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Die Schwestern Kleh
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eBook336 Seiten4 Stunden

Die Schwestern Kleh

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Über dieses E-Book

Eine Gouvernante blickt zurück auf die Jugend ihrer Zöglinge, der Töchter des Juweliers Kleh in Wien. Mit beiden hat es ein tragisches Ende genommen …

Die Schwestern Irene und Lotte sind einander liebevoll zugetan. Dabei könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Während Irene prädestiniert scheint für ein Leben als Ehefrau und Mutter, träumt die temperamentvolle Lotte zwar von der Liebe, möchte aber vor allem Schauspielerin werden und die Welt bereisen.
Bei Irenes Verlobung begegnen sich der Bräutigam und die schöne Lotte zum ersten Mal. Und sie verlieben sich auf den ersten Blick unsterblich ineinander. Auf Drängen der Gouvernante verleugnen beide ihre Gefühle und gehen getrennte Wege - doch das Schicksal nimmt seinen Lauf.

Elegant erzählt Gina Kaus ein Liebesdrama voller Verstrickungen und Lebenslügen. Dabei spannt sie ihren Bogen von der Jahrhundertwende bis zur Weltwirtschaftskrise. Ein lebendiges Porträt der "Neuen Frau" des frühen 20. Jahrhunderts.
SpracheDeutsch
Herausgeberedition fünf
Erscheinungsdatum24. Aug. 2014
ISBN9783942374552
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    Die Gouvernante "Eula" erzählt die Lebensgeschichte der ihr anvertrauten Schwestern Kleh, Lotte und Irene. Das Buch beginnt im ersten Weltkrieg. Irene, deren Bestreben eine traditionelle Familie ist, verliebt sich in Alexander. Als beide bereits verlobt sind und die Hochzeit vor der Tür steht, lernt er Lotte kennen und beide verlieben sich auf den ersten Blick. Aus Rücksicht auf Irene und die Konventionen gehen sie sich aus dem Weg. Doch niemand wird dadurch so richtig glücklich. Irene spürt, dass Alexander sie nicht wirklich liebt. Lotte stürzt sich in Abenteuer und ein rastloses Leben. Am Ende kommt es zu einer Katastrophe.Die Erzählerin Eula ist der Autorin sehr gut gelungen. Obwohl Gina Kaus wohl eher Lotte ähnlich war, schafft sie es ausgezeichnet, sich in diese ältliche Frau hineinzuversetzen und reflektiert aus deren Sicht das Leben der von ihr innig geliebten Schwestern. Das Buch ist mitreißend und spannend, weil es eine gewisse Ausweglosigkeit aufzeigt, die unausweichlich droht und die man doch so gerne zu verhindern wüsste.Mir gefallen Eulas Reflexionen über das Alter, körperliche Veränderungen usw. Das Buch ist ausgezeichnet geschrieben und zeigt wirklich sehr deutlich auf, wie schwierig es in den "goldenen 20ern" für Frauen war, selbstbestimmt zu leben.Aus den Büchern diese Reihe ist das bisher eins meiner Lieblingsbücher, allerdings auch das erste, bei dem das Nachwort wenig Erhellendes bot.

Buchvorschau

Die Schwestern Kleh - Gina Kaus

Mutter

Erster Teil

1

Ich weiß nicht, ob ich die Geschichte niederschreiben will, um mein Gewissen zu entlasten oder um den elenden leeren Rest meines Daseins auszufüllen – aber es ist auch einerlei: Niemand wird lesen, was ich schreibe, ich werde es an keine Zeitung, an keinen Verlag schicken. Behüte Gott, dass ich auf meine alten Tage eine Schriftstellerin sein und etwa Geld oder Ehre gewinnen wollte mit dem Bericht über das Unglück der beiden Kinder, die mir wie einer Mutter ans Herz gewachsen waren.

Ich werde auch gar nicht in diese Versuchung kommen, denn mir ist jedes Talent versagt. Schon der Beginn macht mir Schwierigkeiten. Womit soll ich anfangen? Die Dichter verstehen es, mit irgendeinem besonders interessanten Augenblick zu beginnen, und dann erfährt man, ohne es zu merken, von allem Vorangegangenen, soweit es notwendig ist. Ich weiß nicht, wie sie das machen.

