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Schöne Frau am Wasser
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eBook328 Seiten4 Stunden

Schöne Frau am Wasser

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Über dieses E-Book

Mit „Schöne Frau am Wasser“ legt Sebastian Teichspiegel sein Roman-Debut vor. Der bisher mit Kurzformen beschäftigte Autor eröffnet eine für ihn neuartige Erzählschiene: Es geht darum, Leben und Liebe in ihrer oft verborgenen Intensität aufzufalten.
Dabei werden Emotionen und Schönheiten freigelegt, die wir in unserer ökonomisierten Welt sträflich vernachlässigen. Gibt es überhaupt Zeit, ist eine der brennenden Fragen. Jedenfalls eine magische Liebesgeschichte, die zu bezaubern vermag.
SpracheDeutsch
HerausgeberINNSALZ
Erscheinungsdatum10. März 2022
ISBN9783903321762
Schöne Frau am Wasser
Autor

Sebastian Teichspiegel

Sebastian Teichspiegel hat Germanistik und Psychologie studiert, lebt am Wallersee, ist seit einigen Jahren als Autor und Kulturvermittler tätig. Bisher erschienen v.a. Lyrik und Kurzprosa. Mit „Schöne Frau am Wasser“ legt er sein Roman-Debut vor.

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    Buchvorschau

    Schöne Frau am Wasser - Sebastian Teichspiegel

    Frühere Jahre

    Von uralten Baumriesen erzählte Onkel Simon, wenn er von seinen Waldgängen heimkehrte. Selig aufatmend habe er an ihren wunderbar gefurchten Rinden verweilt. Sie sind lebendige Wesen, unglaublich schön, redete er sich in Begeisterung. Wenn er vom langen Schwimmen in riesigen Teichen und mäandernden Strömen fabulierte, war es wie ein Entschweben in eine andere Welt. Immer wieder hielt er in verschiedenen selbst erbauten Hütten und Unterständen auf diesen Streifzügen inne. Meist an Gewässern, in denen er baden konnte und an deren Ufern nahrhafte Pflanzen sprossen. War er viele Tage unterwegs gewesen, kehrte er vollbärtig und ein wenig ungepflegt zurück. Dann schlich er unbemerkt in unsere Villa am „Waldsee und unverzüglich ins Bad. Meiner Schwester und mir trat er bereits frisch rasiert und in sauberer Hauskleidung unter die Augen. Meine Mutter Ella war selig, ihren Bruder wieder unbeschadet zurückzuhaben, und umsorgte uns mit erfrischenden Getränken. Bald war unser Onkel an seiner Staffelei zu finden, er versuchte dort die schönsten von ihm wahrgenommenen Linden, Ahorne oder Buchen, zwischendurch auch Tannen oder Fichten, zum Leuchten zu bringen. In unserer Villa am „Waldsee ging damit alles wieder seinen gewohnten Gang, und das würde einige Wochen währen.

    An besonderen Erzählabenden breitete Onkel Simon seine Erlebnisse und Abenteuer vor Gästen aus. Oft genug bedurfte es körperlicher Anstrengung und Gewandtheit, um nicht in der Wildnis des Waldes in Gefahr zu geraten. War es spät geworden und die Erzählung aufwühlend gewesen, bat meine Schwester, zu mir unter die Tuchent kriechen zu dürfen. Man hätte uns für Zwillinge halten können, obwohl Silvia mit ihren siebzehn Jahren jünger war. Etwa gleich groß wie ich, gleich schlank und in gleichem Maße für Geschichten zu begeistern. Beim Aufwachen tastete ich nach Silvias Hand: Ihre Körpertemperatur war meiner völlig angeglichen. Als wären wir vorzeiten aus demselben Ei gekrochen. Nach dem Frühstück würden wir uns jeweils an die von uns gewählten Instrumente begeben. Während ich wie mein Onkel Gitarre erlernt hatte, ging Silvia ans Klavier zur täglichen Practice. Ob wir für die kommenden Prüfungen gerüstet waren, interessierte unsere Mutter kaum. Niemals bestand Zweifel, meine Schwester würde ihre gymnasiale Laufbahn erfolgreich abschließen, ich würde eines Tages ein Zertifikat über einen Bachelor oder einen Master nach Hause bringen. Aber im Grunde galt dies als Nebensache. Erst am Nachmittag würden wir Zeit für nahende Examina abzweigen. Ein paar Minuten blieben wir aneinandergeschmiegt liegen, sahen wie abenteuerlustige Kinder zur Decke meines Zimmers hinauf. Dann sprangen wir lachend aus dem Bett. Der Tag versprach wie immer angenehme Sensationen. Dafür bürgten allein schon unsere kunstbegabte Mutter und unser vielseitiger Onkel.

