auf den See.

    Als ich 11 war, brach die größte Katastrophe meines Lebens über mich herein. Meine Eltern zogen nach Bayern. Ich wusste noch nicht einmal, wo das war! Und wir Kinder mussten mit. Ich musste meinen Hund Moritz zurücklassen und mein Boot „Pamir 2. Und den See!!! „Dafür gibt es in Bayern Berge, versuchte meine Mutter mich zu trösten. Jetzt war für mich klar: So bald wie möglich weg von hier und auf See!

    Es gab in Bayern doch einige Seen. Und in Bayern lernte ich auch schwimmen. Nicht, dass ich inzwischen eingesehen hatte, dass man schwimmen können muss, um Seemann zu werden (ein Schornsteinfeger kann ja auch nicht fliegen). Nein. Es ging um 5 Mark, die ich unbedingt brauchte. Das reicht noch bis in die Zeit in Haltern zurück. Ich erinnerte mich, dass der Vater uns 5 Mark versprochen hatte, wenn wir schwimmen könnten. Was sollte ich damals mit 5 Mark? Mein Bruder bekam sie. Jemand nahm ihn an eine Art Angel, wie einen Fisch. Mit einem Gurt um den Bauch hing er daran. Da zappelte er nun, schluckte Wasser und hustete, während ich aus meinem Versteck unter dem Bootssteg zusah. Jetzt brauchte ich aber 5 Mark, weil ich wie meine Freunde eine Luftpistole kaufen wollte. Die kostete 10 Mark. 5 Mark hatte ich schon gespart. Das hatte lang gedauert, bekamen wir jeder nur 50 Pfennig Taschengeld im Monat. Später dann 50 Pfennig pro Woche. Denn wir hatten den Eltern gesagt, dass andere Freunde 1 Mark bekommen. Gab das einen Zirkus! „Was andere machen oder sagen, ist mir egal!, tobte der Vater. Doch so ganz egal schienen ihm die anderen doch nicht zu sein. Wenn mein Bruder und ich nicht in die Kirche gingen, dann hieß es: „Was sollen da die Leute denken! „Aber ihr geht doch auch nicht!, war unsere Antwort. „Das ist etwas ganz anderes! Auch sollten wir wie die anderen zur Beichte gehen. „Aber ihr geht doch auch nicht! „Wir sündigen auch nicht!, war ihre Antwort. Dabei hatten wir im Katechismus- Unterricht gelernt, dass selbst der Papst drei Sünden pro Tag begeht!

    Tauchen konnte ich schon. Ich besaß eine einfache Maske und einen Schnorchel. So tauchte ich mit meinem Freud Walter die Ufer des Herzmannssees ab. Erstaunte über die neue Welt, die sich mir auftat. Wunderte mich über das Knacken der Schilfhalme, wenn diese zerbrachen. Wir gaben uns Rufzeichen, indem wir zwei Kieselsteine aneinander schlugen. Vom Tauchen bis zum Schwimmen war es nur ein kleiner Schritt und bald hatte ich meine 5 Mark...

    Mit dem Rad fuhren wir nach Isny. Das liegt in Baden-Württemberg. Dort bekam ich die Pistole ohne Probleme. In Bayern musste man 18 Jahre alt sein, um eine zu kaufen. Wir spielten meist Cowboy und Sheriff oder Indianer. Ich hatte eine Pistole, war also meist Cowboy. Sheriff waren immer dieselben: die Kinder der 2 Dorfpolizisten. Ich wäre schon gerne Cowboy geworden, ähnlich wie Bauer Nolte in Overath, aber noch lieber Matrose. Mein Bruder wollte Feuerwehrmann werden oder Pilot. Als ich in der Schule einen Aufsatz schreiben sollte: „Was ich einmal werden möchte", vergaß ich meine Vorbehalte gegenüber den Erwachsenen und schrieb auf 16 Seiten über meinen geheimen Wunsch, zur See zu gehen. Prompt kassierte ich einen 6er mit der Begründung, dass das kein richtiger Beruf sei und nur Hirngespinste eines unreifen Buben. Der Lehrer las Zitate aus meinem Aufsatz vor und machte mich zum Gespött der Klasse. NIE würde ich Lehrer werden! Man vertraut sich ihnen an, und sie benutzen es, um einen fertig zu machen. Verräter!

    Aber die schlechte Note passte gut in mein Konzept: Als ich den Eltern sagte, was mein Berufswunsch war, reagierten sie wie der Lehrer, obwohl sie keine Bayern waren. Durch mein schlechtes Zeugnis konnte ich sie überzeugen, dass meine Zukunft nicht intellektuell, sondern handwerklich sein würde. Und sie ließen mich gehen. Eigentlich ist gehen lassen zu schwach ausgedrückt. Mein Vater schmiss mich raus auf immer und ewig, während meine Mutter mich weinend zum Zug begleitete. „Pass gut auf dich auf, mein Junge!", waren ihre letzten Worte, als der Zug sich in Bewegung setzte. Ich hing am offenen Fenster und winkte, bis sie im Dunkel zurückblieb. So. Das wäre geschafft. Der erste Schritt zur Freiheit, zum wahren Leben!

