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Pixels Ahnen
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eBook358 Seiten5 Stunden

Pixels Ahnen

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Über dieses E-Book

Eine Geschichte von Müttern und Töchtern, von Waisen und Wunschkindern, die über fünf Generationen von Frauen aus dem alten Europa bis in die Welt des Internets reicht:

Während Alice, die als Mädchen von London nach Neuseeland verschifft wurde, ihre Lebensgeschichte einer jungen Historikerin erzählt, stößt ihre Tochter Joy mithilfe eines Privatdetektivs und einer Computer­hackerin auf Familiengeheimnisse, die mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Wer sind unsere Ahnen? Was prägt uns im Leben? Wessen Kinder sind wir?
SpracheDeutsch
Herausgeberedition fünf
Erscheinungsdatum24. Aug. 2014
ISBN9783942374637
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    Buchvorschau

    Pixels Ahnen - Beryl Fletcher

    Press

    1ALICE

    Das erste Problem ist der Kassettenrekorder. Das Mädchen kriegt ihn nicht richtig in Gang. Sie fummelt daran herum, bittet mich, langsam in das Mikrofon zu sprechen, dann spult sie zurück und drückt auf Wiedergabe. Nichts. Sie versucht es erneut. »Geboren wurde ich als Alice Nellie Smallacomb …«

    Meine Stimme klingt komisch. Ich hätte gedacht, sie würde mit dem Alter tiefer, voller. Aber sie quiekt und krächzt wie bei einem Jungen in der Pubertät, und die Worte kommen anders heraus, als sie sich in meinem Kopf anhören. Vielleicht lebe ich schon zu lange in diesem warmen Inselwind. Tiefe Furchen in meiner Haut – und dann dieses dünne Tremolo. Ich hätte nie geglaubt, dass es mit meiner Stimme eher vorbei sein würde als mit mir.

    Ich setzte den Kessel auf, als sie kam. Sie trank zwei Tassen Tee und aß ein gebuttertes pikelet. Aber ich merkte, dass sie es kaum abwarten konnte anzufangen. Sie ist ein hübsches Mädchen, sehr schick in ihren kleinen Schnallenschuhen und mit den feinen silbernen Tupfern in ihren schwarzen Strümpfen.

    Sie erzählt mir, dass sie die Lebensgeschichten alter Frauen sammelt, die in den dreißiger Jahren aus Großbritannien hierher gekommen sind. »Hier ist Ihr Geld, Alice«, sagt sie. »In bar, und jedes Mal, wenn Sie in den Kassettenrekorder sprechen, gebe ich Ihnen weitere fünfhundert.«

    Ich hätte mir nie träumen lassen, dass meine gesprochenen Worte irgendeinen Wert haben. Zehn Fünfzigdollarscheine, jeder mit einem Glitzerfaden. Ich falte sie sorgfältig, voller Ehrfurcht. Dann bekomme ich Angst. Ich giere nach diesem Geld. Es gibt so viele Dinge, die ich brauche. Ich werde versuchen, meine Lebensgeschichte so weit wie möglich auszuspinnen. Aber was ist, wenn ich ihr nicht gebe, was sie will? Was, wenn sie meine Geschichte langweilig findet?

    Das Mädchen gibt dem Kassettenrekorder einen Klaps, dann spricht sie Datum und Uhrzeit ins Mikrofon. Und es schallt zurück, klar wie eine Glocke. Ihre Stimme klingt jung und frisch. Sie ist eins von diesen selbstbewussten, gebildeten Mädchen. Angst haben die vor gar nichts.

    »Werden Sie mir Fragen stellen?«, will ich wissen.

    »So wenige wie möglich. Ich möchte Ihre Geschichte in Ihren eigenen Worten hören. Vielleicht könnten wir mit Erinnerungen an Ihre Kindheit beginnen.«

    Wie kann ich ihr meine frühen Jahre verständlich machen? Ich bin seit fünfundsiebzig Jahren am Leben. Es ist, als schaute man über einen gewaltigen, düsteren Ozean hinweg auf eine einzelne Kerze, die am Rande des Horizonts eben flackernd ausgehen will. Tote Zeit, erstarrt in Geschichte. So zumindest wird es ihr erscheinen. Ich weiß nicht, ob sie mir glauben kann, dass ich das absolute Gedächtnis für jedes wichtige Gespräch und Ereignis in meinem Leben habe. Es ist noch zu früh, ihr von meinem System zur Speicherung von Erinnerungen zu erzählen. Womöglich hält sie mich für verrückt mit meinem Gerede über Glasperlen und Kaleidoskope und chiffrierte Farben, Rot für Leben, Weiß für Tod, Schwarz für Erneuerung.