    Wie mein Onkel seine Schwester hielt auch ich meine für das schönste Wesen dieser Welt. Und ich verspürte an diesem Tag das erste Mal Verwunderung darüber, dass wir uns so selbstverständlich dem Inzesttabu fügten. Wenn man sich die besondere Konstellation vor Augen führt, war dies nicht abwegig: vier wunderschöne Menschen, die sich oft und gerne nackt am „Waldsee bewegen, in erotischer Askese. Solcherlei Gedanken waren in mir aufgetaucht, als meine Mutter und ihr Bruder strahlend schön in den See glitten. Wunderst du dich nicht über unsere selbstverständliche erotische Abstinenz, fragte ich plötzlich, laut denkend, meine Schwester. Zunächst schwieg Silvia überrascht. Es war das erste Mal, dass wir Erotisches innerhalb der Familie ansprachen. Bevor ich meine Worte bereute, begann sich meine liebe Schwester zu öffnen. Etwas unsicher gestand sie ein, ihre erste erotische Erfahrung ungeduldig herbeizuwünschen. Natürlich verstand ich Silvia, sie war das einzige unerfahrene Wesen in unserem Quartett. Ich versprach, ihr in jeder gewünschten Weise behilflich zu sein. Meine Mutter und ihr Bruder musterten uns neugierig, nachdem sie ungeniert nackt und in aller Schönheit aus dem Wasser gestiegen waren. Zu fein ihre Sensibilität, um nicht zu spüren, dass etwas bisher Unausgesprochenes angestoßen war. Weder sie noch ihr Bruder drangen aber weiter in uns. Die Vormittage verbrachten wir selten mit Gesprächen, bald wandte sich jeder der ihm eigenen Tätigkeit zu. Nach einer halben Stunde an den Tonleitern widmete ich mich der Fortsetzung meiner Bachelorarbeit. Mein Literaturlehrer hatte mir das Thema „Mythologie in unserer Zeit angeboten. Bereitwillig hatte ich zugestimmt, in der Hoffnung, mein Onkel würde mir darlegen können, aus welcher Quelle ihm seine sagenhaften Erzählungen aufstiegen und wie sehr diese sein Leben bestimmten. Feldarbeit im besten Sinne würde ich mit den entsprechenden Interviews betreiben. Als ich Onkel Simon im Flur begegnete, teilte er mir mit, er werde bald wieder zu einem Waldgang aufbrechen. Da bei diesen Ausflügen die Dauer nicht abschätzbar war, bat ich ihn, mir vor dem Aufbruch noch Auskunft zu geben. Mir ging es nicht nur um Analysen zum Wesen von Mythen und ihr Fortleben, sondern ich wollte die Notwendigkeit des Mythischen für unsere Gesellschaft postulieren. Die Fraktion der Bildschöpfer, egal ob Dichter, Maler, Filmemacher oder andere Künstler, müsse der kapitalistischen Nekrophilie Einhalt gebieten, war meine Grundthese. Ob daraus etwas dem wissenschaftlichen Anspruch meines Betreuers Genügendes entstehen würde, war völlig offen.