    *

    Der Zug ratterte die ganze Nacht. Am Vormittag kam ich in Bremen an. Ein Fahrgast, mit dem ich mich unterhalten hatte, sagte, wenn ich im Zug bliebe, könne ich über Bremerhaven fahren und vom Zug aus gut das Segelschiff „Schulschiff Deutschland" sehen. Aber außer ein paar Masten sah ich nichts. Vielleicht hatte ich auf der falschen Seite rausgeschaut... Zudem musste ich 5 Mark 50 Zuschlag für den Umweg zahlen, obwohl ich beteuerte, das Aussteigen verschlafen zu haben.

    Die Seemannsschule, die ich besuchen sollte, um mich auf meinen Beruf vorzubereiten, lag in Bremervörde, an der Oste (nicht Ostsee, wie ich zuerst dachte, als ich die Einschreibformulare für die Seemannsschule erhalten hatte), einem kleinen Flüsschen, das unweit von Cuxhaven in die Elbe mündet. Am Bahnhof wartete ein Schüler, der schon früher angereist war, auf all die Neuen, um sie zur Schule zu führen.

    Das war ein Backsteingebäude mit zwei Seitenflügeln. Dahinter ragte ein hoher Mast empor, wie auf einem Segelschiff. Dann musste jeder von uns zur Einschreibung ins Büro. Anstatt der erwarteten Begrüßung gab's einen Anpfiff. Man hatte mich schon mit einem früheren Zug erwartet.

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    Die Postkarte, die ich Muttern schickte

    Was mir denn einfiele, mit Verspätung zu kommen. „Ich bin aus Versehen in einen anderen Zug eingestiegen usw.". Ich sah, dass es auch hier zwecklos war, mit Erwachsenen normal zu reden. Vielleicht brauchten sie nur Freiwillige zum Kartoffelschälen; denn das war es, was die Verspätung mir einbrachte: eine Woche Kartoffelschäldienst! Na ja; jemand muss es ja machen. Zu meinem Glück waren wir drei Auserwählte. 50 Schüler plus die Offiziere, das gab einiges an Kartoffeln... Ich kannte den Barras nicht, den Militärdienst, war ja erst 16. Aber ich stellte mir vor, dass es dort ebenso herging wie hier. Brüllen, Befehle, Strammstehen und „Jawoll" sagen.

    Wir wurden in zwei Gruppen eingeteilt: die Steuerbordwache und die Backbordwache. Wenn mehr Schülerandrang war, kam noch eine Mittelwache dazu. Die Zimmereinteilung ging schnell vor sich. Alphabetisch. 8 Jungens pro Raum in 4 Stockbetten. Dann ging es ans Bettenbauen, d. h. Beziehen. Dabei bemerkten wir, dass alle Matratzen, egal wie wir sie auch drehen mochten (außer hochkant), Blutflecken hatten. Hatte hier ein Massenmord stattgefunden? Nein! Bevor das Haus zur Seemannsschule umfunktioniert wurde, war es ein Mädchenpensionat gewesen. Und neue Matratzen zu kaufen, das war für die Seemannsschule Hamburg nicht drin. Es fehlte an Kohle, also Spendengeldern. So hatte unsere Schule also beide Extreme gekannt. Erst rein weiblich - jetzt voll männlich. Manchmal lagen wir mit Phantasmen in den Kojen (Betten) und stellten uns die Vorbeliegerin unserer Matratzen vor. Versuchten, die Zeit zurückzustellen... Als der Wachoffizier die gerade von uns bezogenen Betten inspizierte, flog erst mal wieder alles raus. „So baut man keine Betten, seid wohl alle Muttersöhnchen?!" Einer, der vorher bei der Bundeswehr war, musste uns das genau zeigen. Zu unserem Glück zeigte er uns auch die Tricks, als der Offizier gegangen war, das nächste Zimmer zu inspizieren: vier Knoten in die Ecken des Lakens, und alles war glatt!

    Dann ging es an die Einteilung der Unterrichtsräume: Die erste Hälfte des Alphabetes bekam den Steuerbord-Raum, die zweite den Backbord-Raum. Das Schrankeinräumen ging nicht so schnell. Je drei Schüler hatten einen Schrank gemeinsam hier im Klassenzimmer. In die rechte Hälfte hängten wir unsere besseren Sachen auf Kleiderbügel. Das ging fast anstandslos. Linkerhand hatten wir jeder zwei Ablagefächer übereinander. Da flog alles so schön von Muttern zusammengefaltete wieder im Bogen hinaus und landete auf dem Boden. „Nochmal neu! Aber richtig diesmal! Natürlich war es auch dieses Mal nicht richtig. Die Taschentücher mussten rechteckig gefaltet werden, nicht quadratisch. Die Hemden so, dass die Ärmel innen lagen, der Kragen obenauf. Alles auf eine bestimmte Breite. So viel Mühe wir uns auch gaben, so oft flog alles wieder hinaus. Ein paar Schüler wurden sauer. „Nix als Schikane! Das waren die nächsten Anwärter zum Kartoffelschälen. Mir kam das alles eher vor wie ein lebensgroßes Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Glaubst du, du hast es geschafft, wirst du wieder geschmissen. Nur nicht ernst nehmen, dachte ich mir. Sonst bist du hier nicht am richtigen Platz! Das machten uns auch die Offiziere klar: „Wir haben euch nicht gerufen! Ihr seid es, die zur See fahren wollt! Und da geht nichts ohne gewisse Regeln. Und die müsst ihr erst mal lernen!"

