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Das Lied der Neuen Welt
Das Lied der Neuen Welt
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eBook482 Seiten6 Stunden

Das Lied der Neuen Welt

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Über dieses E-Book

Cleveland, 1905. Als »Neapels Nachtigall« bezaubert die italienische Sängerin Teresa mit ihrer Stimme das Publikum. Allein ihre Tochter Lucia kennt Teresas dunkle Seite, ihr unkontrolliertes Temperament, das sie beide gezwungen hat, aus Italien zu fliehen und ihr Glück in der neuen Welt zu suchen. Doch Lucia will nicht länger der Spielball von Launen sein. In Cleveland findet sie endlich die Kraft, sich zu wehren: Um sich ihren Traum von einem selbstbestimmten Leben und Bildung zu erfüllen, trifft sie eine Entscheidung, die ihr Schicksal und das vieler anderer Menschen für immer verändern wird. 

Ein Must-Read für alle, die vielschichtige Charaktere, starke Frauen und ein realistisches historisches Setting lieben."
Pittsburg Examiner

"Ein großartiger Cast, eine zeitlose Familiengeschichte und ein faszinierendes amerikanisches Gesellschaftsporträt."
Publishers Weekly

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum2. Jan. 2018
ISBN9783959677233
Das Lied der Neuen Welt
Autor

Pamela Schoenewaldt

Pamela Schoenewaldt lebte zehn Jahre in der Nähe von Neapel, was sich in ihren historischen Romanen immer niederschlägt. Auch die Themen Familie, Immigration, Rechte und die menschliche Psyche bilden ihr literarisches Herzstück. Die USA Today-Bestsellerautorin lebt mit ihrem italienischen Ehemann, einem Arzt, in Tennessee.

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    Buchvorschau

    Das Lied der Neuen Welt - Pamela Schoenewaldt

    HarperCollins®

    Copyright © 2018 by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH

    Titel der amerikanischen Originalausgabe:

    Swimming In The Moon

    Copyright © 2013 by Pamela Schoenewaldt

    William Morrow,

    an imprint of HarperCollins Publishers, US

    Published by arrangement with

    HarperCollins Publishers L.L.C., New York

    Covergestaltung: bürosüd, München

    Coverabbildung: Lee Avison / Arcangel,

    Neil Rabinowitz / Getty Images, www.buerosued.de

    Redaktion: Anne Schünemann

    ISBN E-Book 9783959677233

    www.harpercollins.de

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    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    1. KAPITEL

    Singen am Vesuv

    Mittlerweile verbringe ich Stunden in Eisenbahnen oder holpere fröstelnd in geliehenen Model Ts über ausgefahrene Straßen zwischen Städten, die auf gefrorene Felder geworfenen Steinen gleichen. Ich wasche mich an Spülbecken und esse an Imbissständen am Straßenrand; manchmal aber auch von feinen Porzellantellern, gereicht von Damen, die mit mehr Schmuck behängt sind, als ich je besitzen werde. Ich spreche in Salons, Parks, Gasthäusern, Kirchen und gewerkschaftlichen Versammlungshallen im Mittleren Westen. Noch kann ich nicht nach Cleveland zurückkehren.

    „Glaubt mir, ihr könnt gewinnen!", rufe ich denen zu, die von der harten Arbeit in den Fabriken und Mühlen gezeichnet sind. Meine Stimme wird langsam rau und heiser wie das Krächzen einer Krähe. Kaum zu glauben, dass meine Mutter die Nachtigall von Neapel war!

    Ich bitte um ein Glas Wasser, räuspere mich und fahre fort. „Dies ist das Jahr 1913. Euer Leben kann sich verändern. Denkt an eure Kinder. Die Arbeiter starren mich ungläubig an. Als ihre Zweifel die Krallen nach mir ausstrecken, höre ich meine Mutter, die mir zuflüstert: „Lucia, selbst Krähen müssen irgendwann einmal Luft holen. Also atme ich tief durch, stelle mich breitbeinig hin, um mir mehr Halt zu geben, und spreche weiter.

    Wenn mich die Frauen danach dankbar küssen und mir die Männer ihre abgearbeiteten Hände reichen, dann bekommen die Qualen dieses Wegs – die Gefängnispritschen, auf denen ich geschlafen habe; der Verrat von Freunden; der Schmerz um die Geschundenen, denen ich geschworen hatte, es könnte ihnen nichts passieren – einen Sinn.

    Wenn auf unseren Landkarten Flüsse, Seen oder Kanäle eingezeichnet sind, bitte ich darum, sie mir in natura ansehen zu dürfen, selbst wenn die seichten Gewässer übel riechen und Ölschlieren auf der Oberfläche treiben.

    In meinen festen Schnürschuhen bin ich plötzlich wieder barfuß. Ich wate durch das Wasser der Bucht von Neapel, dieses warmen blauen, von leuchtendem Grün umarmten Halbrunds, beobachte die auf den Wellen schaukelnden Fischerboote und höre die Rufe der Straßenhändler. Es ist mein letzter Sommer in Italien, ich heiße noch Lucia Esposito, befinde mich an der Schwelle zum Erwachsenwerden und bin ganz zufrieden mit meinem Leben. Mamma und ich sind Hausangestellte der Contessa Elisabetta Monforte in ihrer rosafarbenen Villa, die in die Bucht hinausragt. In der Küche dieser Villa bin ich zur Welt gekommen, und in den ganzen vierzehn Jahren meines Lebens habe ich noch nie woanders geschlafen als auf der schmalen Liege neben Mamma.

