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Jonglieren
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eBook399 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Eine Familiengeschichte von Shakespearescher Leichtig­keit: Christina ist kein liebes Mädchen, auch wenn sie es gerne wäre. Ständig muss sie ihre Stachel ausfahren. Vor allem der Vater mit seinen ­extravaganten Ideen geht ihr gegen den Strich. Ihre Mutter hingegen hat zu wenig Biss, und die Großmutter, anfangs ihre liebste Verbündete, ­erweist sich als gnadenlos engstirnig. Nur Pam, ihre Adoptivschwester, liebt sie von Herzen. Kein Wunder, dass ihr Weg zu den Menschen, mit denen sie durchs Leben gehen möchte, nicht geradlinig verläuft.

Im Internat lernen Christina und Pam die beiden Freunde Jago und ­Peter kennen. Allen vieren hat das Leben Schweres mitgegeben. Durch einen tragischen Vorfall werden sie in alle Winde ­zerstreut. Jahre später finden sie sich in Oxford wieder, zu einem Happy End mit glücklichen Paaren. Wer mit wem - das bleibt bis zum Schluss spannend.

1994 zuerst erschienen, war "Jonglieren" in England ein Bestseller, die erste Veröffentlichung in Deutschland folgte 1995. Als Klassikerin weib­licher Erzählkunst findet Barbara Trapido nun ihren Platz bei der edition fünf.
SpracheDeutsch
Herausgeberedition fünf
Erscheinungsdatum24. Aug. 2014
ISBN9783942374606
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  • Bewertung: 4 von 5 Sternen
    4/5
    In diesem Roman wird eine Fülle an Personen eingeführt: Die Familie von Christina, bestehend aus dem Vater Joe, der Mutter Alice, den Schwestern Pam und Christina; die Familie von Jago; die Familie von Peter und andere.Wie in einer Komödie von Shakespeare werden die Figuren in der Luft gehalten, Bällen beim Jonglieren gleich. Hauptperson ist Christina, eine kluge, reflektierte Person, die schon als Kind kritisch über ihre Familienmitglieder denkt. Ihr Aufwachsen und das von Pam, Peter und Jago bilden den Rahmen für diese Erzählung. Dass wir hier eine Komödie lesen, wird im Text betont: Ein Kernstück ist eine Abhandlung der Studentin Christina über Shakespeares Komödien, die die "besseren Tragödien" sind. Denn im Buch passieren die tragischsten Dinge: Das Leben ist eine Tragödie. Und doch können wir eine Komödie daraus machen. So ist das nahezu absurde Zusammenfügen aller losen Enden und Personen am Ende des Buchs natürlich literarisch gesehen eine Huldigung an Shakespeare. Das Ende zeigt, dass die Kunst die unterhaltsameren Bücher schreibt: Denn im Leben könnte man sich diesen Ausgang schwerlich so vorstellen.Das Buch plädiert also für eine Leichtigkeit im Schweren: Lasst uns die Bälle nehmen, die uns das Leben hinwirft, werfen und in der Luft halten. Meine Lieblingsstelle ist daher, als Christina mit ihrer Großmutter über "Herr der Fliegen" spricht:"Das ist doch Mist", sagte sie. "Hast du je versucht, dies Buch zu lesen, Grandma Angie?"Grandma Angie lächelte. "Dein Opa hat es sehr gern gelesen", sagte sie. "Aber ich konnte mit all den kleinen Hobbits und Elfen nicht recht was anfangen.“"Du meinst Herr der Ringe", sagte Christina. "In diesem hier geht es um einen Haufen Jungen, die auf die Jagd gehen und Fische fangen und am Lagerfeuer kochen und sich dann den Krieg erklären.""Dasselbe in Grün", sagte Großmutter Angie. "Wenn du mich fragst, Chrissie, ich lese gern Büche, die ein bisschen weibliche Gesellschaft bieten."
  • Bewertung: 3 von 5 Sternen
    3/5
    I was very much enjoying the book when it ended abruptly, with an ending that was rather contrived in its convolutedness, which detracted from Trapido's fantastic set-up and cast.

Buchvorschau

Jonglieren - Barbara Trapido

Stewart-Liberty.

Erster Teil

HINLEGEN UND AUFSTEHEN

PAM, CHRISTINA UND DER BEINAHE-VATER SICH SCHNEIDENDE KREISE

Als Christina sechs war, ging sie mit ihrem Vater in ein Museum. Dort standen sie eine ganze Weile vor einem Fries vom Kampf der Griechen gegen die Amazonen. Die Griechen waren alles Männer, und die Amazonen waren alles Frauen, aber Christina verstand das nicht richtig. Ihr Vater schien sich sehr für die Frauen zu interessieren, aber sie fand die Männer viel eindrucksvoller. Die nur ganz leicht aus der Vertikalen verschobenen Linien ihrer zum Anmarsch aufgereihten Körper schufen einen eindrucksvollen, geballten Rhythmus, einer steilen Kursivschrift gleich. Die Frauen lagen alle am Boden. Ihre Gesichter waren passiv und die Körper aus so vielen runden Formen gestaltet, dass sich die eckige Geometrie der Männer verbot. Sie lagen anmutig in die Horizontale gegossen als Besiegte da. Mit zurückgeworfenen Köpfen und leicht bekleideten, weichen Körperlinien bildeten sie einen schmiegsamen Gegensatz zu den Männern.