    Erschien uns vieles als Willkür, so sahen wir spätestens an Bord, dass manches berechtigt gewesen war. Bedingt durch die Enge entstanden dort viele Probleme, die es an Land nicht gibt. Hier fand schon eine Auswahl statt, fast ein Eignungstest. Auch mussten wir lernen, eine Order bedingungslos auszuführen. Es hatte keinen Zweck, uns dagegenzustellen. Wir sollten ja fähig werden, in extremen Situationen zu arbeiten und zu überleben. Eines stand für uns alle fest: Von unseren Eltern hätten wir uns auf diese Weise nicht behandeln lassen! Nie!

    Unterrichtsräume, Speisesaal, Küche und Büros befanden sich im Erdgeschoss. Im Obergeschoss, über dem Speisesaal, wohnte der Kapitän. Im Hauptflügel lagen beidseitig des langen Flurs unsere Kammern und die Waschräume, von denen die Innentüren fehlten. Die Klos waren offen, die Duschen ohne Vorhänge. Im Seitenflügel befanden sich die Kammern der Offiziere, die in der Schule wohnten, wenn sie zusätzlich Nachtdienst hatten. Manche von ihnen wohnten in der Stadt. Im Dachgeschoss lagerten wir unsere Koffer. Im Keller befanden sich der Heizraum und Koksvorrat, die Waschküche und der Takelkeller, das Reich des Bootsmanns Papendieck.

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    Der Mast im Hof der Schule

    Wir dachten zu Anfang, dass die Türen der Toiletten und die Vorhänge nur zum Überholen entfernt sind. Doch das war Dauerzustand! Daran musste man sich erst mal gewöhnen, zu zehnt nackt unter den Duschen zu stehen oder für alle sichtbar auf den Klos aneinandergereiht sein Geschäft zu erledigen. Für wohl alle war dies anfangs die schwerste Probe. Alles nackt. Kurze Schwänze, lange Schwänze. Nur keinen hochkriegen! Da würde die ganze Meute was zum Lachen haben! Wenn sich etwas anfing zu regen, dann lieber schnell auf ein Klo, wenn eines frei war, und ihn zwischen den Beinen einklemmen, bis er wieder hängt... Diente dies alles zur Erziehung zur Gleichgültigkeit, oder war es, um zu verhindern, dass zwei Gleichveranlagte sich treffen konnten? Vielleicht beides. Klar, dass die Schüchternen unter uns, zu denen auch ich gehörte, lieber duschen gingen, wenn weniger da waren. Oder aufs Klo. Aber mit der Zeit wurde uns das egal. Und das Duschen wurde zu einem der unterhaltsamsten Momente des Tages, wo wir mal ohne Aufsicht waren und ungehindert Witze machen konnten. Ohne Aufsicht? Ich glaube, die beste Aufsicht ist die Masse. Sind wir alle!

    Natürlich gab es welche, die der Schulleitung hinterbrachten, was sie gehört hatten, was sie gesehen hatten. Wer, was, wann, wie und wo. Das merkten wir morgens beim Rapport. Wir alle mussten vor dem Frühstück im Hof in Reih und Glied („nicht vergessen!") antreten. Vor dem hohen Mast. Wir standen, Hände auf dem Rücken, Offiziere und Kapitän rechte Hand grüßend zur Mütze gehoben, während die Deutschlandflagge langsam in die Gaffel stieg. Wehe, der Posten, der die Flagge hisste, verhedderte die Leine, war zu schnell oder zu langsam! War das Tuch oben, wurde für uns die Sache ernst. „Moin, Jungs!, sagte der Kapitän. „Guten Morgen, Herr Kapitän!, riefen wir, die Hände auf dem Rücken. Ja nie in den Taschen. „Hände weg vom Bändsel!, hieß es dann, „Einmal rund um die Kartoffel! Anfangs war es leicht, „Freiwillige für Küche oder Klo zu finden. Es genügte, dass die zwei Streifen unserer Pudelmütze nicht gerade waren oder nicht ganz sichtbar. Fest steht, dass die Anzahl der Bestrafungen immer der Zahl der notwendigen Hilfskräfte entsprach. Dann rief der Kapitän: „Vortreten zum Rapport!, und es war an denjenigen vorzutreten, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, oder der Kapitän rief Namen auf. Man wusste nie, ob man dabei war. Es hagelte Bestrafungen, Mahnungen, manchmal Drohungen von Schulverweisung. Zum Glück fing danach bald der Unterricht an.