    Wo hätte ich auch sonst hingehen sollen? Im Obstgarten wuchsen Zitronen-, Orangen-, Feigen- und Pflaumenbäume. An den Hauswänden rankten sich Flieder und Bougainvillea empor. Sonntagnachmittags, wenn wir unseren halben freien Tag hatten, nahmen wir Brot und Wein mit zu dem großen, abgeflachten Felsen, der sich wie eine Theaterbühne vor dem Kegel des Vesuvs ausnahm. Wenn Nannina, die Köchin, guter Laune war, gab sie uns Käsestücke mit und irdene Schüsseln voller Pasta und Bohnen. Tomaten und süße Paprikaschoten, die von den Vögeln angepickt worden waren, gehörten uns. Reife Zitronen fielen von den Bäumen; wir sammelten sie in unseren Schürzen auf.

    „Ich habe auf dem Markt Zitronen gesehen", sagt ein junger Mann aus der Gewerkschaftshalle.

    „Waren sie groß wie zwei Fäuste und hatten eine großporige Schale?, frage ich. „Schwer wie Melonen und fast genauso süß? War die Schale noch warm von der Sonne, das Fruchtfleisch jedoch so kühl wie eine Meeresbrise?

    „Nein, gibt er zu. „Ganz und gar nicht.

    Es war immer heiß an jenen Nachmittagen an der Bucht, aber es war nicht die drückende, von Kohlenstaub geschwängerte Hitze der amerikanischen Städte. Unsere altersdünnen, verschwitzten Leinenkleider klebten an unseren Körpern. Mamma war achtundzwanzig und eine Schönheit; mit sanften Rundungen, cremeweißer Haut, Mandelaugen und einer Flut glänzender schwarzer Haare, die ihr in Wellen über die Schultern fielen. Junge Männer mit Körben voller Muscheln, die sie an den Klippen von Posillipo gesammelt hatten, ruderten dicht an unseren Felsen heran und riefen: „Fahr mit uns hinaus, Teresa. Wenn du willst, kannst du deine kleine Schwester mitnehmen."

    Sie ignorierte sie oder gab so schroffe Antworten, dass ich sie einmal fragte, ob es ein Muscheltaucher gewesen wäre, der sie als erst Vierzehnjährige ins Seegras gestoßen und mit mir geschwängert hatte. „Nein, es war jemand auf einem Kostümball. Der Schuft trug eine Maske."

    „Sing mir etwas vor", bat ich sie in solchen Momenten, wenn sie zu zittern anfing und ihre Miene sich vor Zorn verfinsterte. Dann wandte sie sich dem Vesuv zu, dem dunklen Berg, den sie so liebte, und sang „Maria Marì", „Santa Lucia" oder „Sì, mi chiamano Mimi" aus ihrer Lieblingsoper La Bohème. Das Singen stimmte sie wieder weicher; sie ließ mich die Nadeln aus ihrem Haar ziehen, es zu einem Zopf flechten oder es offen über ihrem Rücken ausbreiten. In einer meiner frühesten Erinnerungen tauche ich meine kleinen Hände in diese seidige Flut und ziehe sie wieder daraus hervor. Sie gleichen Delfinen, die aus den dunklen Wellen springen.

    An jenen Sonntagnachmittagen spielten Kinder auf der Mole, flickten Fischer ihre Netze, und Liebespaare ließen sich zwischen den Felsen nieder. Alle waren wie verzaubert von ihrer Stimme, die einem Seevogel gleich schwerelos zum Himmel emporschwebte. Ich lehnte an ihrer Schulter; sie drückte mich an sich, unsere Körper verschmolzen, und sie war alles, was ich brauchte.

    Ich habe nie Anzeichen dafür entdeckt, dass ihr Geist so labil war, und wenn, dann habe ich sie falsch gedeutet. Ihre plötzlichen Wutanfälle; die kostbaren Porzellanfiguren, die scheinbar zufällig ihren Händen entglitten und auf dem Marmorboden zerschellten; die wiederholten Drohungen des Grafen, uns fortzuschicken, und die angespannten Gespräche zwischen Contessa Elisabetta und Paolo, dem Majordomus – all das war für mich vertrauter Alltag. Was wusste ich schon über andere Mütter? Erst jetzt, rückblickend, sprechen diese Anzeichen so deutlich zu mir wie dunkle Wolken über Kornfeldern, die Regen ankündigen.

    Wenn ich in jenen Tagen über meine Zukunft nachdachte, sah ich uns beide in den Diensten einer alternden Gräfin. „Lucia, wenn du das Lesen und Rechnen beherrschst, könntest du später einmal einem hochherrschaftlichen Haushalt vorstehen", sagte Paolo einmal, als wir allein waren. Ein breites Lächeln erhellte dabei die sonst in der Öffentlichkeit so ernsten Züge, und ich war ganz aufgeregt. Aber was sollte Mamma ohne mich anfangen? Nein, ich wollte für immer in der Villa bleiben.

    Und was hätte ich getan ohne Paolo, der wie ein Fels in der Brandung immer für uns da war? Einmal dachte ich laut darüber nach, wie wunderschön unser Leben sein würde, wenn er mein Vater wäre. Mamma und ich wischten gerade Staub im Salon, in dem der Flieder, der sich draußen neben den hohen Fenstern emporrankte, seinen Duft verströmte. Ihre Miene wurde erst wehmütig, dann war es, als ob sich dunkle Wolken vor den Mond schöben. „Nun, er ist aber nicht dein Vater", brauste sie auf und entstaubte eine Porzellanschäferin so ungestüm, dass diese umfiel. Mit einem großen Satz nach vorn konnte ich sie gerade noch auffangen.

    „Aber es können doch nicht alle Männer so schlecht sein …" Sie brachte mich mit einem wütenden Blick zum Schweigen. Als ich die kleine Porzellanschäferin an ihren Platz zurückstellte, schien diese sich mit ihrem kitschig bemalten Gesicht über mich lustig zu machen, als wollte sie sagen: „Ich habe einen guten Vater."

    „Lass mich allein! Geh und hilf Nannina", fuhr Mamma mich an. Und so wurde ich wieder einmal in die Küche verbannt und musste angebrannte Töpfe scheuern.