»Wer waren die Amazonen?«, fragte Christina.

»Die Amazonen«, sagte ihr Vater, »waren ein mythisches Volk kriegerischer Frauen. Sie kämpften in den Straßen von Athen gegen die Griechen. Aber sie wurden von Theseus besiegt.«

»Frauen?«, sagte Christina. »Das waren doch keine Frauen!«

»Doch, sicher«, sagte er. »Sie schnitten sich die rechte Brust ab, um besser mit dem Bogen schießen zu können.«

»Das kann doch nicht sein!«, sagte Christina.

»Die Griechen behaupten das aber«, sagte ihr Vater.

Christina schwieg einen Augenblick. Dann kicherte sie. Sie überlegte, ob er sie wie üblich auf den Arm nahm, aber das, was er sagte, erinnerte sie an ihre Großmutter väterlicherseits, die im Auto nicht gern den Gurt anlegte, weil er ihr den Busen einquetschte. Sie hatte sich irgendwann in Neapel ein T-Shirt mit einem aufgedruckten Sicherheitsgurt gekauft, um damit die Polizei zu überlisten, doch leider trug sie nur selten T-Shirts, weil sie ihren Busen zu groß fand.

Christina starrte auf die liegenden Amazonen. »Aber wenn sie nun Zwillinge hatten?«, fragte sie. »Wie konnten sie dann beide stillen?«

Ihr Vater lachte. »Ich glaub nicht, dass sie besonders mütterlich waren.« Die Bemerkung enthielt eine unausgesprochene Ergänzung, die Christina deutlich mithörte. Natürlich nicht – solche Frauen – die in den Straßen kämpften. »Ein Eis, Chrissie?«, fragte er.

»Mal sehen«, sagte Christina, die nicht vorschnell auf ihn eingehen wollte, weil ihr Vater, wie die Griechen, entschieden vertikal war, so dass sie sogar hier im Museum den Eindruck hatte, er sei der Decke näher als dem Fußboden. Das brachte sie auf die vielen Situationen, in denen sie wütend geworden und auf ihn losgegangen war, wobei ihre Fäuste ihm bloß gegen die Beine getrommelt hatten. Er konnte sie immer abschütteln, als kitzelte ihn eine Ameise an den Knien. Sie wunderte sich darüber, dass ihre Schwester Pam irgendwie nie so wütend auf ihn zu werden schien. Wieso eigentlich nicht?

»Chrissie?«, sagte er. »Ein Eis. Ja oder nein?«

Christina schritt in Gedanken einen Regenbogen aus Eissorten ab. Pistazie, Tequila, Schokolade, Banane, Amarenakirsch, Erdbeer, Pfefferminz …

»Mir egal«, sagte sie. »Möchtest du denn ein Eis?«

Ihr Vater kannte dieses Spiel nur zu gut. »Komm mit«, sagte er, nahm sie bei der Hand, und sie gingen zum Café.

Kaum hatte sie nachgegeben, suchte sie erneut die Oberhand zu gewinnen. »Papa, Pam kriegt doch kein Eis, oder? Bloß du und ich.«

»Pam ist nicht hier«, sagte er bestimmt. »Wenn sie mit wäre, würde sie auch eins bekommen.«

Pam und Christina waren Schwestern. Pam war groß und schwarzhaarig, hatte schwere dunkle Augenbrauen und einen brünetten Teint. Christina war klein und blond. Da sie ganz und gar verschieden aussahen und einander im Alter ungewöhnlich nahe waren, wurden sie gemeinhin eher für beste Freundinnen als für Schwestern gehalten. Und beste Freundinnen waren sie meistens auch. Mal mehr, mal weniger. Natürlich gab es Probleme. Unausgesprochene Probleme. Die Mädchen zankten sich nie, weil es nicht möglich war, sich mit Pam zu zanken, deren sanfte Art jeden Streit entschärfte. Das war ein Teil des Problems.

Pam war adoptiert, aber Christina war das leibliche Kind. Man hatte aus Pams Herkunft nie einen Hehl gemacht, und die Mädchen konnten sich auf den Hochzeitsfotos ihrer Eltern sehen, Pam als ein sechs Monate altes Baby in einem Kleidchen aus Baseler Spitze und geknöpften Glacélederschühchen, während Christina noch nichts weiter war als ein dicker Wulst unter dem schräg geschnittenen Satin des wunderschönen cremefarbenen Kleides ihrer Mutter. Ihre Eltern hießen Alice und Joe. Alice war Engländerin, Joe war ein Amerikaner italienischer Abstammung.