Soll ich mit jenem Tag beginnen, an dem ich als Gouvernante in das Haus des Juweliers Kleh kam? Damals waren Irene und Lotte kleine Mädchen, fünf und drei Jahre alt, unsäglich rührend in den schwarzen Kleidchen, die sie um ihre tote Mutter trugen. Frau Kleh war im Wochenbett gestorben, sie und der Knabe, den Herr Kleh so innig ersehnt hatte. Es war ein sehr trauriges Haus, in das ich da kam, aber wahrscheinlich war es gerade das, was mich gleich im ersten Augenblick das Gefühl der Fremdheit überwinden ließ: Denn auch ich war damals sehr traurig und dachte oft daran, ein Ende zu machen. Ich war fünfunddreißig Jahre alt geworden und hatte begonnen zu begreifen, dass meine Jugend ungenützt dahingegangen war und dass ich mein Leben als Frau verpasst hatte. Ich war schon zu alt, um noch an ein Wunder zu glauben, und zu jung, um mich abzufinden. Ich hätte damals das Zusammenleben mit einer glücklichen Familie, vor allem aber den Anblick einer glücklichen Mutter, kaum ertragen, während diese beiden schwarz gekleideten kleinen Waisenmädchen sofort eine glühende Zärtlichkeit in mir erweckten – wohl einfach deshalb, weil ich so viel Zärtlichkeit in mir aufgespeichert hatte und glücklich war, sie an Bedürftige verschwenden zu können.

Aber ich sehe, dass ich damit beginne, von mir zu sprechen, und das ist wirklich das Letzte, was ich tun möchte. Über mich, eine gealterte Gouvernante, wie tausend andere, lohnte es sich gerade, irgendetwas zu sagen: Bloß über meine beiden Mädchen und über das, was sie in den letzten Jahren durchgemacht haben, will ich sprechen, und ich sehe bereits, dass ich viel später anfangen muss.

Ich glaube, es ist am besten, ich beginne mit jenem Tag, an dem Lotte und ich den herrlichen Ausflug auf den Hochschwab machten. Nicht dass an jenem Tag etwas Besonderes passiert wäre – aber ich begriff damals zum ersten Mal, dass auch Lotte bereits ein junges Mädchen und kein Kind mehr war.

Wir hatten einen sechsstündigen Marsch hinter uns und rasteten, bereits auf dem Abstieg, am Rand einer Berghalde, die Sonne stand noch sehr hoch, und wir wollten den Rest des gesegneten Augusttages genießen. Dabei hatte ich eigentlich ein schlechtes Gewissen, denn es war Krieg, August 1915, und ich konnte den Gedanken nicht verscheuchen, dass auch in dieser Stunde, da Gottes Sonne so wunderbar auf unsere angenehm ermüdeten Körper brannte, Menschen zu Leichen geschossen und Mütter in abgrundtiefe Verzweiflung gestürzt wurden. Aber es war mir ganz unmöglich, diesen Gedanken auch auf die Kinder auszudehnen. Im Gegenteil: Es dauerte mich unendlich, dass Irene diesen wunderbaren Tag nicht mit uns genießen konnte, weil sie in Bozen weilte, bei Herrn Klehs Schwester, der verwitweten Generalin Hessel, deren Haus seit Kriegsbeginn in ein Spital umgewandelt worden war.

Lotte tauchte beide Hände in die üppige Pflanzenwelt, in der wir mittendrin saßen, rieb sie auseinander, roch daran und hielt sie mir dann an die Nase:

»Weißt du, wonach das riecht, Eula?«

Sie selbst, Lottchen, war es gewesen, die mich so getauft hatte. Als ich ins Haus gekommen war, hatte sie das Wort »Fräulein« noch nicht aussprechen können. Sie hatte »Eula« gesagt, und dabei war es geblieben, auch Irene hatte es angenommen, und sogar Herr Kleh. Mit der Zeit hatte ich vergessen, dass ich einen richtigen Namen habe, auch für mich selbst war ich »Eula« geworden, obwohl es eigentlich gar nicht hübsch klingt und an eine Eule erinnert. Aber das bin ich doch auch, eine alte Eule, die mit erschrockenen Augen alles Unheil kommen sah und es nicht abwenden konnte.