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    Unterrichtsraum Steuerbordwache

    Als die Betten bezogen waren, die Schränke eingeräumt, und wir unsere Arbeitskleidung erhalten hatten, mussten wir den Rest der Wäsche in den Koffern auf dem Dachboden verstauen. Jedes Wäschestück hatte zuhause mit unseren Namen markiert werden müssen. Wie viele Muttertränen sind dabei geflossen? Geld und Wertvolles waren in den Koffern verboten. Kein Problem für mich. Ich hatte keines. Einmal pro Woche konnten wir unter Offiziersaufsicht da hoch, uns was rausholen oder umtauschen. Das vorgesehene Taschengeld mussten wir bei der Sekretärin im Büro deponieren, wo wir später jede Woche etwas abholen konnten. Klar, dass manche Geld in den Koffern hatten oder anderswo versteckten. Aber wie schon gesagt, die Kriecher hinterbrachten alles. Das war die schwache Seite dieses Informationssystems: Einem Hinterbringer würde es später an Bord dreckig gehen. Auch schaffte es Misstrauen unter uns und verhinderte anfangs das Bilden eines Gemeinschaftsgefühls.

    Wir waren 8 Leute bei Tisch zum Essen plus ein Backschafter, der die Kellnerfunktion innehatte. Dieser holte die Töpfe und Schüsseln an der Essensausgabe ab und bediente seine Gruppe. 2 von uns waren Offiziersbackschafter. Die Backschafter aßen vor den anderen. 2 weitere halfen in der Küche, 2 hatten Spüldienst. Jede Woche wechselte die Gruppe. Nur die „Straftäter" hatten eine zusätzliche ‚Ehrenaufgabe‘, meist Kartoffeln oder Toilette. Die Kammern sauber halten, war Aufgabe der Bewohner. Kontrolliert wurde vom Ausbildungsoffizier.

    Wir hatten das Dreiwachensystem an der Schule. Wie auf einem Schiff auf großer Fahrt. Dadurch, dass die ‚Mittelwache‘ (die dritte Gruppe, wenn bei anderen Kursen viel mehr Schüler da waren) fehlte, war die Posteneinteilung komplizierter. Aber das tüftelten die Offiziere aus. Wir waren nur Ausführende. Da war der Posten „Tor. Der stand hinter dem Gartentor am Straßeneingang. Er empfing die Besucher und führte sie in den Flur, wo sie der Posten „Flur übernahm. Dieser brachte die Gäste ins Büro oder Küche, wenn es Lieferanten waren. Als Posten musste man immer die Hände auf dem Rücken haben. Wehe, einer rauchte! Freiwillige wurden immer gesucht!

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    Magnetkompass im Flur der Schule

    Der Posten „Flur hatte seinen Standplatz beim Kompasshaus im Flur. Der dritte Posten war der Posten „Bootshafen, der 500 Meter weiter bei den Rettungsbooten Wache schob. Da war es ruhig, und eine Zigarette war möglich. Alle 80 Minuten wechselte man sich ab. Das erlaubte es den Außenposten, sich etwas aufzuwärmen. Wir befanden uns im Oktober. Anfangs war das Wetter noch gut. Aber je näher Weihnachten rückte, desto kälter wurden die Tage und das Postenstehen umso härter. Wir gingen Wache von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends. „Freut euch! Auf dem Schiff müsst ihr auch nachts raus!, hieß es zum Trost. Die Posten waren vom Unterricht befreit, mussten aber zusehen, wie sie den Stoff nachholten. Der einzige, der keine Wache schieben musste, war Gerd. Er hatte die breitesten Schultern von uns allen und war der Größte. Er war ein guter Kamerad, lachte gern. Er war zum Heizer unserer Schiffer-Schule ernannt worden, weil er Erfahrung im Umgang mit Heizungen hatte (er hatte als Installateur gearbeitet). Da konnte er auch mal den Unterricht verlassen, um nachzulegen. „Die Maschine muss laufen! Dort unten vor dem Kokshaufen rauchte er seine Zigaretten und las Romane.

    Unsere „Dienstkleidung" bestand, (von oben nach unten) aus der Pudelmütze (Pudel genannt). Hatten wir sie nicht auf dem Kopf, musste sie vorne in der Tasche unserer Latzhose stecken, die unser Hauptbekleidungsstück war. Anfangs kamen wir uns wie Pinguine vor, wenn wir uns in dem blauen Teil sahen. Das Gute daran war die Anzahl der Taschen. Die Enden der Träger mussten wir nach jedem Waschen neu annähen. Sauberes Taschentuch war Pflicht. Alle trugen wir das gleiche khakifarbene Hemd, die oberen zwei Knöpfe offen. Auf der linken Schulter war das Wahrzeichen der Seemannsschule Hamburg aufgenäht: ein wappenartiges Emblem, rot auf weiß, mit einem Kreuzknoten darauf und den Buchstaben SH (Seemannsschule Hamburg). Unter diesem Hemd trugen wir bei kaltem Wetter einen dunkelblauen Marinepullover mit Reißverschluss-Rollkragen. Dieser Reißverschluss musste ebenfalls offen sein, und der Kragen des Pullovers musste genau auf dem Hemdkragen aufliegen. Die Wahl der Unterhose war frei, vorausgesetzt, unser Name war angenäht; ob von Muttern oder Freundin war egal. Unsere nicht etikettierten Füße steckten in etikettierten Socken und diese in schwarzen Lederturnschuhen mit heller Sohle. So waren wir ausgestattet, um uns auf das Abenteuer Seefahrt vorzubereiten.