Joe hatte das Kleid ausgesucht, und es hatte seiner Vorliebe für Extravaganz und Festlichkeit entsprechend einen Schnitt, der die Tatsache, dass Alice in anderen Umständen war, eher betonte als kaschierte. Es schmiegte sich an die Wölbung ihres Bauchprofils und schuf den Eindruck einer hellen, trägen, hochgestellten Sanddüne. Alice hatte nicht das geringste Interesse an ihrer Garderobe und wäre, wie Joe den Kindern erzählt hatte, mit Sicherheit in Turnschuhen und Sweatshirt vor den Traualtar getreten, wenn man sie gelassen hätte.

Er war viel älter als sie. »Ich war noch ein Kind, als ich geheiratet habe«, sagte Alice bisweilen lachend, wenn Leute sich angesichts der beiden kleinen Mädchen über ihr jugendliches Aussehen äußerten. Man hatte sie mehr als einmal für das Au-pair-Mädchen ihrer eigenen Kinder gehalten.

Christina besaß noch einen zweiten Beweis dafür, dass sie das leibliche Kind ihrer Eltern war. Dabei spielte ein kleiner Geburtsfehler an ihrem Ohrläppchen eine Rolle – ein Knoten, den Christina von klein auf als ihr »Knötchen« bezeichnet hatte. Es war nicht viel größer als ein Mückenstich, aber sein Vorhandensein von Geburt an wurde durch einen Stapel Fotos bezeugt. Da Joe unendlich viele Aufnahmen gemacht hatte, darunter auch einige von der Geburt selbst, war das Knötchen zwangsläufig häufig zu sehen, rosig an ihrem brandneuen linken Ohrläppchen schimmernd.

Als sie noch ein ganz kleines Mädchen war, hatte Christina mit Vorliebe den Ablauf der Geburt vorgeführt, um vor ihrer Schwester aufzutrumpfen. Sie pflegte dabei unter den Rock ihrer Mutter zu tauchen und Alice mit gebieterischer, durch den Stoff gedämpfter Stimme Sätze vorzusprechen:

»Jetzt musst du sagen: ›Huch, ich muss mich hinlegen, weil mein Baby gleich auf die Welt kommt.‹«

»Huch«, sagte Alice dann entgegenkommend. »Mensch, Pam! Ich muss mich jetzt aber wirklich hinlegen, weil mein liebes süßes kleines Baby gleich auf die Welt kommen wird.«

Alice war immer entgegenkommend. Wenn Christina auf diese frühen Kindertage zurückblickte, sah sie ihre Mutter stets in rosiger Stimmung. Sie war blond und trug immer ein Lächeln im Gesicht. Damals war noch nichts von ihrer spitzen Zunge zu merken. Die stellte sich erst einige Jahre später ein. Damals war sie so von Joe bezaubert, dass der Alltag wie ein Tanz war. Es kam ihr vor, als wäre eine höhere Macht erschienen und hätte die Zügel ihres Lebens in die Hand genommen. Joe war wie ein Wirbelwind aufgetaucht und hatte alle ihre Prioritäten fortgeblasen – einschließlich eines genau in jene Zeit fallenden, tiefen Kummers. Denn sie trauerte damals um den Verlust ihrer engsten Freundin, Jem McCrail, und ließ lange Zeit niemanden an sich heran.

Dann waren, beinahe auf einen Schlag, nicht nur Joe, sondern auch die beiden kleinen Mädchen gekommen, die lächerlicherweise fast gleichaltrig waren. Sie waren wie ein wunderschönes neues Hobby; eine unterhaltsame Beigabe – vor allem, da Joe sofort die gute Elisabeth eingestellt hatte, damit sie die viele schwere Arbeit nicht allein bewältigen musste.

Sie lebte, als wäre das Leben ein neues Spiel. Es hatte sich so plötzlich verändert, dass sie das Neue noch immer deutlich spürte. Eben noch war sie eine Studentin in England gewesen, ein englisches Mädchen, das Zehnpennymünzen für den Stromzähler sparte und sich von Nescafé und Toast ernährte, und auf einmal war sie mit Joe am Riverside Drive. Eben noch war sie ganz von ihrem Verlust erfüllt gewesen und hatte sich pflichtschuldig bemüht, in ihrem Innern eine Regung – eine »normale« Gefühlsregung – zu entdecken für die beiden, oder zumindest einen der beiden, netten, aber belanglosen jungen Männer, die mit großer Beharrlichkeit um ihre Zuneigung warben, für die sie aber merkwürdigerweise nicht das Geringste empfand. Und dann war Joe da – Meisterkoch, Büchermensch, Geliebter und Draufgänger – und hatte sie und ihre gesamte Existenz gekapert.

Es war eine Leidenschaft, die sie am Anfang zugleich abstieß und verlockte. Sie wusste noch, wie sie einmal voll Entsetzen zugeschaut hatte, wie er einem lebendigen Hummer mit dem Messer zu Leibe gerückt war, ihn aufgeschlitzt, mit noch leise zuckendem Schwanz gebacken und sein Fleisch anschließend zu einer Sauce für ihre Spaghetti zerstampft hatte.

»Ich möchte«, hatte sie gesagt, »dass du mir versprichst, so etwas nie, nie wieder zu tun.« Aber schon damals war ihr klar, dass seine Anziehungskraft untrennbar mit seinem Talent zum Übermaß verbunden war.