»Das riecht nach Schwämmen«, erklärte Lotte. »Von Mitte August an riechen alle Nadelwälder nach Schwämmen. Und dann riecht es nach Hitze, nach Ende der Ferien, nach Österreich, und ein ganz klein bisschen nach Pfefferminz.«

»Du solltest Chemikerin werden«, lachte ich, »du kannst ja mit deiner Nase allein ein Laboratorium für die kompliziertesten Analysen aufmachen.«

Lotte schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich Chemikerin werde. Nein, alte Eula, das glaube ich nicht.«

»Was denn möchtest du werden?«, fragte ich, und gleichzeitig fiel mir ein, dass es schon merkwürdig genug war, dass ich dies fragte. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, Irene zu fragen, was sie werden wollte. Wie man nicht fragt, was eine Apfelblüte werden mag: Sie wird sich erfüllen, wenn ihre Zeit gekommen ist, sie wird zur Frucht werden, und Irene würde zur Gattin und Mutter werden, niemand, der sie kannte, hätte das bezweifelt.

Aber bei Lotte war das eben etwas anderes. Ich war auch gar nicht verwundert, als sie mit einem wilden und dabei fast harten Gesicht erwiderte:

»Ich möchte etwas – ich möchte wirklich etwas werden!« Ich begriff sofort, dass dies hieß: etwas anderes als Gattin und Mutter. Lotte war ehrgeizig. Nicht gerade in der Schule, sie war eher eine schlechte Schülerin, aber bei Spielen war sie schon als kleines Kind sehr ehrgeizig gewesen, und dann hatte sie immer etwas gesucht, um sich hervorzutun. Sie spielte wunderbar Geige, sie malte ausgezeichnet. Sie las die schwierigsten Bücher.

»Ich möchte etwas Aufregendes werden«, sagte sie, »Schauspielerin möchte ich werden oder Weltreisende.« Ich lachte hell auf über die seltsame Alternative. »Ja, da kannst du lachen, so viel du willst! Aber genau so ist das. Ich möchte die ganze Welt sehen, nicht bloß ein Teilchen davon, und ich möchte alle Menschen bezaubern, nicht bloß einen einzigen, und wenn er auch der herrlichste von allen wäre …«

»Aber Kind«, sagte ich, »du wirst sehr unglücklich werden, wenn du dir so unmögliche Gedanken machst. Und dein Vater würde es dir auch gar nicht erlauben, weder die Schauspielerei noch das Weltreisen. Es gibt doch eine Menge ordentlicher Berufe, die das Leben einer Frau ausfüllen können.«

Ich sehe Lotte ganz deutlich vor mir, so wie sie damals im hohen Grase saß, das runde kräftige Kinn auf die hochgezogenen Knie gestützt und die mageren Hände vor den Schienbeinen verschlungen. Ihr braungebranntes Gesicht mit den kirschrunden Augen glühte. Es glühte nicht von der Hitze und nicht von dem langen Marsch – es glühte von innen. Das ist vielleicht bloß ein ungeschickter Ausdruck von mir, aber es war eben so, dass ich sehr oft, wenn ich Charlotte ansah, ganz gleich ob sie gerade blass oder rot war, den Eindruck hatte, sie glühe.

»Ausfüllt –?«, wiederholte sie, und die Winkel ihres großen, gut geschnittenen Mundes hoben sich ein wenig, das taten sie oft und gaben dem kindlichen Gesicht einen hochmütigen Ausdruck. »Ausfüllt? Das ist es doch nicht, was ich brauche! Ich habe doch hier«, sie tippte auf ihre Brust, »keine Leere. Und hier«, sie tippte auf die Stirn, »auch nicht. Im Gegenteil. Ich glaube, ich habe zu viel – zu viel – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll –«

»Zu viele Pferdekräfte?«, scherzte ich. Lotte nickte ernsthaft. Zu viele Pferdekräfte – das war aber wohl doch bloß ein anderer Ausdruck für: zu viel Sehnsucht. Und Sehnsucht ist doch wieder nichts anderes als der Wunsch nach irgendwas zum Haben und Halten – nach einem Inhalt. Bloß dass diese Sehnsucht bei meinem Lottchen nicht sanft, sozusagen nicht sehnsüchtig war, sondern wild, eine Gewalt, die von innen nach außen drängte.