    „Was war es dieses Mal?", wollte Nannina wissen, und ich gestand ihr meine heimliche Angst – dass Mamma jedes Mal, wenn sie mich ansah, in Wirklichkeit ihn sah, den maskierten Schuft. Wie konnte ich ihn nur von mir abstreifen? Heiße Tränen fielen ins Spülwasser.

    „Hier, sagte Nannina und gab mir eine Scheibe Brot vom Vortag mit Ricotta darauf. „Erstens kennen viele Leute ihren Vater nicht, viel mehr, als du glaubst. Und zweitens verdankst du diesem Mann dein Leben. Wünschst du dir, du wärst gar nicht auf der Welt?

    „Nein, aber sie ist manchmal so …"

    Schwierig. Ich weiß. Aber sie hat dich lieb, nur dich. Denke immer daran."

    „Instabil", hörte ich einmal den Grafen zu Paolo sagen. Ich stellte mir Mamma in einem schwankenden Boot stehend vor, instabil.

    Bei Anbruch der Nacht war ihr Zorn verebbt. Während sie vor dem Schlafengehen mein Haar bürstete und flocht, versuchte ich wie so oft, ihre Laune zu bessern, indem ich sie zum Erzählen brachte.

    „Erzähl mir von deinem Vater, Mamma."

    „Er war … Chorleiter. Und damit begann eine neue Fantasiegeschichte. Ihr Vater war ein gut aussehender Fischer, nein, nein, ein Kameenschnitzer, ein Fechtmeister, ein Schauspieler aus Paris, ein deutscher Prinz. Einmal, nach dem Genuss von Wein auf einem Straßenfest, ein verwunschener Fischgott. Nun murmelte sie: „Ich sage dir jetzt die Wahrheit; er verließ uns, und dann starben meine Mutter und meine Brüder an der Cholera. Ich fand Arbeit bei der Gräfin und bekam dich. Danach sprach sie nie wieder von ihm, und ich begriff, dass wir keine weitere Familie mehr hatten, nur noch uns beide. Dem Wohlwollen Paolos und der Gräfin Elisabetta hatten wir es zu verdanken, dass wir in der Villa lebten. „Mach die Augen zu, sagte sie sanft, „und ich singe dich in den Schlaf.

    Am nächsten Morgen, als wir gerade die Terrasse fegten, hielt sie plötzlich inne und umarmte mich stürmisch. „Meine kleine Santa Lucia. Uns wird niemals etwas Schlechtes widerfahren. Niemals!"

    „Nein, Mamma, natürlich nicht."

    Genauso plötzlich machte sie sich wieder an ihre Arbeit und erklärte, jetzt wäre ich an der Reihe, mir eine Geschichte auszudenken. Ich machte uns zu Meerjungfrauen in einer Unterwasservilla, wo das Meer allen Staub und Schmutz fortspülte, uns das Essen brachte und unsere Korallenteller blank polierte. Wir schliefen in Betten aus Seegras, für die man keine gebügelten Laken brauchte. „Und wir können den ganzen Tag lang lesen", fuhr ich verträumt fort. Mamma runzelte die zarte Stirn, als wäre dies die seltsamste Fantasie von allen.

    Rückblickend finde ich es merkwürdig, dass ich niemals daran gedacht habe, Neapel zu verlassen. 1905 legten unentwegt Schiffe nach Amerika ab. Hausierer, Tagelöhner, Fischer, ja selbst Wasserträger hatten irgendjemanden „dort drüben". Paolo und Nannina, unser Gärtner Luigi und Alma, die Waschfrau – alle besaßen Fotos von Familienangehörigen und Freunden in Amerika. Der alte Bernardo führte in seinem Marionettentheater die Abenteuer seines Bruders in New York vor; die herrlich gemalten Kulissen zeigten die Freiheitsstatue und prunkvolle Paläste an der Fifth Avenue. Dennoch schien keins dieser Wunder ein Grund zu sein, Neapel zu verlassen.

    Nein, unser Weg ins Exil begann mit einem Tintenfisch in dem Sommer, als ich gerade vierzehn war. Graf Filippo flüchtete im Sommer meist vor der Hitze in der Stadt in seine Villa in den Hügeln von Capri, in sein Lustschloss, wo er sich, wie Nannina verächtlich brummte, „von gewissen Damen unterhalten lässt." In jenem Jahr hinderte ihn jedoch die Malaria daran, und er war ruhelos und furchtbar gereizt. An einem brütend heißen Augustmorgen verlangte er ein Mittagessen, bestehend aus Pasta mit Tintenfischsauce, Mozzarella, Tomaten von den Hängen des Vesuvs und einem Zitroneneis vom Café Gambrinus.

    „Dr. Galuppi hat dir geraten, nur leichte Kost zu dir zu nehmen", warnte Gräfin Elisabetta.

    „Ich esse, verdammt noch mal, was ich will", brüllte er. Also schickte Nannina uns zum Einkaufen und trug uns auf, uns zu beeilen; die Sauce benötigte einige Vorbereitungszeit.

    Auf dem Fischmarkt feilschte Mamma geschickt um einen fetten Tintenfisch und schlug ihn tot. Der große Olivenmann füllte unseren Tonkrug; danach kauften wir Tomaten, Brot und sahnige Mozzarellakugeln. Inzwischen war unser Korb so schwer, dass wir ihn zu zweit tragen mussten.

    Im Café hatte sich eine Schlange gebildet. Vor uns unterhielten sich ein paar Frauen aufgeregt über den berühmten Mailänder Dirigenten Maestro Arturo Toscanini, der in Kürze in der San Carlo Oper eintreffen sollte. Mamma beugte sich vor und lauschte neugierig. Ich zupfte an ihrem Ärmel. „Sieh nur, Mamma, heute bedient der nette Eisverkäufer. Vielleicht gibt er mir ja wieder eine Kostprobe."