    Wir sind einem großen Mysterium gegenübergestellt. An diese Grundhaltung Onkel Simons musste ich denken, als ich meine Schwimmrunde absolvierte. Der Mai verwöhnte bereits mit sommerlichem Flair. Für zwei Tage war ein blitzblauer Himmel in Aussicht gestellt. Ohne Öffnung auf dieses Größere wirst du klein sein, war ein weiterer Grundsatz meines naturverbundenen Onkels. Wenn du dich dem allgemeinen Profitstreben unterwirfst, wird sich dein Leben früher oder später auf das digitale Eins/null-Schema reduzieren. Muss man in unserer tobenden Welt abgeschieden leben, um lieben und im eigentlichen Sinn produktiv sein zu können, überlegte ich, als ich bereits wieder die Holzstiege zu unserer Terrasse emporstieg. Draußen rattern die Maschinen, wir verweigern uns ihrem tyrannischen Lärm durch Rückzug. Wunderbare Stille hüllte mich weit umarmend hier am „Waldsee ein. Bevor ich wieder in die Villa trat, hockte ich mich noch kurz auf die Holzbohlen, um auf den schönen See zu schauen. Unsere Haushälterin Martha hielt uns nicht für Snobs, auch wenn wir in Leinenhosen, dünnen Blusen und anschmiegsamen Hemden zum Mittagstisch kamen. Gewiss anders als die Leute im nächsten Dorf. Dort galten „Die vom Schloss als arrogante Müßiggänger. Unsere mittäglichen Mahlzeiten dauerten mindestens ein bis zwei Stunden, ehe wir uns zur Siesta zurückzogen.

    Seit ich Silvia meinen Beistand bei ihrem erotischen Debüt angeboten hatte, schien sie vor den Ruhezeiten nervös zu sein. Bei der Siesta des nächsten Tages erwartete sie mich unbekleidet in meinem Bett. Um auf dein Angebot, mir behilflich zu sein, zurückzukommen, grinste sie. Ich musste lächeln, als sie darum bat, mich behutsam betasten und befühlen zu dürfen. Mit leisem Feedback zwischendurch ließ ich meine Schwester verschiedene Empfindlichkeiten probieren. Konzentriert hatte sie bald die besonders sensiblen Stellen an meinem Leib ausgekundschaftet, ohne zu weit zu gehen. Wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich dir ein andermal auch gerne einmal bei der Ejakulation zusehen, fügte sie schließlich wie nebenher hinzu. Im selben Augenblick sprang Silvia vergnügt aus dem Bett. Während sie vermutlich ins schöne Nass des Sees stieg, blieb ich liegen. Ich überlegte, wer von unseren jüngeren Gästen ihr als Geschlechtspartner wohltun würde. Auch wenn mir Onkel Simon nicht sein nahes Fortgehen mitgeteilt hätte, war es nun deutlich an seinen in die Weite schweifenden Blicken abzulesen. Seine Seele zog es fort zu den Baumriesen, zum Blick in den Sonnenhimmel, zum Liegen auf nackter Erde, zu Ahnungen über das Verborgene im prall grünen Licht. Bevor du vielleicht für einige Wochen unterwegs bist, brauche ich deinen Rat, sprach ich ihn an. Ich sehe nicht klar, wer Silvia als Erster liebevoll umarmen dürfte. Darum ersuche ich dich, noch bis zur nächsten Abendgesellschaft auszuharren und die Jünglinge mit mir zu sichten. Du siehst die Farben der Seelen, vernimmst ihre Schwingungen. Mein Onkel willigte ein. Bald verloren wir uns in einen philosophischen Diskurs, der mich bei der Bachelorarbeit voranbringen sollte. Onkel Simon setzte mir auseinander, dass Kunst im Allgemeinen und Mythologie im Speziellen als Widerstand zum enthemmten Kapitalismus zu verstehen sei. Wie der Teufel vor dem Weihwasser erschaudern die Finanzspekulanten vor Poesie und Kunst, erklärte er. Echte Kunst ist für sie ein Unding, weil sie die Verflachung der Welt zu Geldscheinen, Kreditkarten und Gewinnzahlen bloßstellt.