    »Wo soll ich anfangen?«

    »Am Anfang, wo Sie geboren wurden und so weiter.«

    »Geboren wurde ich als Alice Nellie Smallacomb. Meine Mutter war bei meiner Geburt erst fünfzehn, und ich weiß auch, wer mein Vater ist. Er war auch erst fünfzehn und hieß Nigel Warrington. Später wurde er ein berühmter Rechtsanwalt, dann Richter. Sie war nicht mit ihm verheiratet, das erlaubten seine Eltern nicht. Sie fanden, sie sei von zu niederer Herkunft. Mit elf Jahren war sie bei ihnen als Küchenmädchen in Stellung gegangen. Also waren meine Großeltern ihr Herr und ihre Herrin. Mein Vater war ihr einziger Sohn, damals ein Schuljunge. Meine Mutter durfte bleiben, als sie versprach, nie jemandem zu erzählen, wessen Kind ich war. Sie musste ein Dokument unterschreiben, in dem stand, sie sei beim Maitanz von einem Fremden verführt worden.«

    »Das muss hart für Sie gewesen sein.«

    »In mancher Hinsicht war es meine glücklichste Zeit. Meine Mutter vergötterte mich und Mrs Warrington versorgte mich mit Kleidung. Sie suchte Kleider und Schürzen und die am wenigsten abgetragenen Stiefel aus dem Zeug heraus, das sie für ihre diversen Wohltätigkeitsvereine sammelte. Einmal schenkte sie mir einen kleinen Muff aus echtem Pelz, der mir an einer Lederschnur um den Hals hing.

    Mrs Warrington schaute mir gern beim Spielen zu, ohne mich merken zu lassen, dass sie da war. Aber das Rascheln ihrer langen Röcke verriet sie. Ich drehte mich dann ganz plötzlich um und versuchte, sie zu erwischen. Ich dachte, es wäre eine Art Spiel, das Damen mit kleinen Mädchen spielen. Als ich älter war, wurde ich manchmal in ihr privates Wohnzimmer gebracht und durfte mit einigen ihrer Schätze spielen. Ich erinnere mich an einen Satz schwarz lackierter Kästchen, die ineinander passten, ein Kaleidoskop, das unendliche Netze aus Glasfäden spann, und einen Kristallanhänger, der winzige Punkte blendender Farbe aufblitzen ließ. Sie saß währenddessen kerzengerade in ihrem hochlehnigen Sessel und guckte mich an, ohne zu sprechen. Ich erinnere mich ganz deutlich an ihre blassblauen Augen. Sie hatte solche großen, irgendwie zitternden Augen, mit denen sie immer aussah, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.«

    »Hat sie sich jemals zu Ihnen bekannt?«

    »Nur einmal. Sie war sehr fromm und kultiviert und legte großen Wert auf gute Manieren. Guten Morgen, Alice, pflegte sie zu sagen. Ich bete dafür, dass du dich benimmst. Ich musste einen kleinen Knicks vor ihr machen, meine Unterröcke und Röcke so von mir weghalten und mich verbeugen. Sie muss furchtbar gelitten haben, als ihr klarwurde, dass ihr einziger Sohn meine Mutter in Schwierigkeiten gebracht hatte. Aber ich erinnere mich, dass ich das Gefühl hatte, ihr ziemlich wichtig zu sein. Manchmal holte sie mir zusätzliche Leckerbissen aus der Küche. Die Köchin billigte das gar nicht. Sie wartete immer, bis die Herrin gegangen war, und fragte dann das Küchenmädchen in spitzem Ton, warum eine gewisse junge Dame wohl so bevorzugt wurde. Obwohl ich zu klein war, um zu verstehen, was sie meinte, schämte ich mich und fühlte mich schmutzig. Ich wusste, dass ich etwas Schlimmes angestellt hatte, nur wusste ich nicht, was.

    Meine Lieblingsleckerei waren Marmeladentaschen, die aus übrig gebliebenem Mürbeteig gemacht wurden. Die Herrin hob sie, knusprig und heiß und samt auslaufender Erdbeermarmelade, mit einer Silberzange vom Blech. Sie drohte mir mit dem Finger und flüsterte: Erzähl deiner Mutter nichts. Oh, dieser warme, süße Geschmack, der mir dann in den Mund lief.