Die Wohnung, in der sie an der Upper West Side lebten, hatte schon vor Alices Ankunft existiert, aber Alice war von ihr so begeistert wie von allem anderen. Sie pflegte im Scherz zu sagen, dass sie aussah, als hätte Bernini hier als Innenarchitekt gearbeitet. Die Atmosphäre von Wandteppichen, Altarbildern und dunklem, reich verziertem Holz überflutete einen. Im Schlafzimmer hing ein vergoldetes umbrisches Kruzifix über ihrem Kopf, und an der Wand gegenüber spielten zwei flatternde Stuckengel Blockflöte. Sie war Welten entfernt von dem durch und durch profanen und eher minimalistischen Domizil ihrer Eltern in Surrey.

Folglich schwebte Alice auf Wolken. Die Mädchen wuchsen in einer aufregenden, wenn auch merkwürdig intensiven häuslichen Atmosphäre auf – in jeder Hinsicht aufregender als die, in der andere Kinder lebten; die Kinder, bei denen Pam und Christina spielten, deren Mütter lediglich ihre gewöhnlichen Vorortshader aushaderten und am Ende langer gewöhnlicher Nachmittage mit durch und durch gewöhnlichen Kindern ihre ganz gewöhnlichen Frustrationen hinausschrien.

»Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um deine Drecksklamotten hinter dir herzuräumen, Maria. Mach, dass du wieder ins Badezimmer kommst, sofort!«

Manchmal, vor allem bei ihren sommerlichen Besuchen in England, wenn sie bei Alices Mutter wohnten, die sie Granny P nannten, hatten Pam und Christina Leute erlebt – ganz normale Menschen in Läden und Zügen –, deren Nörgelvokabular sie in seiner Kleinlichkeit zutiefst erstaunte.

»Kinder mit’m Willn kriegn eins auf die Brilln.« – »Dafür gibts bis Freitag nichts Süßes, Jason.« Einmal, in der Bäckerei bei der Großmutter um die Ecke, wo sie Pam eine Geburtstagstorte kaufen wollten, hatte der Verkäufer gesagt: »Na, was kriegst du denn zum Geburtstag?« Und weil Pam zu schüchtern war, um schnell mit einer Antwort herauszukommen, plärrte er auch schon los: »Zu viel, auf jeden Fall zu viel. Diese Kinder heutzutage!«

Das Leben der Mädchen hatte also eine Menge für sich. Es war turbulent und großzügig. Nach den Maßstäben der meisten Leute war es wie alle Tage Weihnachten. Aber irgendetwas in der Luft machte Christina kribbelig. Irgendwas machte sie kratzbürstig und bissig.

»Es heißt nicht ›liebes süßes kleines Baby‹«, korrigierte sie ärgerlich, noch immer unter Alices Rock, wo sie ihre Geburt spielte. »Es heißt: ›Ob sie wohl mit dem Knötchen am Ohr geboren wird?‹«

Pam hatte kein Knötchen, und sie spielte auch nicht Geborenwerden, weil sie nicht auf dem gleichen Weg auf die Welt gekommen war. In Wahrheit war, jedenfalls in Christinas Augen, Pams Herkunft unendlich viel aufregender. Pam war einige Wochen vor dem Ende des neunten Monats aus dem Bauch ihrer sterbenden Mutter geholt worden. Joe hatte den Mädchen erklärt, dass man schon bei den alten Persern genau die gleiche Operation durchgeführt hatte und dass auch Julius Caesar so ins Leben geholt worden war. Christina wusste, dass Pam, als ihre Mutter im Sterben lag, herausoperiert und gerettet worden war.

Dies gab ihr das Gefühl, Pam habe ihr die Schau gestohlen. Sie wusste nicht nur, dass Pams Mutter ein blendendes, ungeheuer begabtes Mädchen gewesen war, eine sehr vielversprechende junge Frau, und die meistgeliebte, aufregendste und intelligenteste Schulfreundin von Alice, sondern auch, dass Pams Geburt ihre Eltern – da sie vollkommen unterschiedliche Verbindungen zu ihr hatten – zusammengeführt hatte. Ohne Pam hätten sie sich nie kennengelernt, aber so waren sie am Bett von Pams sterbender Mutter zusammengekommen: Alice, weil sie von einem herzzerreißenden Brief alarmiert worden war, und Joe, weil er der Verleger des ersten Romans der sterbenden Frau war.

Christina wusste, dass sich ihre Eltern bei der ersten Begegnung alles andere als gemocht, sondern sich erbittert bekämpft und gestritten hatten – über das Baby und alles Übrige. In ihrem Kopf hatten sich alle Berichte über diese Phase der Bekanntschaft zwischen ihren Eltern mit dem Sommernachtstraum aus Lambs Shakespeare-Geschichtenbuch verquickt, aus dem Joe ihnen abends vor dem Schlafengehen vorlas. Sie wusste, dass der König und die Königin der Elfen sich bitter um den schönen dunklen Knaben gestritten hatten und dass der König Titania einen Wundersaft in die Augen geträufelt hatte. Und sie wusste auch, dass sie hinterher in einem Elfengarten gelegen und einen Traum geträumt hatten, in dem es immer Mittsommer war.