»Hast du nicht auch etwas Besonderes werden wollen, als du jung warst?«, fragte sie.

Und da wunderte ich mich, weil ich gestehen musste, ja, auch ich hatte das gewollt. Es wunderte mich, ja es kam mir geradezu komisch vor, dass auch ich, die zu hässlich war, um einen Mann zu bekommen, zu unbedeutend, um etwas anderes zu erreichen als einen und immer wieder einen neuen Posten als Gouvernante, – dass selbst ich in Lottchens Alter den Wunsch gehabt hatte, mit Schwingen, die mir nicht gegeben waren, mich über die Köpfe anderer Menschen zu erheben.

Aber warum habe ich eigentlich mit diesem Gespräch auf dem Hochschwab begonnen und nicht mit jenem Tag, eine Woche darauf, an dem wirklich alles, wovon ich hier erzählen will, anfing? Ich weiß es nicht mehr, und da es jetzt schon hier steht, mag es auch stehen bleiben. Wohin käme ich denn, wenn ich anfinge, mein Geschreibsel zu verbessern und zu vervollkommnen? Aber von nun an, das gelobe ich mir, will ich nicht mehr abschweifen und nur das Wichtige und Notwendige erzählen.

Es begann also, wie gesagt, erst eine Woche später. Und zwar damit, dass Herr Kleh mich in sein Arbeitszimmer kommen ließ. Da wusste ich sogleich, dass es etwas Ernstes war. Denn Herrn Klehs Arbeitszimmer – ein schmales Kabinett neben dem eigentlichen Juwelenladen – war heilig, niemand, nicht einmal die Kinder, durften es unaufgefordert betreten, und im Laufe von zwölf Jahren war es nur dreimal vorgekommen, dass ich dahin berufen worden war. Denn hier prüfte Herr Kleh mit einer Lupe im Auge und einer kleinen Waage in der Hand die Perlen und bunten Steine, die er in größeren Mengen ankaufte, hier stellte er sie nach den Zeichnungen seines Goldschmiedes für die einzelnen Schmuckstücke zusammen; manchmal, wenn ein Kunde oder ein Lieferant nebenan ins Geschäft trat, musste er alles das liegenlassen, wie es gerade lag, und er wollte ganz allein die Verantwortung dafür tragen, dass nichts fortkam. So hatte er es uns erklärt, denn er war kein Despot, weiß Gott, dass er das nicht war, und wenn er in irgendwas seinen Willen aufsetzte, dann legte er selbst den größten Wert darauf, ihn zu begründen.

Als ich an jenem 24. August das Arbeitskabinett betrat, saß Herr Kleh an seinem verschlossenen Schreibtisch. Schweigend, mit einer Handbewegung wies er mir einen Stuhl. Schweigend reichte er mir einen Brief.

Ich besah den Stempel. Er war aus Bozen. »Von Irene?«, fragte ich.

»Nein, von meiner Schwester.« Herr Kleh wandte mir den Rücken, er trat an das große Fenster, hinter dem das geringe Treiben der vornehmen Straße war. Er stand ganz still, die Hände in den Rocktaschen, und ich könnte wirklich nicht sagen, woran ich so deutlich sah, dass er unbeschreiblich erregt war. Aber ich spürte es so sehr, dass mein Herz gewissermaßen einfror. Ich wagte es nicht, den Brief zu öffnen.

»Es ist doch nicht …«, stammelte ich, »es ist doch nicht – das Schlimmste –?«

Herr Kleh wandte sich nicht um. »Mein Vater hätte noch gesagt: Es ist das Schlimmste. Aber wir leben in einer anderen Zeit. Vielleicht kann alles noch gut werden.«

Da wusste ich sofort, um was es sich handelte. Sofort. Und am Tag zuvor hätte ich noch jeden für irrsinnig erklärt, der behauptet hätte, es wäre möglich, dass Irene – meine stille, brave, ein wenig schwerfällige Irene – meiner Erziehung solche Schande machen könnte! Die Generalin schrieb auch – obwohl ich ihren Brief damals bloß ein einziges Mal gelesen habe, kann ich ihn fast wörtlich auswendig: »Das habe ich immer gesagt«, schrieb sie, »dass eine Erzieherin nichts Gutes tut, wenn sie Kinder mehr als eine Mutter verzärtelt und anbetet, statt sie energisch in Zucht zu nehmen.«

Aber wie hätte ich denn Irene in Zucht nehmen sollen, Irene, die stets auf das leiseste Wort gehorcht, die alle ihre Pflichten übereifrig erfüllt hatte und die niemals kokett gewesen war?