    Die Erinnerung daran, wie ich in ihrem Wohnzimmer spielte, verfolgte mich noch lange. Die fragilen Fäden des Kaleidoskops setzten sich in meinem Kopf zu einem bestimmten Muster zusammen. Diagonale Umrisse ausgefüllt von Glasperlen in der Form bunter Tränen. Dieses Muster sollte für all das stehen, was mir bald schon versagt sein würde, die Gegenstände und Gefühle, die mit ihrem wunderschönen Haus verknüpft waren: die Wärme des Kaminfeuers, ihre raschelnden Seidenkleider, die Sicherheit, genau zu wissen, was ich zu tun hatte. Jedes Ding an seinem Platz, ein Platz für jedes Ding.

    In den kommenden verzweifelten Jahren beschwor ich ein Bild des Kaleidoskopmusters herauf, wann immer ich glaubte, vor Verlangen zu vergehen, und sang lautlos: Ich habe es gesehen, ich habe es wirklich gesehen …

    Es war eine gute Zeit dort, in dem großen Haus bei den Warringtons. Das Licht hatte etwas Wunderbares, es veränderte sich mit der Tageszeit. Morgens war es Kerzenschein. Die Zimmer der Dienstboten hatten kein elektrisches Licht. Ich sehe heute noch, wie meiner Mutter das lange, feine Haar über den molligen Rücken fiel, während sie sich in der Porzellanschüssel das Gesicht wusch und ihren zitternden Körper mit kaltem Wasser bespritzte. Die Flamme flackerte auf ihrem rosigen Gesicht. Sie war so stark und gesund. Ich lag im warmen Bett und schaute zu, wie sie ihre Uniform anzog. Alles war schwarz-weiß, eine Rüschenschürze, ein gestärktes Häubchen und schwarze Schnürschuhe. Ich fand sie sehr schön.

    An nebligen Morgen dann der Geruch der Schwefelhölzer, die meine Mutter an dem Eisenrost rieb, um das Kohlenfeuer im Herd zu entzünden, der grüne Schein der Kohlenanzünder, die gelbe Pfütze unter der Lampe, die an einer langen Schnur über dem geschrubbten Küchentisch hing. Ich erinnere mich an die glänzende Schale der Äpfel, die das Küchenmädchen in langen, lockigen Spiralen abschälte, die gelben Eier, die in die sahnige Butter und den Zucker in der Rührschüssel geschlagen wurden, den zu dicken, hohen Laibern gekneteten Teig und die glasierten Brötchen, die von Rosinen und Orangeat strotzten.

    Abends, nachdem der Tisch ein letztes Mal geschrubbt worden war und meine Mutter das Feuer für den Morgen angelegt hatte, kam sie in unser Zimmer und zündete die Kerze für uns an. Ich durfte sie nie selbst anzünden. Meine Mutter sagte, sie hätte mich nicht auf die Welt gebracht, damit ich bei lebendigem Leib verbrannte. So lag ich stundenlang im Dunkeln, furchtlos, und dachte an sie.

    Das einzige echte Problem war der Herr. Ich hatte schreckliche Angst vor ihm und achtete darauf, möglichst nicht in sein Blickfeld zu geraten. Er war groß und hatte eine dröhnende Stimme. Er war das, was man früher einen Gentleman nannte, sehr reich dank einer Erbschaft.«

    »Wie haben die Herrschaften Ihre Mutter behandelt?«

    »Sie hat sich nie beklagt. Sie hat immer gesagt: Wir haben Glück, solches Glück. Erst später habe ich gemerkt, wie recht sie hatte.«

    »Was ist passiert?«

    »Die Herrin wurde sehr krank, wir erfuhren nie, was ihr fehlte. Sie hatte monatelang furchtbare Schmerzen. Meine arme Mutter war völlig erschöpft davon, sie neben all ihren anderen Pflichten versorgen zu müssen. Eines Abends quälte sich die Herrin die Treppe in den Keller herunter, wo meine Mutter und ich uns ein Bett teilten. Meine Mutter war oben in der Küche beschäftigt, und ich war ganz allein. Die alte Dame tauchte neben meinem Bett auf, wo ich bibbernd unter den Decken lag. Es war eine frostkalte Nacht mitten im Winter.