    „Hast du gehört, wandte sich die große Frau vor uns an ihre Freundin, „wie gut Maestro Toscanini aussieht und wie ‚talentiert‘ er ist – und das nicht nur, was die Musik betrifft? Sie flüsterte ihr etwas ins Ohr, und beide lachten hell auf.

    „Wir gehen zur Oper", verkündete Mamma und zerrte mich aus der Schlange heraus. „Ich werde ‚Sì, mi chiamano Mimi‘ vorsingen und entdeckt werden wie Enrico Caruso." Sie zog mich die Via Roma entlang.

    Der Korb schlug gegen meine Beine. Ihr gerötetes Gesicht machte mir Angst, und ich packte ihren Arm. „Nein, Mamma, wir müssen nach Hause gehen! Graf Filippo wird wütend sein, wenn wir zu spät kommen."

    „Der Mann ist schon wütend zur Welt gekommen! Heute Morgen war er sogar wütend auf die Möwen. Wenn meine Stimme Toscanini gefällt, werden wir reich. Du wirst Privatlehrer haben. Wir reisen in die großen Städte. Sie war jetzt außer Atem, und feuchte Locken klebten an ihren Wangen. „Wir werden Bedienstete haben und von feinen Porzellantellern essen. Das ist meine Chance, endlich eine Operndiva zu werden. Eine zweite bietet sich mir vielleicht nicht.

    „Aber die Tintenfischsauce …"

    Sie blieb stehen, packte meine Schultern und schüttelte mich so heftig, dass mir der Kopf wehtat. „Basta mit der Tintenfischsauce! Willst du dein Leben lang immer nur Fußböden scheuern? Vor dem Haupteingang des Opernhauses hatte sich bereits eine aufgeregte Menge eingefunden. „Wenn Toscanini aus der Kutsche steigt, halte ihn auf, damit er mich singen hört.

    Das Blut dröhnte in meinen Ohren. „Wie soll ich ihn denn aufhalten?" Ich hatte zwar keine Ahnung von der Oper, aber ich wusste eins ganz genau – dass Dienstmädchen keine Gentlemen behelligten.

    „Halt ihn an den Rockschößen fest! Da ist die Kutsche, beeil dich!"

    Doch letztlich kam ich nie dazu, ihn zu berühren. Erstarrt in der Gewissheit einer bevorstehenden Katastrophe sah ich, wie meine Mutter sich durch die Menge drängelte und sich dem Maestro in den Weg stellte, als ihm drei kleine Mädchen gerade Rosen überreichen wollten. Sie holte tief Luft, nahm Haltung an und begann zu singen. So erschrocken ich auch war, erkannte ich doch, dass ihre Stimme noch nie so schön geklungen hatte, so hoch, kraftvoll und klar. Die Menge verstummte; vielleicht glaubten manche, sie gehörte zum Willkommenskomitee der Stadt. Arturo Toscanini war in der Tat ein schöner Mann mit seinem weißen Hut, den schwarzen Augenbrauen, die sich wie Adlerschwingen über seinen scharfen Augen wölbten, dem prächtigen Schnurrbart und dem eleganten taubengrauen Anzug. Als er den Kopf zur Seite neigte, um zuzuhören, hielt ich den Atem an. Vielleicht wurde sie ja tatsächlich entdeckt. Dann streckte sie die Hände nach seinem Jackett aus.

    „Nein, Mamma, fass ihn nicht an!", rief ich, aber sie hatte bereits seine Revers gepackt, als wäre sie Mimi und er ihr Liebhaber Rodolfo. Toscanini wich abrupt zurückt und schnippte mit den Fingern.

    Er ruft seine Leibwächter, dachte ich entsetzt. Ja, Offiziere mit roten Umhängen näherten sich Mamma, während sie leidenschaftlich weitersang. Ich war hin- und hergerissen zwischen Panik und Stolz – Mamma, hör auf, lauf weg! dachte ich, und gleichzeitig: Maestro, machen Sie eine Operndiva aus ihr!

    „Das Problem in Neapel ist, wandte er sich an eine Gruppe junger Männer, „dass hier selbst die Straßenweiber singen wie die Engel. Hören Sie sich dieses Timbre an, diese Beweglichkeit der Stimme! Und doch ist sie offensichtlich ein Dienstmädchen oder sogar noch Schlimmeres und schon zu alt für die Ausbildung. Ich kann sie nicht gebrauchen, aber wenn einer von Ihnen sie für ein Hauskonzert haben möchte, lässt sich das sicher arrangieren. Dann war er fort, behände wie eine Katze verschwand er mit fliegenden grauen Rockschößen im Opernhaus.

    Ich ließ den Korb fallen und rannte zu Mamma. Ihr Gesicht war tiefrot vor Zorn. Sie hob die geballten Fäuste und schrie ihm nach: „Du Mistkerl! Du Speichellecker der Reichen mit all deinen Geliebten und seidenen Röcken! Du warst einst ein Niemand, und jetzt willst du einer ehrlichen Frau nicht helfen!" Sie machte einen Satz in Richtung Tür, und ich bekam nur noch ihren Schal zu fassen.

    Die Wachen ergriffen sie. „Lasst mich los! Graf Filippo Monforte lässt es nicht zu, dass man seine Bediensteten misshandelt!", kreischte sie.

    Die Wachen winkten eine Kutsche herbei und schoben uns hinein. „Unser Korb!", protestierte ich und sah entsetzt zu, wie ein paar Jungen sich um den Inhalt des Korbes balgten; einer von ihnen schwenkte den Tintenfisch. Ich schloss die Augen. Was würde der Graf nun mit uns machen? In der heißen, beengten Kutsche hatte ich Mühe, zu atmen. Wieder einmal wünschte ich, meine Mutter wäre so vernünftig und gelassen wie die Gräfin, die in eleganten Räumen wohnen konnte, die andere für sie sauber hielten. Sicher, der Graf war ein ungehobelter, griesgrämiger Ehemann, aber er war oft nicht zu Hause. Sie hatte die Muße, zu lesen, Freundinnen zu besuchen und an der Bucht spazieren zu gehen. Außerdem erhielt eine reiche Frau von allen Seiten Unterstützung, davon konnte eine Bedienstete nur träumen. Natürlich wäre Mamma in einer solchen Situation auch viel stabiler gewesen, nicht so schwierig und zu diesen Wutanfällen neigend, die Nannina immer die inneren Dämonen meiner Mutter nannte.

