Die Zone
Von Mireille Zindel
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Über dieses E-Book
Beim Treppensteigen hält er die Luft an, im Schwimmbad legt er sich bewegungslos so lange wie möglich auf den Beckengrund. Cyril ist No-Limit-Weltmeister im Apnoetauchen. Seine Konkurrenten sind immer bereit, den letzten Rekord zu brechen.
An Land, in Paris, warten auf ihn zwei Kinder aus einer gescheiterten Ehe und oft wechselnde Partnerinnen für immer härtere sexuelle Eskapaden. Dazu sein bester Freund und Tauchpartner Aurel und die Pläne, auszusteigen und eine eigene Tauchakademie zu gründen. Eine Weile gelingt Cyril diese Gratwanderung zwischen den Polen, bis er eines Tages zu viel wagt.
Mireille Zindels neuer Roman spiegelt sprachlich virtuos den Zustand des permanenten Atem-Anhaltens: hochverdichtet und poetisch präzise schildert "Die Zone" die Tiefen von Cyrils Leben. Mireille Zindel schafft hier, was nur aussergewöhnliche Romane erreichen: Die perfekte Einheit von Motiv, Sprache und Stil.
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Buchvorschau
Die Zone - Mireille Zindel
Badehose, Maske, Nasenklammer, Lampe.
Es ist dunkel in der Tiefe. Dort, wo er hingeht, gibt es kein Blau mehr.
Cyril schultert die Tasche und schlägt den Weg zum Strand ein. Sein Team wartet auf ihn. Heute wird es nur ein leichtes Training sein, um seinen Körper an den Druck zu gewöhnen.
Once you have seen it
you can never unsee it
geht es ihm auf dem schmalen Sandpfad durch den Kopf. Die Wasseroberfläche beim Auftauchen, die zitternden Wellen. Lichtstrahlen, die alles in Blau verwandeln. Und dann: Luft.
Er hält den Weltrekord in Apnoetauchen in der Kategorie No Limit. Zweihundertfünfzehn Meter in einem Atemzug. Mithilfe eines Metallschlittens zieht es ihn in die Tiefe. Ein Druckluftkissen zieht ihn wieder hoch. Bei zehn Metern Tiefe ein kurzer Dekompressionsstopp, bevor er ganz aufsteigt. Lila Luft.
In Moorea, einem Atoll im Pazifischen Ozean, war er zum ersten Mal auf Unterwasserjagd, nur mit Speer und Maske. Nicht einen Fisch hat er mit hochgebracht, doch mit dem Untertauchen nicht mehr aufgehört.
Er war in jedem Ozean, in jedem der kleinen Meere. Seine Lungen fassen viel. Das ist das Resultat alter Geschichten, die längst Teil seines gefügigen Körpers sind. Tochter, Vater, Mutter, Bruder. Alle haben sie die Intensivstation nicht mehr verlassen. Ihre Leben waren vollendet gewesen und auch nicht. Lang, kurz, viel zu kurz gewesen. Sauerstoffunterversorgung und Morphin, bis das Herz versagte.
Die Sauerstoffsättigung fällt und fällt und fällt.
Neunzig Prozent, achtzig Prozent, siebzig Prozent
die Morphinabgabe wird erhöht.
Herzrhythmusstörung im tiefsten Schlaf.
»Ein Schlag pro Minute.«
Das Erstellen der Sterbeurkunde mit dem exakten Todeszeitpunkt. Der Körper wird in einen gekühlten Raum mit fünf Grad Celsius verlegt.
»Wacht er wieder auf?«
Kopfschütteln aufseiten des Arztes. »Möglich, dass er die Augen nochmals öffnet, dass die Lider plötzlich flattern, aber er kommt nicht mehr zu Bewusstsein. Das Morphin wirkt sedierend, das Hirn hat nicht mehr genügend Sauerstoff, ab jetzt schläft er nur noch tiefer und tiefer ein.«
Vater. Zehn Uhr abends, der zweite Mai. Draußen war es dunkel geworden. Ein leiser Regen hatte eingesetzt. Hin und wieder war das entfernte Donnern eines Gewitters zu hören gewesen.