Zehn Seiten lang war der Brief der Generalin. Alles war ganz ausführlich dargestellt, wie sich Irene verdächtig gemacht und wie sie schließlich ertappt worden war, um zwei Uhr morgens im Bett des Reserveleutnants Alexander Wagner – keine Einzelheit hatte die Schreiberin vergessen, um ihrem Bruder mitzuteilen, was ihn auch mit knappen Worten schwer genug getroffen hätte. Die Generalin liebte große Worte und große Szenen. Sie war in ihrer Jugend, zur Scham und Erbitterung der ganzen Familie, beim Theater gewesen, Talent soll sie keines gehabt haben, aber die schönste Figur ihrer Zeit und etwas, das im Hause Kleh »Raffinement« genannt wurde und worunter wir uns alle nichts Rechtes vorstellen konnten. Immerhin hat sie damit ihr Glück gemacht, die ganz große Partie: Baron Hessel, damals noch Major, aber bereits Erbe eines Riesenvermögens, hat sie geheiratet, und sie wurde über Nacht zu einer überaus sittenstrengen, ehrgeizigen und patriotischen Soldatenfrau. Sie lenkte und beherrschte ihren Mann im Kleinen und Großen – bloß dass er knapp nach Kriegsausbruch starb, unheldenhaft, an einem Magengeschwür, hatte sie nicht verhindern können. Um wenigstens ein bisschen Ruhm mit ihrem Namen zu verbinden, hatte sie mit großen Kosten aus ihrem Schloss ein Kriegsspital gemacht. – Was dieser Frau der Skandal mit Irene bedeutete, war leicht zu ermessen.

»Anständigerweise hat sich der Bursche bereiterklärt, Irene zu heiraten«, hieß es am Schluss ihres Briefes, »er ist in Zivil Architekt und stammt aus München. Von seiner Familie weiß ich nichts Näheres. Das ist wohl auch gegenstandslos. Zum Neinsagen ist es jedenfalls zu spät.«

Ich hatte den Brief fallen gelassen, ich konnte das Weinen nicht länger zurückhalten. Herr Kleh hatte sich endlich umgedreht.

»Das hat keinen Sinn, Eula«, sagte er sehr weich und sehr leise, »das hat gar keinen Sinn, heute schon zu weinen. Vielleicht hat Irene Glück gehabt. Vielleicht ist dieser Herr … dieser Herr Reserveleutnant ein ganz ordentlicher, braver Mann …«

Ich glaubte falsch zu hören. Ein braver Mann – der Schurke, der mein gutes liebes Mädchen verführt hatte? Aber ich wagte keinen Widerspruch. So gütig und sanft Herr Kleh alle Zeit über war, in der ich ihn kannte – ihm zu widersprechen war nahezu unmöglich. Auch die anderen Angestellten des Hauses und auch die Kinder folgten ihm blind, obwohl er selten die Stimme, niemals die Hand gegen sie erhoben hatte. Er besaß, im schönsten Sinne des Wortes, was man Autorität nennt, eine stille und – so seltsam das klingt – beinahe schüchterne Würde.

»Man muss den Krieg bedenken«, sagte er und sah wiederum durch das große Fenster auf die Straße, »die vielen Monate im Schützengraben, ohne Frauen und ohne Zärtlichkeit … und die Nähe des Todes.«

Ich bewunderte Herrn Kleh, weil er so gerecht war, auch dort, wo ihm ein Schmerz zugefügt wurde. Aber ich musste doch daran denken, dass er sich vielleicht weniger in der Gewalt hätte halten können, wenn es sich nicht um Irene, sondern um Lotte gehandelt hätte. Es war niemals davon gesprochen worden, dass Lotte sein Liebling war. Er hatte sie auch niemals bevorzugt, weder war er zärtlicher noch nachsichtiger gegen sie. Trotzdem wusste ich es. Wenn man jahrelang unter einem Dache lebt, genügen winzige, kaum aussprechbare Dinge, um ein solches Wissen zu vermitteln.