Manchmal überredeten die Mädchen ihre Mutter, ihnen dies alles anstelle der Gutenachtgeschichte zu erzählen. Alice wurde dabei immer ein wenig verlegen und senkte den Blick. Und in ihrer Stimme schwang stets ein Lachen mit.

»Na ja«, sagte sie, »ich fand, dass euer Papa der unangenehmste Mensch war, der mir je im Leben begegnet war. Er war mir richtig zuwider.« Und dann schilderte sie, wie aufdringlich er gewesen war, wie sehr er versucht hatte, sie zu gängeln. »Und hässlich fand ich ihn auch«, sagte sie. »Aber da hatte ich mich natürlich getäuscht.« Sie erzählte, wie er eines Tages im Spätsommer mit Geschenken und Blumen gekommen war, um sie zu einem Picknick einzuladen, und wie er sie im New Forest nicht weit von ihrem Elternhaus nach allen Regeln der Kunst bewirtet hatte.

»Mit Speisen, die so köstlich waren, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief«, sagte sie. »Und er hatte alles selbst zubereitet.«

»Und dann?«, fragte Christina.

»Und«, fuhr Alice fort, »ehe ich michs versah, war ich in ihn verliebt. Er war der einzige Mensch in meinem Leben, der so atemberaubend war wie Pams Mutter. Plötzlich war mir klar, dass ich ihn mehr liebte als jeden andern auf der Welt.«

»Außer Pam«, sagte Christina streitlustig.

»Ja, natürlich«, sagte Alice und strich ihnen die Steppdecken glatt. »Außer Pam.«

»Er muss einen Zaubersaft gehabt haben, Mama«, sagte Christina.

»Wahrscheinlich«, lachte Alice.

»Was gab es zu essen?«, fragten die Mädchen, obwohl sie die Antwort längst kannten. Christina stellte sich immer gern reife, saftstrotzende Melonen und Toast mit Butter vor, der aus Bäumen mit krummen menschlichen Fingern tropfte.

»Tintenfisch«, sagte Alice, »und Kalbsmagen.«

Die Mädchen quietschten vor Lachen und wanden sich unter ihren Steppdecken.

»Igitt!«, riefen sie. »Pfui. Bäh. Tintenfisch! Bloooß nicht!«

Alice gab den Mädchen einen Gutenachtkuss. Dann ging sie zur Tür und knipste das Licht aus.

»Ihr hättet aber keinen Tintenfisch essen sollen«, sagte Christina streng. »Ihr hättet Kentucky Fried Chicken essen sollen.«

Ihre Mutter warf ihr einen Kuss zu. »Ein andermal.«

Christina blinzelte im Dunkeln. Ein andermal. Aber wie sollte es denn je ein anderes Mal geben können? Vielleicht war das der Moment, als Christina ein merkwürdiger Drang ergriff, sich vor der Anziehungskraft dieser verführerischen Iss-mich-trink-mich-Atmosphäre, dieser luxuriösen, verwöhnten Kinderstube – dort im siebten Stock über dem Riverside Drive – zu schützen, einem Drang, der anhielt und zu einem Bestandteil ihres Wesens wurde. Sie merkte nicht, wie er sich in ihr festsetzte, und sie verstand ihn niemals wirklich. Aber er führte unter anderem dazu, dass sie kein Fleisch mehr aß.

Für Christina war ihre Schwester ein Elfenkind, gemacht aus Feenstaub, während sie selbst im Staub des Alltags lebte. Pams Rolle in der Beziehung ihrer Eltern hatte etwas Beunruhigendes. Die Dinge waren auf den Kopf gestellt. Es erschien ihr nicht richtig, dass Pam schon da gewesen war, bevor ihre Eltern zusammenkamen. An der Chronologie war etwas faul. Es machte ihr auf ähnliche Weise zu schaffen wie das, was sie an der Chronologie Gottes und seiner gebenedeiten Mutter störte.

Es fiel Christina nicht leicht, mit der Vorstellung fertigzuwerden, dass Gott vor seiner Mutter da gewesen sein sollte; dass er schon vor der Erschaffung der Welt geplant haben sollte, sie zu seiner Mutter zu machen. Wie konnte überhaupt jemand, dachte sie, und sei es auch der liebe Gott, vor seiner eigenen Mutter da gewesen sein?

Mrs del Nevo war die Erste, die Christina als »Skeptikerin« bezeichnete. Allerdings fügte sie, um die Pille zu versüßen, gleich hinzu, dass der Herr den Skeptikern eine besondere Rolle zugedacht habe, und führte als Beispiel den ungläubigen Thomas an. Mrs del Nevo holte die Kinder jeden Sonntag nach der Lesung aus der Heiligen Schrift aus dem Gottesdienst und verteilte Bilder zum Anmalen. Normalerweise waren es Gestalten aus der Bibel, aber eines schönen Sonntags hatte Mrs del Nevo ein mit Zirkeln gezeichnetes Muster aus drei sich schneidenden Kreisen ausgeteilt. Es stelle die Dreifaltigkeit dar, sagte sie, und das Stück in der Mitte, wo sich alle drei Kreise überlappten, habe mit Gott als drei Personen und Gott in einer Person zu tun. Sie hatte Pam erlaubt, diesen wichtigen zentralen Bereich mit ihrem goldenen Filzstift für besondere Anlässe anzumalen, weil man sich darauf verlassen konnte, dass Pam stets sorgfältig und ordentlich damit umging.