    Sie packte mich mit ihren dürren Händen und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Ihr Atem roch nach Veilchenpastillen. Sie erschreckte mich mit ihren starren Augen und dem hageren Gesicht. Ich sagte: Gehen Sie wieder nach oben, bitte, bitte, Madam, ich werde Ihnen helfen. Und dann sagte sie: Vergiss deine Omi nicht, vergiss mich nicht …

    Ich war entsetzt. Ich dachte, meine Omi sei die alte Dame, zu der meine Mutter mich manchmal mitnahm. Sie lebte in einem uralten Gebäude voll alter Frauen und feuchter, saurer Gerüche. Ich hatte ein bisschen Angst vor ihr. Manchmal gab sie mir einen Kuss, schaute mich eindringlich an und nannte mich ihre Süße. Andere Male sprach sie scharf mit mir und schalt mich eine kleine Plage. Aber meine Mutter ging immer wieder hin. Viel später fand ich heraus, dass die alte Dame in Wirklichkeit meine Urgroßmutter und die einzige Verwandte meiner Mutter war, die noch mit ihr redete, nachdem sie in Schwierigkeiten geraten war.«

    »Wo wohnte sie?«

    »In einem grässlichen Haus, Ziegel und geschwärzter Stein, winzige Zimmer im Erdgeschoss, jedes mit einem kleinen vergitterten Fenster und einer Holztür. Da saßen die alten Damen dann vor diesen grünen Türen auf Küchenstühlen, jede für sich, die starren weißen Gesichter himmelwärts gerichtet …«

    Ich halte inne. Draußen vor meiner Wohnanlage fällt sachter Frühlingsregen. Der Rasen, den meine Tochter Joy letzte Woche ausgesät hat, zeigt sich bereits als spärlicher grüner Flaum. Ich habe Angst, vor dieser sicher auftretenden Fremden in Tränen auszubrechen. Es ist doch lächerlich, dass ich um jene alte Frau, die schon so lange tot ist, immer noch weinen kann. Ich biete dem Mädchen noch eine Tasse Tee an. Sie sagt nein danke und schaut auf ihre Armbanduhr. Ich verstehe den Wink. Ich bin an Gäste gewöhnt, die es eilig haben.

    »Müssen Sie schon gehen?«

    »Ich habe gleich noch einen Termin.«

    »Hoffentlich sind Sie nicht allzu enttäuscht von meiner Geschichte.«

    Das Mädchen lächelt. »Sie ist genau das, wonach ich gesucht habe.«

    Ich zögere. »Ist sie das Geld wert, das Sie mir gezahlt haben?«

    »Ja, und es wartet noch viel mehr auf Sie. Erzählen Sie mir noch die Geschichte über den Abend zu Ende, als Mrs Warrington sich Ihnen offenbarte?«

    »Wo war ich?«

    »Sie kam in Ihr Zimmer.«

    »Ach ja. Ich erschrak, weil sie mich abküsste. Das war noch nie vorgekommen. Aber obwohl ich erst fünf Jahre alt war, gelang es mir, ihr die geschwungene Holztreppe hoch nach oben in ihr Krankenbett zu helfen. Auf einem kleinen Tisch daneben standen lauter Fläschchen mit Pillen und Tinkturen. Es roch merkwürdig. Sie bat mich, ihr die Stirn mit einem in Essigwasser getränkten Schwamm abzuwischen. Das tat ich, und sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett und murmelte: Danke, mein Liebes, danke.

    Als ich eben ihre Decke glättete, kam der Herr herein und sagte kalt wie Eis: Schaff die Kreatur sofort raus. Oder ich lasse sie verprügeln.

    Meine Mutter erschien in der Tür und schalt mich, weil ich es gewagt hatte, in dieses verbotene Stockwerk zu kommen.