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    Steuerbordwache

    (v.l.n.r: Klosterreit, Bendick, Jensen, Knaak, Danhel, Förster, Kohlmorgen - Endres, Ciboch, Kammel, Jahnke, Bergmann, Feurig, Giebel, Klötzer, Buck – Hallmann, Kammerlander, Doleisch, Kessler (‚Morphi‘), Batliner

    Gleich zu Anfang ging es darum, aus unseren Reihen den Wachältesten zu wählen. Der Vorschlag der Schulleitung war Hans für die Steuerbordwache. Er war Stabsunteroffizier beim Bund gewesen. Er konnte ebenso gut Orders geben wie die Offiziere, war gewohnt, angebellt zu werden und in die andere Richtung weiterzubellen. Wir akzeptierten ihn in geheimer Wahl. Die Backbordwache entschied sich für Peter, der war ein großer Typ und sehr kollegial.

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    Backbordwache

    (v.l.n.r: Lange, Müller, Lehner, Pursche, Sindermann, Rietz, Ostermann, Meier, Langstroh – Zimmermann, Tröndlin, Petri, Mommert, Techentin, Schade, Steincke, Räthke – Zink, Tschakert, Mandl, Szybalski, Strecker, Tschinkel

    Kapitän Neugebauer, von gedrungener Person, war der Master next God, Herr über Sein und Nichtsein an unserer Schule. Er paradierte mit einem deutschen Schäferhund an kurzer Leine. Wir fragten uns, wer von den beiden der Bissigste war. Es hieß, er sei früher auf Segelschiffen gefahren, sogar als Kapitän. Er war sich seiner Aura von Autorität bewusst. Außer beim morgendlichen Rapport blieb er weitgehend im Hintergrund. Seine Frau, die wir selten sahen, erschien uns ein bisschen aufgetakelt. Wir vermuteten, dass sie im Hause die vier Streifen trug.

    Den zweiten Rang bekleidete Erster Offizier Wulf. Er war es, der unsere ganze Mannschaft morgens dem Kapitän klar zum Rapport meldete. Er war es, der im Alltag die Schule leitete, sich auch um das Administrative kümmerte. Unterricht gab er nur beschränkt, meist bestimmte Fächer, wie Schiffskunde. Manchmal war er ein bisschen brummelig, doch wir mochten ihn.

    Wir von der Steuerbordwache hatten Schönfeld als Ausbilder. Einen ehemaligen Hamburg-Süd-Fahrer, der aus familiären Gründen die Seefahrt gegen die Seemannsschule eingetauscht hatte. Er hatte einen sechsjährigen Sohn. Er besaß Autorität, war gerecht und konnte es sich leisten, Witze in den Lehrstoff einzubauen. Wir mochten ihn. Das Tragische war, dass gegen Mitte der Schulzeit seine Frau Selbstmord beging… Dann war da Möller, der Ausbilder der Mittelwache. Er machte den Springer, wenn einer der beiden anderen Offiziere ausfiel. Er war oft mit uns im Hafen, bei den Bootsmanövern. Der Ausbilder der Backbordwache war Peters. Er war ein richtiger Seemann. Er spielte Akkordeon und trank, war manchmal ein bisschen launisch.

    Derjenige, der alle überragte, an Größe, Stimmkraft und Sprüchen war Bootsmann Papendieck, „mit über hundertjähriger Erfahrung! Er war das Unikum der Schule. Schon lange in Rente, er war immerhin 72, tat er seinen Job mit Überzeugung und Spaß. Sein Hauptspruch, den wir mehrmals täglich zu hören bekamen, war: „Ein Seemann kann alles! Wiederhole! Laut seinen Erzählungen (wir bekamen einige zu hören während der drei Monate!) war er in Douala, Kamerun, lange Zeit Hafenmeister gewesen. Ihm unterstand damals ein Heer vor schwarzen Arbeitern, die er vielleicht nicht mit der Peitsche, aber doch mit strenger Hand regierte. In seinem Büro lag ein großer Steinklotz. Jeder der angestellt werden wollte, musste diesen als Prüfung hochheben. Oft seien diejenigen, die Arbeit suchten, nachts in sein Büro geschlichen, um zu versuchen, den Klotz zu heben. So hätten sie trainiert, bevor sie vorstellig wurden. Wie bereute er, diesen Steinklotz nicht in unserem Takelkeller zu haben! Da würde man schnell sehen, wer zur Seefahrt geeignet sei und er bräuchte sich nicht mit dieser Bande von Schlappschwänzen rumzuärgern!