    „Kämen Sie nicht aus einem vornehmen Haushalt, schnauzte einer der Wachleute, „dann wären Sie und Ihre Schwester jetzt auf dem Weg ins Gefängnis!

    „Meine Tochter!, gab sie zähneknirschend zurück. Sie saß eingezwängt zwischen den Wachen, öffnete und ballte die Fäuste und wiederholte wütend: „Straßenweib! ‚Wenn einer von Ihnen sie für ein Hauskonzert haben möchte, lässt sich das sicher arrangieren.‘ Mistkerl! Ich wich zurück vor dem schönen, aber jetzt vor Wut ganz entstellten Gesicht.

    Vor der Villa angekommen, führten uns die Wachen die Marmortreppe hinauf und übergaben uns Paolo, wobei sie Mammas Verbrechen aufzählten – sie hatte Hand an Maestro Toscanini gelegt, ihm gedroht und Schande über die Stadt Neapel gebracht, deren Ehrengast er schließlich war. Wäre der Graf nicht so ein großzügiger Unterstützer der Oper gewesen, hätten wir längst im Gefängnis gesessen. „Wenn diese Frau noch ein Mal in der Nähe der Oper gesehen wird, wenn sie Maestro Toscanini noch ein Mal in irgendeiner Weise belästigt, wird sie weggesperrt. Verstanden?"

    „Sie dürfen dem Maestro versichern, es wird keine weiteren Probleme geben", erwiderte Paolo mit so würdevoller Gelassenheit, dass die Wachen zurückwichen, als wären sie von einem Adeligen zurechtgewiesen worden.

    Als sie fort waren, ließ Mamma sich auf das französische Kanapee sinken, ehe ihr ihr Irrtum zu Bewusstsein kam – die guten Möbel waren nicht für uns bestimmt. Sie stand hastig wieder auf und schwankte ein wenig. Ich eilte an ihre Seite.

    „Teresa, ich werde Graf Filippo davon unterrichten müssen, sagte Paolo kurz angebunden. „Natürlich wird er sehr zornig sein, vielleicht schickt er euch sogar fort. Denk doch an Lucia!

    „Ich habe an Lucia gedacht! Wenn ich Toscanini hätte vorsingen dürfen, hätte sie nie wieder Töpfe zu scheuern brauchen."

    „Und was ist mit dem Tintenfisch? Dem Mittagessen für den Grafen?"

    „Den haben wir an der Oper zurückgelassen", stammelte ich.

    „Ich verstehe." Paolos Stimme war so kalt wie die Eisblöcke, die er immer bestellte. „Also gut, Lucia, dann wirst du Nannina erklären, warum sie den Wunsch des Grafen nicht erfüllen kann."

    Schweren Herzens ging ich in die Küche, wo ich von Nannina eine Ohrfeige bekam; wegen des vergeudeten Geldes und wegen des Verlustes des Korbes, der noch von ihrer Mutter stammte. „Und was soll ich jetzt für ihn kochen? Was? Sag du es mir!"

    „Brühe und Reis, wie es der Doktor angeordnet hat, sagte eine milde Stimme hinter mir. Es war die Gräfin Elisabetta. „Und das reicht jetzt, Nannina. Lucia kann für das alles nichts. Trotzdem möchte der Graf sie sehen. Vor lauter Angst konnte ich kaum gehen, aber die Gräfin schob mich sanft vor sich her. „Denke daran, dass er krank ist. Ich habe ihm Laudanum gegeben. Er wird bald einschlafen."

    Bis zu Graf Filippos Zimmer lag noch ein langer Flur vor uns, dennoch konnte ich bereits seine Stimme hören, als ich mit steifen Schritten weiterging. „Und ich habe dich auch noch deine kleine bastarda behalten lassen! Die Stimme wurde lauter. „Ist das richtig, Teresa? Ist das die Art, wie du dich dafür bei mir revanchierst? Indem du den Maestro angreifst?

    Ich stand jetzt in der offenen Tür. Der Anblick des Rückens meiner Mutter, starr wie eine Marmorsäule, verlieh mir Mut. „Sie hat ihn nicht angegriffen, Sir", sagte ich kühn. „Sie hat nur etwas aus La Bohème gesungen."

    „Du!" Er zeigte auf mich; sein fleischiges, fleckiges Gesicht glänzte vor Schweiß. „Lesen, immer nur Lesen! Welches Dienstmädchen, welche kleine bastarda muss schon lesen können? Du solltest lieber diesen Saustall sauber machen! Er zeigte im Zimmer herum. Die Porzellanfiguren und Möbel, die ich jeden Tag abstaubte, glänzten im Sonnenlicht. Er gähnte. „Hinaus mit euch beiden. Ich bin umgeben von Schwachköpfen. Ihr habt euch zum Gespött von ganz Neapel gemacht.

    „Teresa hat nichts weiter getan als gesungen, schaltete sich die Gräfin ein. „Der Maestro hat sie einen Engel genannt. Wer hat schon so eine Bedienstete? Du solltest jetzt ruhen, Filippo.

    „Wo ist mein Tintenfisch?"

    „Ich habe ihr aufgetragen, ihn nicht zu kaufen. Dr. Galuppi hat gesagt, du sollst nur leichte Kost zu dir nehmen." Wir schlichen uns aus dem Zimmer, während die Gräfin den wutschnaubenden Grafen dazu brachte, sich wieder hinzulegen und sich zuzudecken.