In späteren Jahren fragte sich Christina manchmal, ob ihr von Geburt an ein Teil ihres Gehirns gefehlt hatte oder ob es schlicht dem Einfluss von Granny Ps bodenständigem Materialismus zu verdanken gewesen war, dass sie schon so früh im Leben zur Bilderstürmerin der Sonntagsschule geworden war. Damals hatte sie Ohrenrauschen bekommen. Sie hatte alle drei Kreise mit braunen Augen und gelben Haaren versehen, und fertig war die Heilige Familie. Joseph, Maria und das Kind.

»Wir haben da ein kleines Problem«, hatte Mrs del Nevo hinterher gesagt, als sie Joe und Alice auf dem Platz vor der Kirche ansprach.

Wenn man Granny P fragte, konnte von einem »Problem« keine Rede sein. Für sie war das alles Mumpitz. Sie verstehe nicht, sagte sie, wie ›Mami‹ an einen solchen Blödsinn glauben könne. Offenbar machte sie der Gedanke, dass ein Mann daran glaubte, besonders ärgerlich, während es für ›alte Muttchen‹, die nichts Besseres zu tun hätten, in Ordnung sei. Es war nicht zu übersehen, dass Granny P immer reichlich zu tun hatte. Sie hatte in ihrem Heimatstädtchen jahrelang ein kleines blühendes Unternehmen geführt, und sie war vollkommen unermüdlich, wenn es um das Einkaufen und ihren Garten ging.

Granny P ließ keine Gelegenheit aus, ihren Spott über ihre Tochter und ihren Schwiegersohn zu ergießen. Einmal, so erinnerte sich Christina, hatte sie ihnen ein Foto aus ihrer Lokalzeitung hingehalten, auf dem eine Mutter mit kleinen Drillingen in identischen automatischen Rollstühlen neben einem schnurrbärtigen Würdenträger der Stadt zu sehen war, der einen Scheck in der Größe einer Monopolyschachtel hochhielt.

»Und ich nehme an«, sagte Granny P, »eure Kirche hat eine Erklärung dafür, weshalb es Gott in seiner Weisheit einfällt, dieser armen Frau drei spastische Kinder zu schenken? Nicht etwa eines, wohlbemerkt, sondern drei?«

»Keine Ahnung, Valerie«, schoss Joe scharf zurück. »Wahrscheinlich hat der Vatikan nicht genug Forschungskapazitäten für künstliche Befruchtung.«

Granny P hatte die Bemerkung ignoriert und war zu einer Geschichte über einen Bettler übergegangen, den sie vor längerer Zeit in Goa auf dem Vorplatz der Kathedrale gesehen hatte und der jedem zum Beweis gereicht hätte, sagte sie, dass es keinen Gott geben könne. Er hatte, schien es, weder Arme noch Beine gehabt, abgesehen von einem kleinen Stumpf, den er ihr flehentlich entgegenzustrecken versucht hatte. Granny P hätte ihm am liebsten ihr ganzes Kleingeld gegeben, sagte sie, aber es habe sie »viel zu sehr gegrault«, als dass sie ihm ihr Geld auf den Stumpf hätte legen können.

Dabei müsse Alice es doch wirklich besser wissen, meinte sie, da sie keine »arme irische Hinterwäldlerin« sei, sondern eine diplomierte Oxfordstudentin. Sie habe den ganzen faulen Zauber schlicht mitgeheiratet, als sie Mr Svengali zum Manne genommen habe. Sozusagen als Pauschalangebot.

Granny P hatte ihren Schwiegersohn nicht nur im Verdacht, immer einen Rosenkranz in der Hosentasche zu haben, sie versuchte auch immer wieder ihre Tochter nach anderen, die Einhaltung dieses Glaubenshokuspokus betreffenden Dingen auszuhorchen. So hatte sie zum Beispiel versucht herauszufinden, ob Alice in ihrer Freizeit bisweilen Votivkerzenwachs von alten Eisenleuchtern kratze. Oder ob sie Altartücher stopfe und stärke? Oder wie dieses weiße nachthemdartige Gewand hieß, das die Priester unter ihrem Sonntagsstaat trugen.

»Das ist die Alba«, sagte Alice, ohne allerdings je die Fragen ihrer Mutter zu beantworten. Sie saß nur da und lächelte wie jemand, der Fliegenpilze gegessen hatte.