»Dann gehe ich jetzt.«
Er hatte nicht bis zum letzten Atemzug zuschauen wollen. Er wollte seinen Vater regelmäßig atmend in Erinnerung behalten, als würde er zu Hause auf dem Sofa liegen. Cyril verabschiedete sich und ging.
Bis es eines Tages sein eigener letzter Atemzug …
dachte er im blau gefliesten Gang. Grüne Türen. Neonröhren. Viszeral-, Thorax- und Transplantationschirurgie. Magenkrebs. Lungenentzündung.
Als er seinen Vater am nächsten Tag wiedersah, im unterirdischen Aufbahrungssaal, in den Katakomben des Universitätskrankenhauses, war ihm, als atmete er noch.
Da lag er im blauen Krankenhemd, die Haut wie Wachs. Als Cyril die Wange berührte, war er nicht mehr erstaunt über die Kälte.
Von der Kälte seiner Tochter war er noch zurückgeschreckt.
»Kälter, als er es wäre«, bestätigte der Pfleger. »Das liegt am Aufenthalt im fünf Grad kalten Raum.«
Vaters Nase war ganz krumm, nach links geknickt, wegen der Nasensonde, die er zuletzt getragen hatte.
»Er braucht null Prozent Atemunterstützung!«
»Dreißig Prozent.«
»Siebzig Prozent …«
»Herr Salomon? Hören Sie mich? Wir sehen, dass Sie Mühe haben zu atmen. Im Moment gibt es nichts, was wir noch für Sie tun können.«
Ob Vater verstanden hatte, was der Arzt ihm damit sagte?
Neoprenanzug.
Es ist kalt in der Tiefe.
Angefangen hat er in der Kategorie Free Immersion. Es ist eine reine Disziplin. Er zieht sich die Leine runter und wieder rauf. Ohne Flossen. Ohne technische Hilfsmittel.
Du tauchst ab. Wie eine Ente, Kopf voran. Du folgst dem weißen Führungsseil in die Tiefe. Nach zwanzig bis dreißig Metern wird der Druck auf deinen Körper so groß und das Lungenvolumen so klein, dass der Körper von alleine zu sinken beginnt wie ein Stein. Du hast keinen Auftrieb mehr. Der freie Fall. In dem Moment hörst du auf zu schwimmen und konzentrierst dich nur noch auf den Druckausgleich und deine Körperhaltung. Es ist der Moment, da das Meer dich akzeptiert. Du fällst immer schneller und versuchst, diese Geschwindigkeit auszunutzen. Du hast die Augen geschlossen. Es ist wie fliegen. Du fühlst dich gut, denn der Tiefenrausch setzt nach ungefähr fünfundsechzig Metern ein. Der Stickstoff im Körper beginnt, narkotisch zu wirken. Du hast kein Zeitgefühl mehr. Du nimmst die Dinge nicht mehr bewusst wahr.
Die Leine ist genau so lang, wie du am Vortag angegeben hast. Am Seilende hängt ein kleines Klettstück, das reißt du ab und bringst es als Beweis nach oben.
Auf dem Weg nach oben darfst du nicht ungeduldig werden. Du musst auf deine Schwimmtechnik achten. Rhythmische und effiziente Bewegungen.
Bei etwa fünfundzwanzig Metern kommen dir die Sicherheitstaucher entgegen. An der Wasseroberfläche atmest du tief ein. Schon nach dem ersten Atemzug fühlst du dich besser, weil Kohlendioxid aus deinem Körper entweicht.
Zwei Monate vor seinem ersten Wettkampf hatte er zu rauchen aufgehört und mit seinem eigenen Training begonnen. Er war an Bord von französischen Fischerbooten gegangen und jeden Tag ein bisschen tiefer getaucht.
Drei Meter
fünf Meter
sieben Meter
mithilfe eines mit Blei gefüllten Speers.
Irgendwann lässt die Oberfläche dich los.
Den Fischern hatte er nicht erzählt, worum es ihm wirklich ging, doch sie merkten schon bald, dass er nicht zum Fischen mitgekommen war. Er tauchte nie mit einem Fisch auf und blieb immer länger unter Wasser.