    Ich weinte über die Ungerechtigkeit und versuchte zu erklären, dass die Herrin mich gebeten hatte, ihr nach oben zu helfen. Doch er weigerte sich, mir zuzuhören. Meine Mutter glaubte mir schließlich, das weiß ich. Aber wir hatten bald schlimmere Sorgen. Meine Großmutter starb noch in derselben Nacht, und innerhalb von zwei Tagen erhielten wir unseren Marschbefehl. Wir wurden buchstäblich auf die Straße gesetzt, in den Schnee, und hockten mit unseren Bündeln im Rinnstein. Meine Mutter warf sich ihren Umhang über den Kopf und wiegte sich weinend hin und her, stundenlang. Ich saß einfach da wie gelähmt, fühlte überhaupt nichts. Ich hatte sie noch nie so schluchzen hören. Als es fast schon dunkel war, kam die Köchin die Kellertreppe hochgeschlichen, flüsterte meiner Mutter etwas zu und gab ihr ein Päckchen. Dann sagte sie laut: Ihr müsst jetzt gehen, sonst ruft der Herr den Constable, damit er euch mit Gewalt fortschafft. Ihr stört die Ruhe im Trauerhaus.

    Zu meiner Überraschung trocknete meine Mutter ihre Tränen und sah beinahe fröhlich aus. Sie sagte: Steh auf, wir müssen ein Zimmer für die Nacht suchen. Sie reichte mir eine kleine Provianttasche aus Tuch, die ich über der Schulter tragen konnte, und steckte meine eiskalten Hände in meinen Muff.

    Es kam mir vor, als ob wir uns stundenlang dahinschleppten, bis wir in einer Straße mit lauter gleich schmalen Häusern auf eines mit einem Schild stießen, das hinter die Spitzengardine im Vorderzimmer geklemmt war. Meine Mutter las laut vor, was darauf stand: Zimmer zu vermieten, Nur an berufstätigen Mann, Alkohol verboten. Ach wirklich, sagte sie, das wollen wir doch mal sehen.

    Sie marschierte zur Haustür und schlug mit dem Klopfer an die Metallplatte, rattatata. Bald kam eine winzige Frau an die Tür. Sie hatte einen Buckel und war nicht viel größer als ich. Nach einem kurzen Gespräch, in dessen Verlauf meine Mutter das Päckchen von der Köchin öffnete und einen Fünfpfundschein hervorzog, machte die kleine Dame die Haustür auf und wir gingen hinein. Der zu vermietende Raum erwies sich als das schönste nach vorn gelegene Schlafzimmer. Oh, welche Erleichterung, welche Wärme. Auf dem hohen Doppelbett lag eine braune Samtdecke. Das dunkle Holz von Bett und Kleiderschrank war poliert und glänzte. In der Ecke stand ein Sessel mit Armlehnen und einem Sesselschoner aus Spitze. Die Kommode, eine elegante Ausführung mit Namen Prinzessin, hatte einen rosa Volant, unter dem sich die Schubladen verbargen.

    Unsere neue Vermieterin Mrs Pickens brachte uns ein Tablett mit Tee aufs Zimmer. Meine Mutter sagte: Das ist mal eine Abwechslung, dass uns jemand bedient. Und sie ließ mich die Milch in meinen Tee gießen und gab mir ein Stück Zucker zum Lutschen. Doch nachdem wir unsere nassen Sachen ausgezogen hatten und zu Bett gegangen waren, hörte ich sie wieder weinen, leise, damit sie mich nicht störte.«

    »Sind Sie lange dort geblieben?«

    »Bis das Geld alle war.«

    »Aus dem Päckchen?«

    »Ja. Es waren viele Fünfpfundscheine darin. Und meine Mutter verdiente ab und zu kleine Beträge.«

    »Haben Sie je herausgekriegt, wer Ihnen geholfen hat?«

    »Meine Mutter wollte es mir nicht sagen, aber ich stelle mir gern vor, dass es mein Vater Nigel gewesen ist. Vielleicht empfand er noch etwas für sie.«

    »Es könnte auch von Mr Warrington gewesen sein. Vielleicht hat er Ihre Mutter bezahlt, damit sie nichts verriet.«

    Ich ärgere mich ziemlich über die Wendung des Gesprächs. Ich möchte lieber glauben, dass das Geld von Nigel Warrington stammte, nicht von dem verhassten Herrn. Ich beschließe, das Thema zu wechseln. »Gucken Sie Coronation Street

    Das Mädchen schüttelt den Kopf.