    So fieberten wir alle dem Event in der Villa am „Waldsee entgegen, das zwei Tage später eröffnet wurde. Mutter Ella und Onkel Gerhard schüttelten Hände, gaben Begrüßungsküsschen, strahlend jung, als könnte ihnen das Vergehen der Zeit nichts anhaben. Bereits beim Begrüßungscocktail auf der Terrasse deutete mein Onkel mit einem Augenzwinkern auf Harald, einen mir gleichaltrigen Jüngling, auch vom Aussehen her hätte er mein Bruder sein können. Mein Onkel würde den Morgen nicht mehr abwarten, um in Wald, Lichtung und See abzutauchen. Harald war Silvia von Klavierkursen außerhalb der Villa am „Waldsee vertraut, er beherrschte das Klavierspiel ebenso virtuos wie sie. Von nun an würde er gern gesehener Gast in unserem Haus sein. Während auf der Terrasse Harald seine Arme um meine Schwester schlang, tanzte ich mit Miranda, einem weißhäutigen Mädchen aus dem nächsten Ort. Sie studierte Literatur, berückte mich mit ihren aufmerksamen Augen. Wen sie denn für den Erzähler dieses Jahrhunderts erachte, fragte ich, nur um ihr meine Begeisterung für Haruki Murakami zu verkünden. Zu meiner Freude fanden wir uns in der Begeisterung für diesen Welt-Autor vereint. Mein Onkel war bereits von der Bildfläche verschwunden, als ich Miranda neuerlich auf die Tanzfläche zog. Ein wenig legte ich mein Haar an das ihre. Die behutsame Berührung tröstete. Zu oft waren wir gezwungen, Onkel Simon weggehen zu sehen. Erstaunt über die unerwartete Annäherung sah mir Miranda fragend in die Augen. Ich schwieg, in meinem Sentiment über den Abschied befangen.

    Der gemeinsame Frühstückstisch fiel nach solchen Gesellschaften, die sich bis in den Morgen zogen, aus. So fand ich mich um zehn Uhr allein auf der Terrasse am schönen „Waldsee". Seltsam, mit welch vertrauensvoller Kraft mein Onkel in die doch oft unwirtliche Natur auszog, überlegte ich. Schöpft er aus der Quelle eines tief verankerten Urvertrauens, fragte ich mich. Gelang ihm auf diese Weise die Befreiung von der allerorts so verbreiteten Ängstlichkeit. Nach durchtanzter Nacht fühlte ich mich den von mir geliebten Menschen friedvoll nahe. Ein Shuttlebus hatte die meisten Gäste noch vor dem Morgengrauen an ihre Wohnstätten zurückgebracht. Einige wenige waren in Gästezimmern untergebracht und würden im Laufe des Tages abreisen. Der schöne Maienmorgen lud zum Schwimmen ein, ich ließ mich ins Wasser sinken. Leicht bekleidet tauchten nun andere Gäste am Frühstückstisch auf. Harald lehnte wie am Abend zuvor verträumt an Silvia. Das Geschehen auf der Frühstücksterrasse im Blick, ließ ich mich von erfrischenden Strömungen treiben. Der Sommertag versprach seligen Stillstand. Wir haben einander nur gestreichelt und gekost, berichtete Silvia später, als Harald bereits abgefahren war. Allerdings habe ich ihn eingeladen, morgen wiederzukommen, frohlockte sie. Ich wünschte ihr eine glückliche Erfüllung ihrer nach wie vor großen Sehnsüchte. Vielleicht schon in der kommenden Nacht würde Harald die Grenzen eines Neckings überschreiten.

    Knapp unter den Dachbalken an der Seeseite nisteten Stare. Ohne Unterbrechung schienen die elterlichen Vögel das Nest anzufliegen. Sobald sie wieder abflogen, steckten die Küken ihre Hälse aus dem Verschlag, um ihnen nachzusehen und ihre Rückkunft zu erwarten. Da oben unter dem Dach schien es keine Verstörungen zu geben, alles ging seinen gegebenen Gang. Das Tschilpen brandete auf und flaute wieder ab. Mein Onkel hatte, wenn er von seinen Waldgängen zurückkehrte, wiederholt von der Kraft der Raubvögel erzählt. Mit Vorliebe verfolgte er die unerbittliche Jagd von Bussarden, zwischendurch beobachtete er die etwas kleineren Sperber oder Habichte. Meine Mutter saß nackt am See. Wir werden uns auch vor Gästen unserer nackten Körper nicht schämen, lachte sie. Für mich stellte sich eher die Frage, ob jeder der Eingeladenen ihres wunderbaren Anblicks würdig sei. Meine Mutter Ella legte mir ihre warme Hand auf die Schenkel, ich genoss ihre Berührung und war zutiefst von ihrer zauberhaften Jugendlichkeit verblüfft. Nirgendwo die Spur einer Alterung auf ihrer Haut. Auf den zwanzig Jahre alten Fotos glich ihr Aussehen exakt dem heutigen. Mitunter erinnerten mich ihre Züge an Catherine Deneuve. Mit dem gravierenden Unterschied, dass die Grande Dame des französischen Kinos alterte. Harald ist ein guter Gefährte für Silvia, sagte meine Mutter unvermittelt. Was mich angeht, werde ich demnächst nur beim Frühstücken und Schwimmen zugegen sein. Auf mich warten Arbeiten am Instrument, die Disziplin und Konzentration erfordern. Für den Herbst habe ich ein gutes Engagement angenommen, ich werde ein Konzert vor großem Publikum geben. In dieses Programm will ich neue Kompositionen einbinden, die mich fordern. Für mich gab es nichts zu erwidern. Mein Onkel würde sich im Wald aufhalten, meine Mutter hatte mir soeben ihren Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben am „Waldsee" mitgeteilt.