Er trainiert, indem er jeden Tag beim Treppensteigen in den fünften Stock die Luft anhält. Im Bett hält er die Luft an. Vor dem Computer hält er die Luft an. Zwei Minuten lang atmen, dann ausatmen und die Luft ausgeatmet anhalten. Das Ganze wieder von vorn. Außerdem Dehnübungen, damit die Lunge flexibel bleibt.
Im Meer trainiert er an der Tiefe. Taucht, sooft es geht, siebzig bis achtzig Meter tief, damit sein Körper an die Tiefe gewöhnt bleibt.
Er steigt ab, so weit, wie es für ihn noch sicher und komfortabel ist.
Und dann: einen Meter tiefer
zwei Meter
drei Meter tiefer, wo es anspruchsvoll für ihn wird.
Und wieder hoch.
Er trainiert nie in Wassertanks, er ist klaustrophob.
Im Schwimmbad arbeitet er an seiner Technik und übt, den Drang zu atmen zu kontrollieren. Er tut es heimlich, damit sich niemand erschreckt. Wenn keiner hinschaut, taucht er unter, legt sich auf den Boden, wo ihn – wie er hofft – niemand entdeckt. Geschieht es trotzdem, wird er gerettet. Wie oft wurde er schon vermeintlich gerettet? Er bedankt sich jedes Mal nett.
Der entscheidende Moment ist der, wenn das Gesicht ins Wasser taucht. Dann finden die körperlichen Anpassungen statt, der Tauchreflex. Die Verlangsamung des Herzschlags, die Gefäßverengung, die Erhöhung des Blutdrucks, die Umverteilung des Blutes von den Extremitäten hin zu den lebenswichtigen Organen. Aufgrund dieses Phänomens erreichen Apnoetaucher Tiefen, die Wissenschaftler vor einigen Jahren noch für unmöglich hielten.
Die Natur hat dir Grenzen gesetzt, aber du weißt nicht, wo sie liegen.
Irgendwann hat er mit No Limit begonnen. Der Disziplin, die es ihm erlaubt, technische Hilfsmittel seiner Wahl einzusetzen, um in größere Tiefen vorzustoßen. Es ist eine der tödlichsten Sportarten der Welt. Ein Gewichtsschlitten zieht ihn so schnell wie möglich hinunter, ein luftgefüllter Hebesack drückt ihn wieder nach oben. So kommt er deutlich tiefer. Das mögen die Medien.
Heute taucht er nur auf siebzig Meter in ungefähr einer Minute. Da stehen sie am Strand und warten auf ihn. Mit dem Boot fahren sie raus, erreichen die anderen, die auf einem Katamaran alles vorbereitet haben.
Diese Hektik. Diese Logistik. Er muss nicht ganz bei Trost sein. All die Leute, die für ihn arbeiten.
Er setzt sich an den Schiffsrand, die Beine im Meer.
Spritzt sich Wasser ins Gesicht, setzt sich die Nasenklammer auf, holt tief Luft.
Kopf und Hände voraus zieht es ihn am Schlitten runter.
Es ist schon sehr bald sehr dunkel.
Auf zwanzig Metern zwei Ärzte mit Pressluftflaschen.
Auf sechzig Metern zwei Ärzte mit Pressluftflaschen.
Der Druck, der auf seinem Körper lastet, ist groß.
Sieben Kilo auf jedem Quadratzentimeter.
Rauf am Führungsseil mithilfe des Ballons.
Wenn es dich nach unten zieht, siehst du die Größe des Meeres nicht. Du siehst nur Tiefe. Erst wenn du unten bist, siehst du wieder die Größe, wie wenn du an Land bist und übers Meer blickst.
Du bist alleine
du hast noch etwas Sauerstoff
du hörst dein Herz
du spürst dein Blut.
Als er anfing, hielt er es im Pool vierzig Sekunden unter Wasser aus.
»Aber du bewegst dich schon wie ein Fisch.«
Aurel. Von Anfang an dabei.
Als Cyril