    In der an die Küche angrenzenden fensterlosen Kammer, in der wir Bediensteten aßen, hielt ich mich an meinem Stuhl fest, der zu schwanken und zu schaukeln schien, als befänden wir uns auf dem Meer. Wenn wir nun das Haus mit einem schlechten Zeugnis des Grafen verlassen mussten, welcher vornehme Haushalt oder wenigstens anständige Kaufmann würde uns dann noch einstellen wollen? Bedienstete von Händlern schliefen im Treppenhaus und aßen Abfälle. Doch Mamma tobte immer noch vor Zorn, zerpflückte ihr Brot und verfluchte unser Leben. Lieber die Bediensteten eines Grafen als ein ungewisses Schicksal – sah sie das denn nicht ein?

    „Bist du verrückt, Teresa?", sagte Nannina. „Alle großen Operndiven Europas wollen zu Maestro Toscanini. Madonna mia, warum sollte er ausgerechnet dich nehmen?"

    „Ich weiß es nicht. Mammas Stimme klang plötzlich spröde und brüchig. Mit großen dunklen Augen sah sie sich im Raum um. „Weiß er, dass wir hier wohnen?

    Ich legte den Arm um ihre hängenden Schultern. „Nein, Mamma. Er hat uns wahrscheinlich schon längst wieder vergessen. Heute Abend ist doch eine Opernaufführung, da wird er jetzt sehr beschäftigt sein."

    „Er hat aber gehört, dass ich den Grafen Monforte erwähnt habe."

    „Nein, da war er schon im Opernhaus verschwunden."

    „Die Wachen werden es ihm sagen."

    „Maestro Toscanini spricht nicht mit Wachen", warf Nannina bissig ein.

    Paolo ließ uns rufen. Wegen der Geschichte mit Toscanini und vieler anderer Sorgen, die sie ohnehin quälten, hatte die Gräfin wieder ihre Kopfschmerzen bekommen. Die Schulden des Grafen und seine vielen Liebschaften setzten ihr sehr zu. Er erinnerte sie ständig daran, dass sein Geld die baufällige Villa ihrer Eltern wieder instand gesetzt hatte, und dass das Einzige, was sie mit in die Ehe gebracht hatte, ein Adelstitel war. Nach jeder seiner Tiraden litt sie unter großen Schmerzen, die nur durch leises Vorsingen gelindert werden konnten. Immer wenn die Missetaten meiner Mutter unsere Stellung in Gefahr brachten, redete ich mir ein, dass die Gräfin die Stimme ihrer Bediensteten brauchte.

    Wenn die Kopfschmerzen kamen, zog sie sich in den Salon zurück, legte ein seidenes Kissen über die Augen, um das Licht auszublenden, und ließ die Fenster öffnen, damit sie das leise Rauschen der Brandung hören konnte. Dann sang Mamma ihr mit sanfter Stimme vor – Arien, die sie von Straßensängern gehört hatte, Volkslieder und spanische und französische Weisen, deren Sprache sie perfekt nachahmte. Ich löste inzwischen das honigbraune Haar der Gräfin, bürstete es vorsichtig aus und rieb Lavendelöl auf ihre Schläfen.

    Das waren unsere goldenen Stunden, eine köstliche Erleichterung nach der sonstigen harten Arbeit: Töpfe und Marmorböden scheuern, Silber putzen, Kamine säubern, Möbel wachsen und an dicken Seilen vor den hohen Fenstern hängen, um die verkrustete salzige Gischt von den Scheiben zu waschen. Diese Momente in dem wunderhübschen Raum schenkten uns reine Behaglichkeit und Ruhe. Selbst an den heißesten Tagen wehte immer eine leichte Brise durch die offenen Fenster ins Zimmer. Die Damastvorhänge raschelten leise, als hätte Mammas Stimme sie in Bewegung versetzt. Sogar die Wellen, die sich unten an den Felsen brachen, schienen dem Rhythmus ihres Liedes zu folgen.

    Ich sehe den Raum auch jetzt genau vor mir. Winzige Regenbogenlichter, ausgehend von dem Kristalllüster an der Decke, tanzen über uns. Das blank geputzte Silber glänzt. Die Marmorbüsten schimmern hell im Sonnenlicht. Nanninas Blumen blühen in bunt bemalten Vasen. Der Perserteppich, den wir im Hof klopfen, fühlt sich unter meinen Füßen weich wie Moos an, und er ist so farbenfroh wie ein Sommergarten.

    „Jetzt lies mir etwas vor, pflegte die Gräfin zu sagen, wenn die Schmerzen nachgelassen hatten. Dann schlug ich ein in Leder gebundenes Buch von ihrem Lieblingsdichter Giacomo Leopardi auf. Wenn ich ins Stocken geriet, sagte sie: „Lies langsam. Konzentriere dich auf jedes einzelne Wort. Das tat ich dann auch, und sie lächelte. Diese Augenblicke haben sich für immer in meinem Herzen eingeprägt. Ja, ich war ein Dienstmädchen, und der Graf nannte mich kleine bastarda, aber an jenen Nachmittagen schwelgte ich in dem Glück, noch wegen etwas anderem gebraucht zu werden, nicht nur wegen meiner kräftigen Arme.

    „Wenn wir ein Kind wie dich gehabt hätten, sagte die Gräfin einmal, als wir allein waren, „dann wäre der Graf vielleicht auch ein anderer Mensch. Und wenn ich nun wirklich ihr Kind wäre? fragte ich mich. Doch sofort durchzuckte mich ein glühendes Schuldgefühl, weil ich mich von meiner Mutter abgewandt hatte, und sei es auch nur in meinen Träumen. „Lucia Esposito, wiederholte ich stumm in meinen Gedanken. „Das bin ich. Lucia Esposito, die Tochter von Teresa Esposito.