    Ich holte meine Jazzgitarre aus dem Keller. Die Abende sollten grooven. Wir würden Swing-Tänzer einladen. Mir bekannte Jazzmusiker würden für animierende Tunes und angenehmen Nachtsound sorgen. Als neuer Hauptverantwortlicher beschloss ich, diese Partyzeit am „Waldsee" auf drei Wochen zu beschränken. Untertags sollte es nur vereinzelte Gäste geben, aber an den Abenden würden wir das Waldschloss – wie unsere Villa in der Umgebung gern genannt wurde – für partywütige Gäste öffnen. Um nicht zu sehr von den Vorbereitungen und Aufräumarbeiten beeinträchtigt zu sein, musste ich eine weitere Haushaltshilfe anstellen, am besten einen Hausmeister. Mit ihm könnte Martha Tische und Stühle nach Bedarf arrangieren, kleinere Anschaffungen, Umbauten und Reparaturen vornehmen. Ich überließ es ihr, so schnell wie möglich jemand Geeigneten zu verpflichten. Bereits am ersten Abend dieser Veranstaltungen fegten die Swing-Tänzer über das Parkett unseres Ballrooms. Silvia war selig. Immer wieder trat sie an das Jazztrio heran und bat um einen Blues oder eine Ballade, allerdings lediglich, um sich schon auf der Tanzfläche in Harald zu verschlingen. Nach Mitternacht wurden beide nicht mehr gesehen. Ich stellte mir Silvias schöne, schlanke Glieder im Tanz der Liebe vor. Das Spiel der Spiele, das sich über Stunden, über Tage und Nächte ausdehnen kann. Wer noch nie über Stunden Haut an Haut geliebt hat, verlässt Ägypten, ohne die Pyramiden gesehen zu haben.

    Man wünscht einander einen neuen Frühling, man wünscht einander Lieder zum Singen, heißt es in einem Lied. Ohne von einer oder einem Liebsten erwärmt zu sein, bleibt das Leben schal. Von solchen Gedanken beseelt, gesellte ich mich mit meiner Gitarre zum Jazztrio des nächsten Abends, um „I wish you love zu performen. Ich gebe dich frei, liebe Silvia, dachte ich, als ich meinen Sound zunehmend in Sexten, verminderte Quinten oder variable Nonen ausweitete. Der Sänger intonierte gerade die Zeile „I wish you songs to sing. Sosehr ich meiner Schwester eine beglückende Liebe wünschte, so wenig vermochte ich meine keimende Eifersucht zu leugnen. Meine Sehnsucht nach dem wunderschönen Körper Silvias regte sich umso stärker, je gewisser ich sie im Liebesspiel mit einem anderen wusste. Stumpf und starr blieb ich nach dem Gitarren-Einsatz an einem Ecktisch hocken. Miranda bemerkte ich erst, als sie mich am Hemd zupfte. Willst du einen Lindy mit mir auf das Parkett legen, bevor du wieder als Jazzgitarrist brillierst, fragte sie augenzwinkernd. Ich stimmte gerne zu, um vielleicht im Tanz meine bohrende Sehnsucht abzuschütteln. Mein Verlangen nach Silvia riss aber nicht ab. Meine ausgezeichnete Tänzerin dagegen würdigte ich kaum eines Blickes. Wollte ich einen Roman schreiben, würde ich jetzt deine Gedanken erforschen, zischte sie mich endlich verärgert an. Im Augenblick aber finde ich deine Ignoranz geschmacklos und gemein. Gekränkt stieß sich Miranda von mir ab und ließ mich auf dem Tanzparkett stehen. Mir war nach Davonlaufen. Silvia schmuste bereits auf einer Polsterbank, fuhr Harald mit ihrer schmalen Hand unter das Hemd. Bald würden sie sich ins Liebesbett davongestohlen haben.