»Haben Sie das Postskriptum gelesen?«, fragte Herr Kleh. Ich verneinte. »Irene kommt morgen früh hier an.«

»O Gott«, sagte ich, »was sollen wir Lotte erzählen?«

Er antwortete nicht sogleich. Er ging, die Hände auf dem Rücken, in dem schmalen Raum hin und her. Damals war er noch ein schlanker Mann, der viel jünger aussah, als er in Wirklichkeit war, bloß an den Schläfen waren seine Haare weiß. Er hatte eine gesunde, bräunliche Hautfarbe, leuchtende Augen und sehr schmale, feingliederige Hände. Er war ein sehr schöner Mann, der schönste vielleicht, den ich jemals gesehen habe.

»Ich werde nach München fahren und mich nach der Familie dieses Herrn – dieses Herrn Wagner erkundigen«, sagte er plötzlich. »Ich müsste ohnedies in den nächsten Wochen geschäftlich hinfahren, so werde ich es eben schon morgen tun. Lotte nehme ich mit.«

»Und Irene?«, fragte ich. »Wie soll ich Irene begegnen?«

Er überlegte eine Weile. »Sie werden Irene sagen, dass ich mich genau so benehmen werde, als ob nichts vorgefallen wäre. Wenn mir der Mann gefällt – mag sie ihn haben. Wenn nicht –« Diesen Satz hat er erst am nächsten Morgen zu Ende gesprochen. Als die Koffer bereits gepackt und verschlossen waren und Lotte, selig über die unerwartete Reise, schon im Wagen saß – wir hatten damals einen Monatswagen mit zwei alten, klapperigen Gäulen, weil das Auto vom Kriegsministerium requiriert worden war – und als mir noch einmal die dummen Tränen kamen, da sagte Herr Kleh:

»Wenn dieser Kerl – wirklich nur so ein Kerl ist … es ist nicht zu spät, ›Nein‹ zu sagen. Ich werde nicht zulassen, dass mein Mädel ihr Leben lang an den Folgen einer Dummheit zu tragen hat!«

Das war um halb zehn. Um zehn sollte Irenes Zug einlaufen. Ich musste über eine Viertelstunde zu Fuß gehen, ehe ich auf ein freies Taxi stieß, einen altersschwachen Karren, den sein Chauffeur an jeder Ecke neu ankurbeln musste. Bloß weil auch die Züge in jenen Kriegstagen große Verspätungen hatten, gelang es mir, Irene noch zu erreichen. Gerade als ich vorfuhr, trat sie aus der Halle auf die Straße.

Sie war nicht allein. Neben ihr ging ein Mann in reichsdeutscher Uniform, ein blasser und, wie mir im ersten Augenblick schien, recht unscheinbarer Mann. Auch Irene sah elend aus, ihr Gesicht war beinahe mager geworden, aber unglücklich sah sie nicht aus.

Sie erblickte mich, noch ehe ich aus dem Auto gestiegen war, und lief zu mir. »Wo ist der Vater?«, fragte sie. Ich sagte, der Vater sei für wenige Tage geschäftlich verreist.

»Du hast ihm einen großen Schmerz zugefügt«, konnte ich mich nicht zurückhalten hinzuzufügen. Der Offizier war nun auch an den Wagen getreten.

»Alexander Wagner – mein Bräutigam«, sagte Irene. Ich war sehr verwirrt und verzweifelt, denn darauf war ich nicht gefasst. Herr Kleh hatte mir für diesen Fall keine Verhaltensmaßregeln gegeben. Offenbar hatte auch er nicht mit der Möglichkeit gerechnet, dass Irene ihren Verführer einfach mitbringen würde. Ich sagte zunächst gar nichts, aber ich war fest entschlossen, diesen »Bräutigam« nicht ins Haus zu lassen, ehe Herr Kleh zurückgekehrt war.