    »Dann wüssten Sie nämlich, wie das Haus aussah, in das wir einzogen. Es war eins von diesen Reihenhäusern. Die waren damals viel schäbiger als heute. So breit wie ein Raum. Ein Schlafzimmer über dem Vorderzimmer, ein Treppenabsatz, ein kleinerer Raum hinten über der Küche, der Dachboden mit einer steilen, schmalen Treppe, ein Keller mit Lehmfußboden und ein paar Steinstufen, die von der Küche hinunterführten. Durch die Hintertür gelangte man in einen Anbau, der die Spülküche beherbergte, und von dort in einen gepflasterten Innenhof, den sich alle Häuser in der Reihe teilten. Sie waren um einen Platz herum angeordnet, wo es einen Wasserhahn gab und einen Abort, den wir alle gemeinsam nutzten.«

    »Sie erinnern sich sehr deutlich daran.«

    »Ich fand es wunderbar dort. So gemütlich nach den großen Räumen bei den Warringtons. Die Vermieterin war streng, aber gutherzig. Ich durfte drinnen keinen Lärm machen und auch nicht herumtollen, aber Mrs Pickens meinte, sie genieße meine Gesellschaft. War sie doch, wie sie es nannte, eine Witwe ohne Anhang. Ich pflegte stundenlang bei ihr zu sitzen, während sie mir Sticken und Nähen beibrachte, Zierdeckchen, Tischgarnituren, Sie wissen schon.«

    »Wie lange haben Sie da gewohnt?«

    »Ungefähr zwei Jahre. Zuerst bekam meine Mutter Arbeit in einer Kosmetikfabrik, wo sie Seife und Schminkzeug verpackte, aber sie wurde entlassen und musste dann wieder im Haushalt arbeiten. Sie versuchte es als Putzfrau, doch das schadete ihrer Gesundheit und war sehr schlecht bezahlt. Meinetwegen kriegte sie keine Stelle mit Wohnung am Arbeitsplatz. Dann, nachdem wir ein paar Monate dort gewesen waren, fing sie an, sich zu verändern.«

    »In welcher Hinsicht?«

    »Sie versuchte nicht mehr, anständig zu wirken. Manchmal blieb sie bis spät nachts weg und kam betrunken nach Hause. Sie schnitt sich das Haar kurz und trug knallroten Lippenstift, den sie am Tag ihrer Entlassung in der Fabrik gestohlen hatte. Sie hatte eine ganze Schachtel voller Siebensachen, die oben auf unserem Kleiderschrank versteckt war. Ausschuss, sagte sie, Sachen, die weggeworfen worden wären, wenn sie sie nicht mitgenommen hätte. Gesichtspuder und eine Lammfellquaste mit silbernem Griff und Tiegel mit Salben und Flaschen mit Rosenwasser und Talkumpuder in geblümten Dosen mit perforierten Metalldeckeln. Es gefiel mir zu gut, wie sie roch.

    Dann, an einem Herbstabend, starb Mrs Pickens. Sie hatte im Vorderzimmer zum ersten Mal Feuer angezündet und mich gebeten, in den Keller hinunterzugehen und ein paar Stücke Kohle zu holen. Ich mühte mich mit dem Kohleneimer die Treppe hinauf so schnell ich konnte. Der Keller war finster und voller Spinnen, und nach Einbruch der Dunkelheit fürchtete ich mich dort. Als ich ins Vorderzimmer zurückkehrte, war sie in ihrem Sessel gestorben. Ich dachte, sie sei eingeschlafen, und nutzte die Gelegenheit, um mit dem Schürhaken herumzuspielen. Das war streng verboten. Sie sagte, das Feuer gehe aus, wenn ich die Kohle zu dünn verstreute. Eine üble, leichtfertige Verschwendung. Und sie hatte Recht, ich verteilte Kohlenstaub und Papierstreifen und Kohlenanzünder so weit, dass das Feuer aufflackerte und erlosch. Ich drehte mich um, starr vor Schreck, sie würde mit mir schimpfen oder gar drohen, meiner Mutter zu berichten, was ich getan hatte.

    Sie war ganz still. Ich schaffte es nicht, sie aufzuwecken. Ich rannte nach nebenan, hämmerte an die Haustür und die dicke, rotbäckige Frau, die dort wohnte, sagte: Deine Mutter müsste man auspeitschen dafür, dass sie dich ganz allein auf diesen Krüppel aufpassen lässt.

    Kurz danach kam meine Mutter nach Hause, fröhlich und lachend und rot im Gesicht, bis sie die Nachbarsfrauen sah, die sich im Vorderzimmer schweigend um den Leichnam sammelten. Sie saß stundenlang neben der Leiche, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Das war das zweite Mal, dass ich meine Mutter so haltlos weinen sah, und ich konnte es nicht ertragen. Mir war nicht klar, dass sie eher unseretwegen als um Mrs Pickens weinte.