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    Ausbildungsoffizier Peter Schönfeld

    Oft entblößte er vor uns seine oberschenkeldicken Arme, zeigte uns seine Muskeln und sagte „Muscheln! Kann sehn? Er hatte Hände wie Pratzen, würde man in Bayern sagen. Wie Pranken und Tatzen in einem. Wie Unkraut-Ex. Wo die hinfassten, wuchs kein Gras mehr! Nichts liebte er mehr, als sich von uns zu einer Kraftprobe herausfordern zu lassen. Manchmal sogar gegen zwei gleichzeitig! Ob beim Armdrücken, beim Heben (er hob zwei von uns zugleich in die Luft), oder beim Begegnen im Flur (wer nicht auswich, landete an der Wand). „Muscheln, kann sehn? Und damit uns allen solche Muscheln wuchsen, damit aus uns Schlappschwänzen mal steife Seebären wurden, gab es morgens zum Frühstück „Muschelsuppe. Das war Haferbrei mit Milch. Das mussten alle essen. „Keine Diskussion! Das war sozusagen unsere Grundspeise. Danach gab's noch belegte Brote.

    In der Küche herrschte Frau Grewer. Große Klappe, derb in ihren Ausdrücken. Wir vermuteten, sie sei eine ehemalige Nutte. Ihre Zunge war einfach zu freiläufig, selbst für uns junge Kerle, die an Kraftausdrücken nie sparten. Samstags kochte sie ihre Wäsche in unserem Muschelsuppentopf! Diejenigen, die gerade Küchendienst hatten, waren baff, als sie das sahen. Mit dem Kochlöffel rührte sie ihre Wäsche und hängte sie dann draußen auf, was uns Anlass zu weiteren Phantasmen gab.

    Morgens um halb sieben (im Sommer sechs Uhr) knallte die Zimmertür auf und das Licht ging an. „Reise, reise, reise (vom engl. „to rise) nach alter Seemanns Weise! Ein jeder stößt den Nächsten an, der Letzte weckt sich selber! Dieser Weckruf stammte aus der Segelschiffszeit, als alle noch in Hängematten schliefen. Diese reichten immer nur für die Hälfte der Besatzung (Freiwache), aus Platzgründen. Die andere Hälfte war an Deck oder in den Masten beim Arbeiten. Da die Hängematten dicht an dicht aufgehängt waren, reichte es, die erste fest anzustoßen, diese stieß an die nächste etc. Der Letzte stieß gegen das Schott, die Wand. Manchmal wurde der Weckruf auch abgekürzt: „Reise, reise, reise, raus aus der Scheiße!" Wer da nicht gleich aus der Koje sprang, kriegte Ärger. Waschen, anziehen, Betten bauen, Kammer aufklaren. Sieben Uhr antreten zum Rapport, halb acht Frühstück, acht Uhr Unterricht.

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    Bootsmann Papendieck

    Der theoretische Unterricht fand vormittags statt. An Stoff mangelte es nicht. Von Schiffskunde ging es über Ladung zur Geographie, Sicherheit, Signalkunde, Morsen, von da zur Flaggenkunde und Klassifizierung. Alles, was mit der christlichen Seefahrt zu tun hat, wurde behandelt. Für mich war alles völlig neu, und ich langweilte mich nie.

    PAPENDIECK

    Dreimal die Woche war Bootsmanöver. Dazu ging die ganze Wache zum Hafen am Ufer der Oste. Der bestand aus einem hohen, hölzernen Steg, auf dem die Rettungsboote hingen, und einer betonierten Rampe, auf der man die Dinghis zu Wasser lassen konnte. Dies waren kleine Holzboote, worauf man auch ein kleines Segel setzen konnte. Wir benutzten sie hauptsächlich, um Wriggen zu lernen, sich mit einem einzigen Ruder am Heck vorwärts zu bewegen. Das bedarf großer Geschicklichkeit. Durch meine Kindheit am Wasser konnte ich das schon, und ich war stolz darauf, den anderen mal etwas zeigen zu können!

    Unsere Hauptaufgabe war, die Prüfung zum Rettungsbootsmann vorzubereiten und zu bestehen. Das bedeutete erst mal, mit allen Handgriffen vertraut zu werden, um ein Boot zu Wasser zu lassen. Und dann in einer Gruppe die Leute einzuteilen und die Kommandos zu geben, um das Boot schnell und sicher einsatzbereit zu haben.

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    Am Hafen

    Im Unterricht hatten wir schon von den verschiedenen Davitsarten (Rettungsbootsaufhängungen) gehört. Hier waren sie vor uns. Einer der zwei Kutter hing in einem Spindeldavit, der andere in einem Schwerkraftdavit. Es gab noch eine dritte Art, die wir hier nicht besaßen, den Schwingdavit. Diesen findet man nur noch auf alten Segelschiffen. Sie bestehen aus zwei drehbar auf Deck befestigten galgenförmigen Armen, an denen an Taljen (Seilzügen) das Rettungsboot überm Deck hängt. Durch Vor- und Rückwärtsschieben des hängenden Bootes kann man diese Davits außenbords schwenken, um das Boot zu Wasser zu lassen. Da diese Art langwierig ist und bei Schlagseite schier unmöglich (Untergang der Pamir), ist auf Neubauten nur noch der Schwerkraftdavit erlaubt.