Zunächst aber stiegen beide zu mir ins Auto. »Er war auf den Tod verwundet«, erzählte Irene, »eine Schrapnellkugel in der Brust, drei Wochen fast war er bewusstlos vom Fieber.«

»Ohne dieses Mädchen wäre ich gestorben«, sagte der Leutnant und lächelte. Er saß mir gegenüber auf dem Rücksitz, und jetzt sah ich sein Gesicht genau. Es war nicht schön, aber sein Lächeln war sehr schön. Er hatte ein männliches Gesicht mit starken großen Zügen, und sein Lächeln war kindlich und offen. »Sie hat mich wirklich ganz allein gesund gemacht. Die hohe Medizin hatte es aufgegeben.«

Schön hast du es ihr gelohnt, dachte ich.

Seine einzige Schwester lebte in Wien, bei ihr wollte er wohnen. Sie war die Frau des Primarius Winterfeldt, und das beruhigte mich sehr. Winterfeldt hatte doch einen sehr bedeutenden Namen, und ich wusste, dass sein Haus auch gesellschaftlich in gutem Ansehen stand.

Als wir an der Karlskirche vorbeifuhren, stand Wagner auf und blieb stehen, solange das Bauwerk in Sicht war.

»Schön!«, sagte er dann. Ein paar Minuten später sagte er wieder: »Schön!« Das war, als wir in der stillen Straße vor unserem Hause hielten. Ich hatte dieses alte Haus lieb, aber bis dahin hatte ich gar nicht gewusst, dass es ein Barockbau von seltener Stilreinheit war und dass die Reliefs über den Fenstern von Meisterhänden geformt waren.

»Es ist ein bezauberndes Haus!«, sagte Alexander. »Man kann sich gar nicht vorstellen, dass etwas Gemeines, Gewöhnliches in solchem Hause aufwächst.«

»Unsere Familie wohnt seit hundertzwanzig Jahren in diesem Haus«, sagte Irene und strahlte vor Glück, »meine Ahnen waren bürgerliche Uhrmachermeister. Noch mein Großvater stellte die Uhren selbst zusammen …«

Wir verabschiedeten uns. »Ich komme nach dem Essen«, sagte der Leutnant. Ich wollte Einspruch erheben, aber da sagte Irene: »Komm bald!«, und sie sagte das mit einem Ausdruck, der mir durch Mark und Bein ging. Als könne sie die Trennung von ein paar Stunden kaum ertragen. Ihre Nasenflügel bebten. Ich war so erschüttert, dass ich kein Wort über die Lippen brachte.

Irene war überhaupt verzaubert, ich kann es nicht anders ausdrücken. Es fehlte ihr auch jedes Gefühl dafür, dass sie etwas Unrechtes getan hatte.

»Schön, du hast dich verliebt«, sagte ich ihr, »das kann ich ja begreifen. Aber warum habt ihr nicht gewartet, bis ihr verheiratet seid? Wenn du darauf bestanden hättest – so hätte er auch gewartet.«

Sie sah mich ganz verwundert an. »Aber von Heiraten war doch gar nie zwischen uns die Rede. Erst als die Tante dahinterkam und einen so furchtbaren Skandal gemacht hat – da erst hat Alexander gesagt, dass er mich heiraten will!«

Heute, wo ich diese Zeilen niederschreibe, haben sich ja die allgemeinen Anschauungen über die moralischen Verpflichtungen eines jungen Mädchens gewaltig geändert. Vielleicht gibt es heute unter hundert Mädchen kaum eines, das sich ihres Liebhabers schämen wollte. Ich sehe auch ein, dass Irene gerade jener Frauengeneration angehörte, die von der Geschichte dazu bestimmt war, mit dem, was man heute Vorurteile nennt, aufzuräumen.

Aber was ich noch immer nicht begreifen kann, das ist eben dieser einzelne Fall: Irene. Wie waren die Keime der unmoralischen Revolte durch die dicken Mauern unseres alten Barockhauses gedrungen?