    Mrs Pickens hatte einen Neffen, der sie einmal in der Woche zum Tee besuchte. Er kam immer allein. Er trug einen marineblauen Anzug und hatte öliges, in der Mitte gescheiteltes Haar und falsche Zähne, die klickten, wenn er aß. Mrs Pickens nannte ihn eines der Verhängnisse in ihrem Leben. Aber, Alice, sagte sie, er ist das Einzige, was mir als Erinnerung an meine Schwester bleibt, und Blut ist dicker als Wasser. Er ist nun mal ein Kreuz, das ich tragen muss.

    Sie hinterließ ihm ihr kleines Haus, und er zog gleich nach der Beerdigung ein. Meine Mutter musste ihn von vorn bis hinten bedienen. Nach ein, zwei Wochen bot sie ihm die Stirn und sagte, er solle sich seine Mahlzeiten selbst zubereiten. Er behauptete, sie schulde seiner Tante noch dreißig Pfund Miete, und hetzte ihr die Polizei auf den Hals, so dass wir bei Nacht und Nebel ausziehen mussten. Meine Mutter versuchte, es als Abenteuer hinzustellen, aber ich spürte, dass sie furchtbar unter Druck stand.

    Stellen Sie sich das vor, eine junge Frau Anfang zwanzig mit einem siebenjährigen Kind, die nirgends hinkonnte, kein Geld hatte und keine Sozialhilfe, nicht in der Zeit damals, nicht für eine wie sie. Ich hasste sie für das, was sie mir antat. Heute weiß ich, dass sie keine Wahl hatte, doch damals war das eine andere Geschichte. Sie brachte mich an einen schrecklichen Ort, in ein Waisenhaus, und für mich begann ein Alptraum.«

    »Sie hat Sie also im Stich gelassen?«

    »So ist es mir damals vorgekommen.«

    »Haben Sie sie je wiedergesehen?«

    »O ja, wesentlich später. Hier, in Neuseeland.«

    »Sie ist also tatsächlich hergekommen? Das ist ja großartig.«

    Ich bin erstaunt über ihre Reaktion und äußere das auch. Sie fragt mich, ob meine Mutter noch lebt, und ich blaffe sie an. »Natürlich nicht.«

    Ziemlich defensiv sagt sie: »Na ja, es könnte doch sein. Schließlich gibt es Menschen, die neunzig werden.«

    Ich wundere mich, dass sie weiß, wie alt ich bin, dann fällt mir ein, dass sie sich mein Alter und Geburtsdatum aufgeschrieben hat, bevor sie den Kassettenrekorder einschaltete. Und ich habe ihr gesagt, dass meine Mutter mich mit fünfzehn zur Welt brachte. Trotzdem, das hat sie schlau ausgeknobelt. Ich frage mich, warum es sie so interessiert.

    Ich möchte ihr heute nichts mehr erzählen. Hoffentlich habe ich das Richtige getan. Was wird Joy sagen, wenn sie herausfindet, dass ich einer Fremden unsere Familiengeheimnisse verraten habe? »Sie spielen das doch niemandem vor?«, frage ich nervös.

    Das Mädchen packt den Kassettenrekorder ein. »Ich verspreche, dass ich Ihnen alles zeige, was ich schreibe, ehe es veröffentlicht wird. Und ich werde Ihren richtigen Namen nicht ohne Ihre Erlaubnis preisgeben.«

    Ich bin erleichtert über ihre Antwort. Vom vorderen Fenster aus schaue ich zu, wie sie ins Auto steigt. Sie spricht einige Momente lang in ihr Handy, fährt dann den Hügel hinauf. Der Regen hat aufgehört. In einer von Westen aufkommenden Brise rascheln die Frühlingstriebe an dem einzigen Baum in meinem Garten. Mein ganzer Stolz, mein kleine Eiche. Joy hatte mich inständig gebeten, den Baum nicht mitten auf meinen Rasen zu pflanzen. Er wird deine Wohnung verdunkeln, Mutter (so nennt sie mich immer, wenn sie böse auf mich ist), und es wird ein Heidengeld kosten, ihn fällen zu lassen.