    Das Laudanum hatte den Grafen in den Schlaf gewiegt, und die Gräfin entließ uns, als die Kopfschmerzen verflogen waren. Sie wollte mit Paolo noch ein paar Rechnungsbücher durchgehen und sich dann zurückziehen. Er wartete im Flur auf sie. Mir fiel auf, auch wenn ich dem damals keine Bedeutung schenkte, wie langsam sie zu den Gemächern der Gräfin schlenderten und wie nahe nebeneinander.

    Mamma und ich legten uns auf unsere Pritsche und schwitzten in der warmen Sommernacht. „Straßenweib", murmelte sie. „Er meinte Hure."

    „Er hat dich aber auch einen Engel genannt. Außerdem sind wir jetzt in Sicherheit. Du solltest ihn nur einfach nicht mehr belästigen."

    „Ich bin nicht wie du, ich lese keine Bücher", sagte sie verbittert. „Das Einzige, was ich kann, ist singen. Du bist Gräfin Elisabettas kleiner Liebling, aber was ist mit mir? Vielleicht findet sie ja eine andere singende Bedienstete und schickt mich fort. Ich werde niemals eine Operndiva sein. Ich werde immer ein Nichts bleiben." Sie drehte sich zur Wand um, und ihre Schultern zuckten leicht.

    Ich lag stocksteif und hilflos da. In der bedrückenden Dunkelheit stellte ich mir vor, dass ich verschwand; wie eine Spiegelung auf nassem Marmor, wenn der Marmor trocknet. Ob Mamma dann glücklicher sein würde? Meine Augen füllten sich mit Tränen. Unsere schweißfeuchten Schultern berührten sich beinahe, doch in unserem Schmerz trennten uns Welten. Als die große Standuhr Mitternacht schlug, schlich Mamma barfuß aus dem Zimmer. Unternahm sie wieder einen ihrer nächtlichen Spaziergänge? Angstvoll lauschte ich auf das leise Knarren der Haustür, aber alles blieb still. Schon bald kehrte sie zurück und strich mit ihrer kühlen Hand über meine.

    „Wo warst du?", flüsterte ich.

    „Ich habe Laudanum geholt. Möchtest du auch etwas?"

    „Nein."

    „Natürlich nicht. Du bist ja noch ein Kind. Du brauchst dich um nichts zu sorgen. Sie nahm mich in die Arme und strich mir über das Haar. „Es tut mir so leid, Lucia, raunte sie. „Du weißt, wie sehr ich dich lieb habe. Es ist wie … wenn der Nebel sich über den Vesuv senkt, kann man ihn nicht mehr sehen, aber er ist trotzdem da. So ähnlich ist das bei mir auch, denke daran. Ich werde dich immer lieb haben. Immer! Ihr warmer Atem streifte meine Wange. „Und nun schlaf.

    Und das tat ich dann auch, doch in meinen Träumen hetzte uns ein Seeungeheuer mit den Gesichtszügen des Grafen durch ein Unterwasserlabyrinth.

    2. KAPITEL

    Feuer und Eis

    Bis zum Morgen war das Malariafieber so stark angestiegen, dass der Graf kurz davor war, ins Delirium zu fallen. Er warf sich auf seinem massiven Rosenholzbett hin und her, verfluchte die afrikanische Hitze und forderte noch mehr frischen Wind. Schon seit Stunden fächelte ich mit dem Bambusstock, an dem Straußenfedern befestigt waren, in der feuchtstickigen Luft. Jeder einzelne Muskel tat mir weh. Wenn das die Strafe für den Tintenfisch sein sollte, dann war sie mehr als ausreichend.

    „Bringt mich nach Capri, verlangte er. „Wo seid ihr, Bettina, Rosalia und Isabella, mein reifer Pfirsich? Bei jedem Namen zuckte die Gräfin zusammen.

    Paolo hatte Dr. Galuppi gebeten, ein Fläschchen seines besten peruanischen Chinins mitzubringen. Danach hatte er Nannina aufgetragen, etwas Süßes für den Doktor vorzubereiten, der für sein Leben gern naschte, und die Gräfin von ihren Pflichten im Krankenzimmer entbunden. „Und du fächelst weiter, bis er Schüttelfrost bekommt", flüsterte Paolo mir zu. Ich stellte mir römische Galeerensklaven vor, die an Bambusstöcke gekettet waren.

    Endlich traf der Doktor mit dem gewünschten Chinin ein und ließ sich in einen Brokatsessel fallen. „Und wenn mir Ihre Bedienstete jetzt … Ah, da ist sie ja." Mamma erschien mit einer Karaffe mit schottischem Whisky, unseren besten venezianischen Gläsern und einem mit Rum getränkten Napfkuchen. Ich packte meinen Bambusstock fester, als er Mamma an die Brust fasste und ihr schließlich über die vor Zorn ganz blass gewordene Wange strich.

    „Noch mehr Wind …, japste der Graf, als Mamma gegangen war. Sein Leinennachthemd war vollkommen durchgeschwitzt. Ich hatte das Bett schon frisch bezogen, trotzdem fluchte er, ich würde ihn wie einen „Bettler im Dreck verkommen lassen. Wir konnten die Bettwäsche gar nicht so schnell waschen, trocknen und bügeln, wie er sie mit Schweiß und Erbrochenem beschmutzte. Auch Unmengen von Rosmarin und Lavendelöl vermochten nicht den schlechten Geruch im Zimmer zu überlagern.

    Dr. Galuppi schob etwas Schnupftabak in seine riesige Nase und beobachtete mich eine Weile, wie ich dem Grafen Luft zufächelte. Er ließ den Blick seiner großen runden Augen über meinen Körper wandern, bis er offenbar genug davon hatte, ein Medizinbuch hervorzog und darin zu lesen begann, während der Graf in einen unruhigen Schlaf versank.

    Wie Paolo vorhergesagt hatte, ging das Fieber schon bald in Schüttelfrost über. Der Graf erwachte ruckartig und verlangte, ich solle sofort mit diesem grässlichen Fächeln aufhören und stattdessen für mehr Decken, Pelze und ein Feuer im Kohlenbecken sorgen.