»Ich war furchtbar glücklich, als er das sagte«, berichtete sie, »nicht wegen der Heirat. Aber es ist doch ein Beweis, dass er mich liebt, nicht wahr?«

»Mein Gott«, sagte ich, »du weißt nicht einmal sicher, dass er dich liebt –!?«

Sie wurde dunkelrot und ging ins Badezimmer. Ich aber saß neben ihrem geöffneten Koffer und vergaß die Kleider in den Schrank zu tun. Ich dachte an meine eigene Jugend, an den Studenten, den ich so innig geliebt hatte, den einzigen Mann, der mich schöner gefunden hatte als alle anderen Frauen der Welt. Wir hatten lange Spaziergänge gemacht, manchmal waren wir zusammen ins Theater gegangen, zwei-, dreimal vielleicht hatten wir uns geküsst. Und dann waren wir auseinandergegangen, weil wir zum Heiraten kein Geld hatten. Eine sehr einfache Geschichte, und niemals zuvor war mir eingefallen, dass sie ganz anders hätte weitergehen können …

Als Irene aus dem Badezimmer zurückkam, fragte sie: »Wo ist Lotte?« Sie war außer sich, als sie erfuhr, dass Lotte mit dem Vater verreist sei. »War sie denn gar nicht ungeduldig, mich zu sehen?«, fragte sie. »Oder hat sie mir das – das mit Alexander übelgenommen?«

Sie beruhigte sich erst, als ich ihr sagte, Herr Kleh hätte es für gut befunden, Lotte zunächst gar nichts zu erzählen. »Ich glaube, du sollst es ihr auch nach ihrer Rückkehr nicht sagen. Ich meine – es genügt, wenn du ihr sagst, Alexander sei dein Bräutigam. Natürlich würde sie dir nicht übelnehmen, was du getan hast – im Gegenteil: Es besteht die Gefahr, dass es ihr imponiert.«

Ich sah Irene an, dass es ihr schwerfiel, meinen Rat anzunehmen. Die beiden Schwestern liebten einander, wie ich das sonst nur bei Zwillingen gesehen habe, vielleicht kam es daher, dass sie so früh die Mutter verloren hatten. Geheimnisse zwischen ihnen hat es, glaube ich, niemals gegeben. Auch kein Mein und Dein, was die eine bekam, gehörte immer auch der anderen. Trotzdem glaube ich, dass Irenes Schwesterliebe noch weit größer war als die Lottes – vielleicht weil Irene überhaupt liebesfähiger, zärtlicher und mütterlicher war. Eben an dieses Gefühl musste ich mich jetzt wenden: »So etwas kann auch sehr schlecht ausgehen«, sagte ich, »man kann auch an einen unanständigen, leichtfertigen Kerl geraten.«

Schließlich gelang es mir, sie zu überzeugen. Sie versprach zu schweigen. »Du bist ja jetzt kein Backfisch mehr«, ergänzte ich noch, »sondern eine kleine Frau.«

Das war eigentlich nicht das richtige Wort. Irene war, ihrem Äußeren wie ihrem Wesen nach, alles eher als eine »kleine Frau«. Sie war hochgewachsen wie ihr Vater und hatte das Gesicht einer jungen Römerin. Ihre Haut war überall, im Gesicht wie am Körper, von dem gleichen zarten Gelb. Sie wäre eine vollkommene Schönheit gewesen – schöner sogar als Lotte –, wäre nicht alles an ihr um eine unausdrückbare Nuance zu lang gewesen: Sie war um eine Spur zu groß, um anmutig zu sein, ihr Hals, ihre Nase, ihre Hände und Füße – alles war um eine Spur zu lang. Wahrhaft vollendet aber waren ihre Augen und ihr Mund.

Von dem Augenblick an, wo wir mit dem Essen fertig waren, begann sie auf Alexander zu warten, ich erkannte das an ihren zerstreuten Antworten, an den heimlichen Blicken, die sie auf ihre Armbanduhr warf. Von drei Uhr an stand sie am Fenster. Um halb vier fragte sie kleinlaut, ob es möglich sei, dass sie bei Winterfeldts anklingle. Ich fand es unmöglich. Um vier kam Alexander. Er küsste uns beiden sehr höflich die Hand und entschuldigte sich, weil er so spät gekommen sei. Ich sagte, er hätte telefonieren können. Er gestand, nach dem Essen über eine Stunde geschlafen zu haben, die Reise hätte ihn wider Erwarten sehr hergenommen.

»Das war sehr vernünftig«, sagte Irene, »dass du geschlafen hast.«

»Aber vorher hätten Sie telefonieren können«, beharrte ich.

Er dachte einen Augenblick ernsthaft nach und lächelte dann kindlich und offen. »Sie haben Recht«, sagte er, »Sie

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