    Meine Mutter fand ich bereits um acht Uhr morgens über Noten gebeugt am Klavier. Mich zerreißt es, wenn ich nicht fliehe, erklärte ich ihr und bat um Pardon für die Störung. Ich muss unverzüglich aufbrechen. Meine Mutter erfasste sogleich, dass ich mit mir ins Reine kommen musste, und ermutigte mich zum Aufbruch. Geh nur, mein Lieber, flüsterte sie, wir sehen uns bald wieder. Der Sommer war freundlich genug, um die eine oder andere Nacht im Freien zu verbringen. Zwei oder drei Tage würden mir genügen, um mein Gefühlschaos bezüglich Silvia, aber auch meine Orientierungslosigkeit besser in den Griff zu bekommen. Wie müßig war es, über Mythen zu schreiben, solange einem die Hintergründigkeit der Welt so unzugänglich blieb. Auf mich selbst zurückgeworfen, hoffte ich inmitten unberührter Natur auf Erhellendes. Vielleicht würde ich sogar auf Onkel Simon treffen, der mir beistehen könnte. Im näheren Umkreis fanden sich ausgetretene Steige, die ein flottes Vorwärtskommen ermöglichten. So schritt ich kräftig aus und ließ gern das Waldschloss hinter mir. Sonnenstrahlen leuchteten zwischen den Stämmen hindurch den Waldboden aus und zauberten Grüntöne in die Welt, die meinen Atem beruhigten. Meine Positionen anhand der Himmelsrichtungen ortend, speicherte ich eine Art Kartografie in meinem Gedächtnis ab, um auf dem Rückweg nicht in der Wildnis irrezugehen. Die Sehnsucht nach Silvia verlor zusehends an Qual.

    Früh kam der Sommer in diesem Jahr. Die Hitze ließ mich bald in den nächsten See an dem abgelegenen Weg steigen. Obwohl ich nicht das erste Mal in diesem Areal unterwegs war, kam mir dieses Gewässer unbekannt vor. Vermutlich war ich noch nie hier geschwommen, vielleicht war hier überhaupt noch nie ein menschliches Wesen geschwommen. Gern überließ ich mich einer Strömung, die sich kühler als das sie umgebende Seewasser anfühlte. Selbst als diese Strömung überraschend Fahrt aufnahm, stieg mein Behagen. Wie bei einer Bahnfahrt zogen Birken an mir vorbei, ich war bezaubert von der Landschaft. Das Wasser, in dem ich mit ausgestreckten Armen lag, blinkte einmal grün, einmal blau, dann wieder verschloss mir das blitzende Licht die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war ich überrascht: Am Ufer dieses Sees zeigte sich ein kleines, aber mit Liebe erbautes Holzhaus. Die Frau auf der Terrasse schien mich bereits entdeckt zu haben, sie war aufgestanden und spähte überrascht zu mir herüber. Ich ließ es geschehen, dass mich die erfrischende Strömung an ihre Seestiege spülte. Hallo, sagte sie, das nenne ich einen unverhofften, aber willkommenen Zufallsgast.

    Ohne zu zögern, kam ich ihrer Einladung, aus dem Wasser zu steigen, nach. Während der Begrüßung versuchte ich mir ein Bild von der See-Frau zu machen. Sie schien hier heimisch zu sein, hinter dem Haus hörte man Hühnergegacker, und ein Hund schnupperte an meinen Beinen. Ob es denn nicht etwas einsam hier mitten im Wald sei, fragte ich. Keineswegs, antwortete sie, eine Waldhexe gehöre in den Wald. Sie lachte: So bezeichnen mich jedenfalls die Leute aus der Gegend, ergänzte sie. Tatsächlich entdeckte ich keine Spur von Verbitterung oder Verdüsterung an ihr, sie schien in ihrer Waldeinsamkeit zufrieden. Soweit ich es überblickte, schien ihr nichts abzugehen. Bei unvoreingenommener Betrachtung war sie von Reichtum umgeben: Der See glitzerte sommerruhig. Ein paar Wasservögel flatterten, schnatterten. Auf den Holzbrettern sah ich eine Angel liegen, wahrscheinlich war im Inneren des Hauses zudem eine Schrotflinte bereitgestellt, um Enten oder anderes Wild zu jagen. Ist der Hund ein Jagdhund, erkundigte ich mich. Sie schüttelte den Kopf: Nicht wirklich, aber ich habe ihm beigebracht, Enten zu apportieren. Regina, so hieß die besondere Dame, faszinierte mich, altersmäßig schätzte ich sie auf etwa fünfzig.