    Der Spindeldavit besteht aus zwei ausschwenkbaren Armen, in denen das Rettungsboot ruht. Einmal die Sicherungslaschen los, werden diese Arme mittels Spindeln (Stangen, die mit einem Schneckengewinde versehen sind) durch Kurbeln ausgeschwenkt. So schwebt das Boot langsam ins Freie und kann zu Wasser gefiert werden. Eine etwas langwierige Sache, denn es bleibt einem bei Seenot oft nur wenig Zeit! Deshalb kommt auf neueren Schiffen nur noch der Schwerkraftdavit zur Anwendung. Bei diesem reicht es, die Sicherung frei zu machen und die Fliehkraftbremse zu lösen. Durch die Konstruktion bedingt und durch das Gewicht des Rettungsbootes klappen die Arme aus und das Boot ist in kürzester Zeit im Wasser. Zwei Leute müssen sich mindestens im Rettungsboot befinden, um die Taljen auszuhaken. Über dem Boot hängen an einem Stag mehrere Manntaue (Seile mit Knoten drin) zur Sicherheit der Männer im niedergehenden Boot.

    Mit viel Zeit und viel Gebrüll lernte auch der urigste Bergler alle Handgriffe und alle Befehle auswendig: „Antreten zum Bootsmanöver, „Klar zum Bootsmanöver und so fort. So lernten wir, wie es später in unserem Alltag sein würde: Du bekommst eine Order, wiederholst sie, führst sie aus und meldest die Ausführung. Nur so sind Missverständnisse weitgehend auszuschließen.

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    Links Spindeldavit – rechts Schwerkraftdavit

    Das Boot zu Wasser lassen, das ist das eine. Etwas anderes ist es, es zu bewegen. Zum Glück konnte ich schon rudern. Aber rudern alleine ist was ganz anderes als rudern zu zwölft! Da war der Bootsführer. Anfangs Papendieck oder ein Offizier. Der stand am Steuer und gab den Takt an, oft indem er mit der herausgezogenen Ruderpinne auf die Ducht (Sitzbank) schlug. Wir saßen, je zwei nebeneinander, auf unseren Duchten, die schweren hölzernen Riemen mit beiden Händen an der verjüngten Stelle haltend. Auf dem Dollbord (dem oberen Rand des Bootes) lag das Ruder in seiner Gabel, der Dolle. Das Wichtigste ist, dass alle im gleichen Takt arbeiten. Anfangs glichen unsere Ruderversuche eher einer außer Kontrolle geratenen Windmühle. Holz schlug auf Holz, Wasser spritzte, ein Riemen glitt aus den Händen und entfernte sich langsam auf der Oste. Papendieck lief rot an, benannte uns mit allen möglichen Primatennamen. Doch langsam kam ein Anfang von Ordnung in die Sache. „1-2-3-4. „1 war die Riemen in waagerechter Stellung nach vorn zu bewegen, d. h., wir bewegten die Griffe der Ruder nach hinten. „2" war drehen der Ruderblätter auf senkrecht und eintauchen. „3 war wegholen, so fest wie möglich ziehen. „4 Riemen aus Wasser und waagerecht drehen. Und dann das Ganze nochmal und nochmal und nochmal. Immer fester, immer schneller, immer harmonischer, bis zur Erschöpfung. Bald schon konnten wir stolz auf unsere Fortschritte sein, obwohl Papendieck weiterhin meckerte. Binnen kurzem wurde jede Bootsübung zu einem Wettrennen zwischen den zwei Kuttern. Es stellte sich heraus, dass der andere Kutter immer schneller war. Vielleicht war er leichter oder etwas schnittiger gebaut. Wir waren 6 Paar Ruderer. Die 2 Hintersten hießen die Schlagleute. Das waren die Kräftigsten, sie gaben in der Regel den Schlag an, also den Rhythmus und damit die Geschwindigkeit. Uns blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen, sonst gab es Riemensalat. Am Ende hieß es dann nur noch „eins und! Unsere Ruder flogen, das Wasser schoss quirlend weg, der Kutter jagte vorwärts. Bald dann nur noch „hol – weg! Hol – weg! und unser Bootsmann lachte.

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    Einbringen der Dinghis

    So rasten wir über die Oste, der schwere Kutter, in dem auch ich saß, meist hintendran. Papendieck versprach dem, der den Riemen (Ruder) abriss, 10 Mark, um uns anzufeuern, den anderen Kutter abzuhängen. Gerd, der Heizer, schaffte das zweimal. Das Geld bekam er nie, dafür aber einen Anschiss wegen Beschädigung von Schulmaterial. Manchmal ging unser Rennen bis zu dem kleinen Binnenschiffhafen von Bremervörde. Dann durften wir bremsen. „Halt Wasser!" war das entsprechende Kommando. Oder „Ruder kreuzen!", dann zogen wir die Riemen einwärts, bis die Griffe auf das gegenüberliegende Dollbord zu liegen kamen. „Segelstellung!" Wir drehten sie senkrecht. Das bedeutete eine kleine Pause, in der der Kutter langsam von der Strömung oder vom Wind getrieben wurde. Das ließ uns Zeit, das ruhige Treiben in diesem Minihafen zu beobachten.