    „Tu das, Mädchen", sagte der Doktor und hob dabei nicht einmal den Kopf. Der Schweiß rann über unsere Gesichter, nachdem das Feuer angezündet war, doch er las eifrig weiter und zeichnete von Zeit zu Zeit seltsame Maschinen in ein Notizbuch aus Leder.

    „Gut, und nun versuchen Sie einmal meinen Heiltrunk, sagte Galuppi, klappte sein Buch zu und füllte die beiden Gläser großzügig mit Whisky. Er zeigte auf einen Stuhl in der Ecke. „Und du setzt dich dorthin. Vielleicht brauchen wir dich noch, teilte er mir mit.

    Ich gehorchte, und wie es bei Gentlemen so üblich ist, schenkten sie mir schlagartig keine Beachtung mehr, als wäre ich eine der Marmorbüsten an der Wand. Ich fragte mich oft, was wohl das Schlimmere für einen Bediensteten war: die endlose Schufterei, die schmerzenden Gelenke und die raue, rissige Haut – oder dieses gedankenlose Entlassenwerden ins Nichts, nur um dann mit einem Fingerschnippen wieder herbeigerufen zu werden? Als der Graf auf den Pelzberg über sich zeigte, hieß das, dass ich ihn beseitigen sollte. „In der Gegenwart von Bediensteten kann ein Mann wirklich verrückt werden", knurrte er.

    „Gewiss, gewiss. Alle Welt redet von dieser Szene zwischen Ihrer Bediensteten und Maestro Toscanini. Sie leidet eindeutig unter einer besonders unangenehmen Form von Hysterie. Allerdings hängt Ihre Frau sehr an ihr, wie ich hörte."

    Der Graf nickte, seufzte und schloss die Augen.

    „Ich habe mich gründlich mit dem Thema Hysterie befasst, fuhr der Doktor fort und tippte mit dem Finger auf sein Buch. „Dieser Zustand ist oft heilbar mithilfe faszinierender Mechanismen, die bedauerlicherweise in Italien nur selten eingesetzt werden. Mit diesen Mechanismen haben unsere angelsächsischen Kollegen schon diverse Subjekte vom Wahnsinn geheilt oder sie zumindest umgänglicher gemacht.

    Man musste mir angesehen haben, dass ich aufmerksam zuhörte, denn der Graf hob eine fleischige Hand und zeigte auf mich. „Du da. Lass uns allein. Mach die Tür hinter dir zu."

    „Ja, Herr."

    Im dämmerigen kühlen Flur atmete ich tief durch, um den Gestank des Krankenzimmers loszuwerden. Mamma und Nannina halfen der erschöpften Waschfrau. Paolo und die Gräfin schienen wieder die Bücher durchzugehen, denn ich hörte Gemurmel in ihrem Arbeitszimmer. Auf bloßen Füßen schlich ich wieder zur Zimmertür des Grafen.

    „Wiederholte Injektionen mit Widderblut … Patienten so sanft wie Schafe, hörte ich durch die Tür. Jetzt musste der Graf etwas gesagt haben. „Ja, natürlich, es kommt bisweilen zu Todesfällen, da gibt es noch viel zu lernen. Das Rosenholzbett knarrte, Bettzeug raschelte, und deshalb musste ich das Nächste wohl falsch verstanden haben. Oder war es etwa möglich, dass Ärzte Patienten in mit Löchern versehene Särge sperrten, diese so lange unter Wasser hielten, bis keine Luftblasen mehr aufstiegen und dann versuchten, die Halbertrunkenen wiederzubeleben? „Die Konfrontation mit dem Tod beruhigt die Wahnsinnigen. Etwas Gemurmeltes folgte, das ich nicht mitbekam, dann: „Drehstuhl … Stromschläge an den weiblichen Organen bisweilen sehr wirksam. Mir wurde übel, und ich lehnte mich an eine Marmorsäule. Wieder die Stimme des Doktors: „Sie müssen jetzt etwas Leichtes zu sich nehmen, Herr Graf. Ich läute nach dem Mädchen."

    Voller Panik rannte ich in die Küche, um mir das Gesicht zu waschen und mich zu beruhigen, bevor ich zurückkehrte und meine Befehle entgegennahm.

    „Graf Filippo schläft jetzt ruhig, verkündete Paolo uns nach dem Abendessen. „Ihr habt frei bis morgen früh. Ich werde mich selbst um den Grafen kümmern. Mir fiel jedoch auf, dass er nicht nach links zum Krankenzimmer ging, sondern nach rechts, wo sich die privaten Gemächer der Gräfin befanden.

    „Fühlt sie sich ebenfalls nicht wohl?", fragte ich.

    Mamma und Nannina tauschten einen Blick, und Nannina zog die Augenbrauen hoch. „Ich nehme an, sie gehen die Bücher durch."

    Mamma stand auf. „Lucia, lass uns schwimmen gehen. Komm, es ist Vollmond!"

    Schon wenig später liefen wir mit fliegenden Haaren zu den Felsen hinunter. Ich habe diese Nacht als reines Glück in Erinnerung. In unseren vor Schweiß starrenden Kleidern schwammen wir in dem silbernen Pfad, den der Mond quer durch die Bucht bis fast zum Vesuv ausgelegt hatte. Warme Wellen trieben unsere Körper auseinander und dann wieder zusammen. Wir schöpften das irisierende Wasser mit unseren Händen; die Gerüche des Krankenzimmers und unsere Müdigkeit fielen von uns ab. Wir waren Meerjungfrauen, Prinzessinnen, Schwestern.

    „Wir sind fast frei, sagte ich zum Sternenhimmel hinauf. „Entweder stirbt der Graf, oder aber er wird gesund und geht bis zum Winter zurück nach Capri.

    „Und wenn

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