»Mir tun nur die Kinder leid«, sagte Granny P, »dass sie diesen ganzen faulen Zauber mitmachen müssen.«

Pam hielt nichts von diesen Gesprächen. Sie kletterte für gewöhnlich auf Joes oder Alices Schoß und steckte den Daumen in den Mund. Ihr Herz zerfloss vor Mitleid für den Bettler ohne Beine. Sie betete darum, dass jedermann verstehen möge, dass er – wie die Drillinge im Rollstuhl und alle anderen Krüppel und Aussätzigen und alle Verabscheuten und Verabscheuungswürdigen, alle Opfer und alle Missetäter –, dass sie, dass er, dass wir alle Glieder des Leibes Christi sind.

Christina, die bei Streit und Spannungen aufblühte, genoss alle Gelegenheiten, bei denen sie für ihre Großmutter Partei ergreifen konnte, weil das ihren Vater so wunderbar ärgerte, auch wenn er den Gleichgültigen spielte.

Eines Sonntags, als sie ihrer Großmutter in den letzten Sekunden, bevor die Eltern mit ihr zur Messe aufbrechen wollten, zwei Polo-Pfefferminzbonbons aus der Handtasche geluchst hatte, war es ihr – allerdings nur durch hartnäckiges Schmatzen – gelungen, ihn aus der Reserve zu locken.

»Ich muss schon sagen«, bemerkte Granny P verächtlich. »Ein erwachsener Mann. So viel Palaver um einen kleinen Pfefferminzbonbon. Nicht größer als ein Penny –«

»Mama«, sagte Alice, »Joe ist der Ansicht, dass Chrissie sich enthalten sollte.«

»– und noch dazu mit einem Loch in der Mitte«, vollendete Granny P.

»Na prima«, entgegnete Joe. »Danke für die Aufklärung, Valerie. Jetzt musst du nur noch eine Möglichkeit finden, wie du meiner Tochter das Loch ohne das Drumherum anbieten kannst, und ich bin mehr als glücklich.«

»Joe –«, sagte Alice.

»Und bis dahin«, fuhr er fort, »wäre ich noch glücklicher, wenn du aufhören würdest, meine Kinder zu verziehen.«

»Joe –«, sagte Alice.

»Deine Kinder?«, sagte Granny P spitz. »Verziehen?«

Später – Joe hatte seiner Schwiegermutter einen in eine duftige Schleierkrautwolke gebundenen Strauß Prachtlilien überreicht – hatten sie sich zu einem beklommenen Sonntagsmahl niedergelassen, bei dem er sich befleißigt hatte, den Braten und die Sauce und die Kartoffeln und die Bohnen zu loben, und, ganz besonders, Granny Ps Dessert.

»Meine Güte«, sagte er. »Schaut euch das an, Kinder. Eine Zitronenschaumtorte. Ist das nicht der exquisiteste Nachtisch, den ihr je gesehen habt?«

»Joe«, sagte Alice, als ihre Mutter in die Küche gegangen war, um die Sahne zu holen, »lass gut sein, mein Schatz.«

»Was soll ich gut sein lassen?«

»Du brauchst nicht so tun, als wäre der Nachtisch im Himmel gemacht.«

Die Mädchen kicherten. »Papa ist in die Zitronenschaumtorte verliebt«, sagte Christina. »Er denkt, die Schaumtorte ist seine Freundin. Er will sie küssen. Los, Papa, sei nicht so schüchtern.«

»Und was hab ich jetzt wieder getan?«, fragte Granny P steif, als sie wiederkam. »Oder hab ich Eischnee im Gesicht?« Sie nahm betont würdevoll Platz und stellte den Sahnetopf vor sich auf den Tisch.

»Ach, bitte, Mama, es ist nichts«, sagte Alice. »Nur Chrissie. Sie hat dummes Zeug geredet, das ist alles.«

»Papa will nämlich die Zitronenschaumtorte heiraten«, sagte Christina, »aber das geht nicht, weil er Mama schon hat.«

Granny Ps Stimmung wurde durch das Nachdenken über diese Mitteilung nicht besser. Sie hüllte sich in Schweigen, während die Mädchen weiter zusammen kicherten.

»Chrissie verdient keinen Nachtisch«, sagte Joe. Prompt stellte sich Granny P wie eine Löwin vor die jüngere ihrer Enkeltöchter.

»Mein Engelchen!«, zwitscherte sie. »Mein Häschen, aber natürlich musst du deinen Nachtisch bekommen! Komm zu deinem Omilein, mein Schatz, und hilf mir beim Aufgeben.«

»Ach herrje«, stöhnte Joe. Aber das war alles, was er sagte, als Christina selbstzufrieden zu ihrer Großmutter hüpfte und es sich auf ihrem Schoß bequem machte. Er sah zu, wie sie das große Silbermesser und den Tortenheber in die Hand nahm. Er war Alice zuliebe entschlossen, den Frieden zu bewahren.

Friede sei mit uns.

Pam war kein ungläubiger Thomas. Sie hieß mit zweitem Namen Mary. Ihre Taufnamen waren Pamina Mary. Sie war nach der weiblichen Hauptfigur einer Oper benannt, und sie war an Mariä Himmelfahrt geboren. Sie konnte wunderschön singen und hatte immer schon jeden Ton getroffen. Für Joe war das »Pams besondere Gabe«, und da er extravagante Gesten ebenso liebte wie große Reisen, hatte er eines Sommers, als die Familie Venedig besuchte, eigens die Mädchen in ein Konzert im Ospedale della Pietà geführt, wo Vivaldi seinen Chor der Waisenmädchen ausgebildet hatte.