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    Ruder an!"

    Bis dann die Order „Riemen klar!" uns aufschreckte, und wir die Ruder schnell in Bereitschaftsstellung brachten. „Ruder an an Steuerbord, streichen (rückwärts) an Backbord! war die Order zum Wendemanöver. Dann wieder Wettfahrt bis zum Landungssteg. Befehle wie „Ruder ein! oder „Ruder aufrecht!" lockerten das mühsame Rudern auf. „Ruder ein!" oder „Lass laufen! Aber nicht in die Hose!" waren die Kommandos, wenn sich die Kutter zu nahe kamen oder wenn wir uns zum Anlegen vorbereiteten. Das Anstrengendste stand uns jetzt bevor: Das Aufhieven der Kutter in die Davits und diese dann einschwenken. Dieses artete natürlich in ein Wettkurbeln zwischen den 2 Kutterbesatzungen aus. Als ginge es um unser Leben, gaben wir dabei unser Äußerstes. Wir trieben dieses Spiel bis zur Erschöpfung, nur um Erster zu sein, oder einen neuen Zeitrekord aufzustellen. Denn all diese Manöver wurden unter Kontrolle von Stoppuhren ausgeführt.

    Einmal hatte es länger geregnet, und die sonst so gemütliche Oste drohte über die Ufer und Deiche zu treten. Ein Teil von uns Schülern füllte am Hafen Sandsäcke auf, wir fuhren sie unter strömenden Regen in den Kuttern zu den Stellen, wo das Wasser überschwappte. Dort warfen wir sie an Land, wo sie von den Landhelfern an die gefährdeten Stellen gepackt wurden. Da kamen wir uns endlich mal nützlich vor. Wir waren völlig durch, bis auf die Haut. Wie tat das da gut, als uns die Landleute aus ihrer Thermosflasche einen steifen Grog servierten!

    Ein andermal, es war auch Hochwasser, aber keine Überschwemmung, ruderten wir wie üblich. Nur hatten wir es geschafft, endlich mal den anderen Kutter achteraus zu lassen. Papendieck zog die Ruderpinne aus der Halterung und drehte sich zu dem knapp hinter uns fahrenden Boot um. Er schwenkte die Pinne in der Luft, begann einen Freudentanz, während er die anderen mit exotischen Vogelnamen beschimpfte. Da ja beim Rudern alle den Rücken nach vorne haben, folglich die Augen nach hinten, sahen weder wir, noch unser tanzender Bootsführer, dass unser Kutter unter die einzige Brücke glitt, die in der Gegend die Oste überspannte. Wir bemerkten plötzlich ihren Schatten über uns, und schon knallte Papendieck mit dem Hinterkopf dagegen! Fast wäre er über Bord gegangen. „Der ist hinüber!", dachten wir. Zum Glück reagierten die Schlagleute schnell. Sie ließen ihre Riemen sausen, sprangen auf den Bootsmann und zogen ihn zurück ins Boot. Nur seine Mütze trieb auf dem Fluss. Aber Papendieck war zäh. Hatte eine Katze 7 Leben, so besaß er mindestens 8. Trotzdem blieb ihm eine gute Weile die Luft weg. Dann endlich tat er einen Atemzug. Doch anstatt normal auszuatmen, stieß er eine Salve von Schimpfwörtern hervor, gegen uns, die Schlagleute, die die Riemen hatten aus den Händen gleiten lassen und die verdammte Brücke.

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    Beim Wriggen

    Klar, dass unsere Kutter in keinster Weise einem Rettungsboot entsprachen. Sie besaßen keine Luftkammern, keinen Proviant und andere Ausrüstung. Doch kannten wir alle die Ausrüstung eines Rettungsbootes auswendig. Wozu hätte sonst der Unterricht gedient? Die Segel unserer Kähne lagen im Bootsschuppen. Leider setzten wir sie nur drei Mal. Natürlich gab das gleich wieder eine Regatta. Am Ende des Lehrganges kam ein extra Prüfer von der SBG (Seeberufsgenossenschaft), um unsere Kenntnisse als Rettungsbootsmann zu testen. Klar, dass wir alle den Bootsschein erhielten, die Befähigung zum Führen eines Rettungsbootes. Er ist eine der Voraussetzungen, um überhaupt auf einem Schiff anheuern zu können. „Ein Seemann kann alles! Wiederhole!" Papendieck war stolz auf uns. Und wir auch!

    So verging die Zeit. Freitagabend mussten wir alle in die Waschküche im Keller. Dort befanden sich ineinandergestellt die Baljen, halbe Holzfässer

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