    Dein Onkel Simon übernachtet hier manchmal, erzählte sie später. Zunächst war ich verblüfft. Ich will dich ja nicht verschrecken, fuhr sie fort, aber dein Onkel kommt vor allem deshalb zu mir, weil ihn seine Suche nach einer größeren Wirklichkeit von eurem ordentlichen Zuhause forttreibt. Ich war verwirrt, verstand nichts. Bevor ich nachfragen konnte, hatte die Waldhexe mir ihre Faust entgegengereckt und begann sie, alle Finger auffächernd, zu öffnen. Wie eine Blumenblüte schien sich diese Hand aufzutun. Mein Leib wurde von Hitze durchwallt, in mir sprangen Sätze auf. Vielleicht haben wir alle einmal auf Pferden gekämpft, lautete einer von ihnen. Eine Vision erfasste mich, während meine Augenlider zu zittern begannen, mein Atem sich vertiefte. Ich sah mich tief über einen Pferdenacken gebeugt, mich an Zügel und Mähne klammernd, dahinjagen. Tiefe Dämmerung lag über dem Land, ein Dorf tauchte auf, an dessen Rand die Fenster uns Anreitenden entgegenleuchteten. Eine Stimme kommandierte Attacke. Ich war von diesem nächtlichen Reiterangriff fasziniert, verspürte kein bisschen Angst. Als wir das Dorf erreichten, löste sich das Bild auf. Den Ausgang dieses Abenteuers zu erleben, blieb mir verwehrt. Allmählich begann ich Regina und die Seeterrasse wieder wahrzunehmen. Die Hand der Frau hatte sich wieder geschlossen. Als ob sie damit eine Traumblüte verschlossen hätte. So wie ich wegen meiner Visionen am „verborgenen See" lebe, so sehr bedarf dein Onkel mitunter dieser Absencen, erklärte sie. Ich wusste nichts zu entgegnen, ahnte aber, was Regina mit größerer Wirklichkeit gemeint hatte.

    Fasziniert von der neuartigen Erfahrung, zierte ich mich nicht lange, der Einladung zur Übernachtung zu folgen. Als sich die Dämmerung über See und Haus legte, ging Regina noch einmal schwimmen. Der See ist mein bester Freund hier, bekundete sie, als sie, wieder auf dem Trockenen, sich zum Wasser hin verneigte. Ich konnte seine verlockende Einladung nicht ausschlagen, als ich mich unter den Geschäftigen nicht mehr heimisch fühlte, fuhr sie fort. Kein Monat länger hätte ich es in der Stadt ausgehalten, obwohl mein Architekturbüro gut gelaufen ist. Nicht nur Hektik und Lärm setzten mir zu. Meine Ehe zerbrach schlagartig, als ich die heftiger werdenden Visionen in mein Leben integrieren musste. Für meinen damaligen Mann war ich unheilbar in die Geisteskrankheit abgerutscht. Wäre ich in der Stadt verblieben, wäre ich vermutlich bereits in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie eingewiesen worden. Eine Spur Traurigkeit über ihr einsiedlerisches Leben spürte ich nun doch in ihrer Stimme. Dieser Anflug von Traurigkeit ist nur falsche Sentimentalität, entschuldigte sich Regina rasch für die Anwandlung. Mit einer abrupten Bewegung ihrer Hand wischte sie unsere trüben Gedanken weg. Kein Trübsal bitte, verlangte sie, ich hatte mit meinem Mann gute Jahre. Vermutlich hätte ich die Ehe nach den fünf Jahren unseres Zusammenlebens selbst ohne meine nicht mehr zu verdrängenden Trancen aufgelöst. Lediglich vorübergehend erlebe ich Männer sexuell attraktiv. Ihre Sexualität verflacht mit der Zeit zu einem jämmerlichen und absehbaren Spiel, zu einer üblen Gewohnheit fast. Zudem vermag ich nach einem Jahr das aufgeplusterte Gehabe von Männern kaum mehr zu ertragen. Immerhin habe ich mit meinem Ehemann fünf passable Jahre verlebt. Ist das nicht eine Leistung. Sie blitzte mich schelmisch an, ich bemerkte, dass sie mich ein wenig neckte. Mir lag es fern, für mein Geschlecht eine Lanze zu brechen.