    Schon jetzt ist die Eiche einen Meter achtzig groß, genau wie Joy. Wann wohl die erste Eichel fällt? Ich hoffe, es werden noch viele Eicheln fallen, bevor ich sterbe. Mit den kleinen braunen Pfeifen für die Gartenfeen, wie wir früher sagten. In der alten Heimat hat jeder Baum seinen Kobold oder sein Laubteufelchen, ebenso, wie jeder Teich und Fluss seine Wassernixe hat. Ob meine Eiche wohl einen Geist aus dem Norden herlockt? Ob Feen wohl südwärts über schwankende grüne Meere und die heißen Winde der Tropen reisen können, ohne ihre wahre Natur zu verlieren?

    Der Baum steht in gerader Linie vor meiner Haustür. Die Tür hat eine Milchglasscheibe, so dass Licht eindringen kann, von draußen aber nur Schatten sichtbar sind. Zum Schutz Ihrer Privatsphäre und zur Sicherheit, sagen sie mir. Besonders für jemanden in Ihrer Situation, für eine verwundbare alte Dame, die allein lebt.

    Lebt? An manchen Tagen, wenn der Regen heftig trommelnd von den Hügeln im Westen heranfegt, der graue Himmel sich immer weiter nach unten schraubt und ich die neueste Episode der Treulosigkeit meines Körpers zu spüren bekomme, würde ich die Tür am liebsten umkehren, so dass mein Licht nach draußen strömt und die Schatten aus dem Haus verbannt sind.

    Ich mag das Glas nicht. Ich hätte lieber eine Holztür, doch dieses Haus ist nur gemietet und gehört dem Staat. Und man erlaubt den Mietern nicht, grundsätzliche bauliche Veränderungen vorzunehmen. Anstrich und Tapete dürfen ausgewechselt werden, aber nichts Wichtiges, nichts Substanzielles.

    Ich setze den Kessel auf und mache noch eine Tasse Tee. Die pikelets sehen reichlich verloren aus. Ich habe zu viele davon mit Butter bestrichen und jetzt werden sie sicher matschig, bevor ich sie essen kann. Ich sollte nach nebenan gehen und dem armen Wilf welche abgeben, aber ich fühle mich ihm im Moment nicht gewachsen. Er wiederholt sich ständig. Ich weiß, dass er das nicht absichtlich tut, aber es geht mir furchtbar auf die Nerven.

    Wenn er Hausmannskost sieht, legt er wieder los mit Geschichten über seine tote Frau in der blitzblanken Küche in ihrem Farmhaus in Te Awamutu, wo man vom Fußboden hätte essen können. Über all die Preise, die sie Jahr für Jahr bei den Landwirtschaftsausstellungen mit ihren Broten und Marmeladen und Gewürzgurken gewonnen hat. Wilf zufolge konnte niemand ihren Backwaren und Rostbraten und gekochten Obstpuddings das Wasser reichen. Offenbar hat sie ihn fünfzig Jahre lang Tag und Nacht mit Essen vollgestopft.

    Manchmal schaue ich auf seinen gebrechlichen Körper und die fleckige Haut, höre seinen öden Monologen zu und denke: Wozu all die Schinderei und all das Geschlinge? Dann habe ich Schuldgefühle, weil ich so denke. Jedes Leben hat seinen Zweck, sogar das eines traurigen alten Langweilers, der unaufhörlich über längst vergangene Festmähler spricht.

    Ich fühle mich verunsichert. Mit einer Fremden zu reden bringt frischen Wind in alte Vorstellungen. Jedes Mal, wenn ich von früheren Zeiten spreche, verändert sich die Erinnerung daran ein wenig. Es besteht die Gefahr, dass zu viel Reden sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

    Was das Mädchen wohl von mir denken wird, wenn sie das nächste Mal kommt? Joy meint, ich zöge mich zurück in die Düsternis meiner Waisenhausgeschichten, sie sagt, sie gehörten nicht in dieses Jahrhundert. Ich läse zu viele Romane und entnähme die Realität meines Lebens der Literatur. Aber das stimmt nicht.

    Ich war ein Opfer der sogenannten Tugendhaften, die dachten, der Glaube an Gott könne einem Kind eingeprügelt werden. Es ist nicht meine Schuld, dass ich zeitweise in eine Hölle gestürzt wurde, in der es die größte Sünde war, ein Kind der Armut zu sein.

    Ich bin Alice Nellie Winter, geborene Smallacomb, Kind, Mutter, alte Frau und würdige Bewohnerin des

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