Die Schwestern waren hingerissen gewesen, und hinterher hatte sich herausgestellt, dass Pam ganze Abschnitte von Vivaldis Gloria auswendig singen konnte, obwohl sie es nur dieses eine Mal gehört hatte. Als Christina hörte, wie Pams Stimme den klaren, melodiösen Kurs durch die unzähligen Träller der Zeile propter magnam gloriam tuam steuerte, musste sie wieder einmal denken, wie schön, wie beneidenswert es wäre, wenn man entdeckte, dass man ein Waisenkind wäre, eine sechsjährige, musikalische orfana.

Der Konzertbesuch hatte unmittelbar vor ihrem alljährlichen Englandaufenthalt im Juli bei Granny P stattgefunden, wo Christina unter Alices noch vorhandenen Kinderbüchern eine Geschichte über ein kleines Mädchen fand, das sie sofort für ein Waisenkind hielt. Das Kind war eine kleine Pariserin. Das war klar, weil sie auf den Bildern am Eiffelturm spazieren ging und an der Notre-Dame und an der ganzen Seine entlang.

Christina identifizierte sich sofort mit der Heldin aus dem Bilderbuch, da diese, wie sie selbst, nicht nur klein für ihr Alter und kess war und zwei kleine Zöpfe hatte, sondern auch pfiffig, vorlaut und vom Pech verfolgt. Sie schlief mit elf anderen kleinen Mädchen in einem Schlafsaal, und sie spazierten mit einer freundlichen Nonne, die den Gendarm dazu veranlasste, die Autos für sie anzuhalten, zu zweit nebeneinander durch die Straßen.

»Ah«, sagte ihre Großmutter im Vorbeigehen. »Du hast Madeleine gefunden. Wie schön. Das war immer eins von Mamis Lieblingsbüchern.«

»Was heißt Waise auf Französisch?«, fragte Christina.

»Ach, du je«, sagte Granny P, »orpheline, glaub ich.«

Christina war hingerissen – so sehr, dass sie, als Joe abends – er hatte tagsüber Verleger in London besucht – nach Hause kam, noch immer in die Seiten vertieft war.

»Hallo, Chrissie«, sagte er, »wie gehts?«

»Ich bin nicht Chrissie. Du musst Madeleine zu mir sagen.«

»Madeleine«, sagte Joe. »Kein Problem. Wie gehts dir, Madeleine?«

»Du musst mich auf Französisch fragen«, sagte Christina, »weil ich eine Französin bin.«

»Aha, eine Französin also.«

Joe war sich deutlich bewusst, dass seine jüngere Tochter ihn herausfordern wollte. Sein Französisch war nicht sehr gut, und er wusste, dass Christina es wusste. Sie wusste es von einem Restaurantbesuch in Paris, bei dem er auf gewisse Schwierigkeiten gestoßen war, als er sich dem Kellner verständlich zu machen versucht hatte. Er hatte dem Kellner erklären wollen, dass Christina kein Fleisch aß.

»Ma fille n’aime pas manger la carne«, sagte Joe.

»Laviande«, verbesserte Alice. »Joe, er versteht dich nicht.«

»Was zum Teufel hast du an carne auszusetzen?«

»Gar nichts«, sagte Alice. »Nur dass es Fahrkarte heißt. Du weißt schon. Carnet. Ein Fahrkartenheft für die Metro. Du hast ihm erklärt, dass deine Tochter keine Fahrkarten isst.«

Es war ein vollkommen logischer Fehler gewesen, fand er, vor allem für jemanden, der Italienisch sprach, aber dank Alice waren die Mädchen so unerträglich albern geworden, dass er sich mit Gewalt hatte durchsetzen müssen.

»Mmm, lecker«, hatte Christina ein ums andere Mal wiederholt und dabei so getan, als wollte sie in ihre Serviette beißen. »Mmm, le-ecker. Fahrscheine, Fahrscheine.«

»Von heute an, Chrissie«, sagte er, »wirst du essen, was ich dir vorsetze.« Er hatte keine Ahnung, dass ihre Stimmung plötzlich in tiefen Ernst umgeschlagen war, weil ihr der Anblick von Tintenfisch und Kalbsmagen vor ihrem geistigen Auge zu schaffen machte.

»Madeleine versteht nur richtiges Französisch«, sagte Christina zu ihm. »Du musst richtig sprechen.«

»Gut, richtiges Französisch«, sagte Joe. »Comment ça va, ma petite Madeleine?«

»Ist das richtiges Französisch?«, fragte Christina.

»Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte er. »Möchtest du, dass ich dich auf Französisch windelweich schlage, Madeleine?«

»Ich bin eine orpheline«, gab sie zur Antwort. »Ich wohn mit vielen anderen orphelines zusammen in Paris. Ich wohn

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