    Regina hatte mir für den nächsten Tag eine ausgiebigere Trance-Sitzung in Aussicht gestellt, damit ich mit meinen Wirrungen ins Reine kommen konnte. Ich werde für dich arbeiten, erklärte sie. So wie das alle Schamaninnen und Schamanen auf der ganzen Welt getan haben und tun. Trancen kannte ich bis zu diesem Tag nur aus der Lektüre und Erzählungen. Die See-Frau schlief noch, als ich aus Nervosität früh erwachte. Der See war still. Bald die ersten Flügelschläge einer Ente, wenig später querte ein Storch die Bucht am Haus. Ich besah meine Hände, sie leuchteten in kräftigem Sommerbraun. Einen weiteren Tag und eine Nacht wollte ich noch meine Kraft in freier Natur erproben. Bevor Regina einen Ratschlag hatte geben können, war mir intuitiv klar geworden, diszipliniertes Arbeiten im Waldschloss würde mich voranbringen. Die Bachelorarbeit war eine einfache, aber unverzichtbare Übung, Begonnenes fertigzustellen. Na siehst du, hörte ich da die Stimme der ebenfalls erwachten Regina. Wenn du ein wenig deiner inneren Führung vertraust, klärt sich manches von allein. Ich fragte mich, ob sie auch noch Gedanken lesen konnte. Sie legte mir ihre Hand beruhigend auf die Schultern. Ein wenig atmete sie synchron mit mir, dann wies sie mich an, mich auf die Holzbalken zu legen. Gerne kam ich dem nach, inzwischen hatte ich zu der geheimnisvollen Frau Vertrauen gefasst. Regina legte mir ihre Hände auf das Sakral-Chakra, dann auf den Solarplexus. Dein Vertrauen in dich selbst ist labil, klärte sie mich nachspürend auf. Unter ihren Händen überkam mich das Gefühl, der Raum würde sich weiten, ich selbst sinken. Deswegen solltest du darauf achten, dir deines Leibes und seiner Schönheit positiv bewusst zu bleiben, fuhr sie fort. Viele Jahre kannst du aus deinem gesunden Körper Schaffenskraft schöpfen, wenn du ihm liebevolle Zuwendung schenkst. Die Würde deines leiblichen wie seelischen Selbst ist unverbrüchlich. Gute Hexe, dachte ich und kippte in eine tiefe Trance, aus der ich erst nach einer halben Stunde erwachen sollte. Als geistige Führerin visualisierte ich eine weiße Frau, die ihre Arme und Hände zum Himmel erhoben hatte. Ins Tagesbewusstsein zurückkehrend, hielt ich vorerst noch die Augen, erschöpft und tief atmend, geschlossen. Nach geraumer Zeit rief mich Regina an den Frühstückstisch zu Eierspeise mit Fisch. Stärke dich, lud sie mich lächelnd ein. Als Dankeschön für die Aktivierung deiner Chakren verlange ich lediglich dein Wiederkommen. Und dein Vorwärtskommen, ergänzte sie.

    Als ich davonschwamm, wandte ich mich um. Die Waldhexe saß in ihrem Korbsessel auf der Terrasse und sah meinen kräftigen Schwimmbewegungen nach. Der weiße Hund auf ihrem Schoß hatte seinen Kopf gehoben. Mein Gewand fand ich vor, wie ich es abgelegt und an einem Baum verstaut hatte. Ich fühlte mich voller Tatendrang, zog weiter in die wilde Natur. Bald tat sich

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