Morphodit
Von Dietrich Novak
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Buchvorschau
Morphodit - Dietrich Novak
Prolog
In diesem Jahr gab es Ende September noch warme Tage und milde Nächte. Entsprechend geschäftig war das Treiben im Berliner Tiergarten, besonders in der Nähe der Siegessäule. Die Bäume und Büsche trugen noch Grün, verfärbten sich aber schon vereinzelt in Richtung Gelb. Und die ersten Laubteppiche säumten die Wege. In den geschützteren Ecken standen Männer einzeln, zu zweit oder zu dritt. Andere spazierten die Wege entlang oder lehnten an den Geländern der schmalen Brücken.
Das Paar hatte sich erst vor wenigen Minuten gefunden. Wenige Blicke oder ein Griff in den eigenen Schritt hatten genügt, dass man sich einig war. Das Ganze hatte sich weitgehend wortlos abgespielt. Die wenigsten wollten sich hier unterhalten, sondern cruisen, was zwar sehen und gesehen werden bedeutete, an diesen Orten zu nächtlicher Stunde aber für ein flüchtiges, sexuelles Abenteuer stand.
Auf der Suche nach einem ungestörten Plätzchen schlugen sich die beiden Männer in die Büsche und landeten auf einer kleinen Lichtung, auf der einsam ein Baum stand. Eine offensichtlich männliche Gestalt saß an den Baum gelehnt, die Basecap tief auf die Stirn gezogen.
»Komm, lass uns woanders hingehen!«, sagte der Jüngere von beiden. »Der pennt oder schläft seinen Rausch aus.«
»Bis vor Kurzem muss er noch Sex gehabt haben«, meinte der Ältere. »Er hat immer noch einen Ständer in der Hose. Siehst du, wie feucht das Hemd ist? Es hat doch gar nicht geregnet. Vielleicht hat ihn jemand angepinkelt, oder er hat sich vollgekotzt.«
»Mir egal, lass uns gehen!«
»Warte mal! Irgendetwas stimmt da nicht. Es sieht aus, als würde er gar nicht atmen. Ich tippe ihn mal an und frage, ob alles okay ist.«
Schon bei der ersten Berührung kippte der Körper zur Seite und blieb bewegungslos liegen.
»Du das ist weder Wasser noch Pisse, sondern Blut. Der ist tot. Wir müssen die Kripo rufen.«
»Mach doch! Ich will keinen Ärger haben. Nachher heißt es noch, einer von uns hat ihn umgebracht. Also, ich geh dann mal. Tschüs!«
Der Zurückgelassene zückte sein Handy und rief die Polizei an. Er hatte sich die Nacht zwar gänzlich anders vorgestellt, war aber verantwortungsvoll genug, seine Bürgerpflicht zu erfüllen.
1. Kapitel
Hauptkommissarin Valerie Voss hatte sich unlängst gewünscht, zum nächsten Tatort nicht wieder bis ans andere Ende der Stadt fahren zu müssen. Manche Wünsche erfüllen sich schneller als gedacht.
»Komm, Val! Wir haben einen neuen Fall«, sagte ihr Mann und Kollege Hinnerk Lange. »Männliche Leiche im Großen Tiergarten.«
»Wie praktisch, dann können wir ja zu Fuß gehen. Noch lieber wäre mir allerdings gewesen, man hätte sie zu einer zivileren Zeit entdeckt. Werde ich langsam alt oder kommt es mir nur so vor, als würden wir grundsätzlich nur noch nachts aus den Federn geholt werden?«
»Ich glaube nicht, dass es häufiger als früher ist«, zog sich Hinnerk aus der Affäre.
»Wer läuft nachts im Tiergarten herum und stolpert über Leichen? Das kann doch nur ein Schwuler sein.«
»Ist doch Wurscht. Wenigstens ist die Leiche noch halbwegs frisch und nicht schon halb verwest. Lass uns unsere Joggingklamotten anziehen. Ein bisschen Bewegung wird uns guttun.«
»Joggen will ich am frühen Morgen und nicht mitten in der Nacht. Aber es kann durchaus sein, dass die Stelle so abseits liegt, dass wir mit dem Wagen eh nicht herankommen würden.«
Wenig später verließen beide ihr Haus am Rande des Tiergartens in Freizeitkleidung. Durch ihre langen, zusammengebundenen Haare wirkten sie, als hätten sie sich im Partnerlook zurechtgemacht. Nur Valeries Haare waren weißblond aufgehellt und Hinnerks glichen mehr der sprichwörtlichen Farbe eines Straßenköters. Das hübsche Paar, dem man sein Alter nicht ansah, hatte bereits einen erwachsenen Sohn, der gerade volljährig geworden war. Ben zog es vor, in WGs zu wohnen, um nicht von seinen Eltern kontrolliert zu werden. Dass weder Valerie noch Hinnerk derlei Ambitionen verfolgte, negierte Ben erfolgreich. Allein der Gedanke, über jeden Schritt Rechenschaft ablegen zu müssen, reichte ihm schon.
Der Tatort war schon weitläufig abgesperrt, als der KTU Mitarbeiter Manfred Hoger auf die beiden zukam und ihnen die obligatorischen weißen Schutzanzüge reichte. Zähneknirschend zog Valerie den Overall an und streifte die blauen Plastiküberschuhe über.
»Ist die Identität des Toten schon bekannt?«, fragte Hinnerk.
»Das ist eine seltsame Angelegenheit«, sagte Manfred. »Von der Kleidung her könnte man meinen, es handele sich um einen Mann. Hose, Holzfällerhemd und Basecap, aber dem Ausweis nach ist es eine Frau. Man könnte diesen Menschen durchaus für einen Morphodit* halten.«
»Vielleicht ist der Ausweis gestohlen oder sie war eine Lesbe?«
»Gestohlen ist der Ausweis nicht. Das Foto stimmt mit der Leiche überein.«
»Also doch lesbisch? Fragt sich nur, was sie nachts hier im Park gemacht hat. Oder ist der Fundort nicht der Tatort?«
»Eher nicht. Dann müsste viel mehr Blut zu finden sein. Man hat ihr nämlich die Brüste abgeschnitten, und in der Vagina steckt ein Dildo.«
»Pfui Deibel, also wieder so ein Irrer, der hier sein Unwesen treibt«, sagte Valerie. »Gibt es eigentlich nur noch Durchgeknallte?«
»Auf mich wirkt es so, als wollte man sie bestrafen. Entweder weil sie ihre Weiblichkeit verleugnete, oder auf das reduzieren wollte, was sie einmal war.«
»Du meinst, sie ist eine Transe, die sich einer Mann-zu-Frau Operation unterzogen hat?«
*Morphodit ist die ältere Bezeichnung für einen Menschen, dessen
Geschlecht nicht eindeutig zuzuordnen ist. (Anmerkung des Autors)
»Wäre möglich. Die Rechtmedizin wird euch die Erklärung bringen. Frau Kern und Herr Habich sind schon bei der Arbeit.«
»Gut, dann werde ich die gleich mal sprechen«, sagte Valerie lächelnd. »Hinni, du kannst ja Manfred noch weiter befragen.«
»Ja, geh nur! Ich komme dir schon nicht ins Gehege.«
Hinnerks seltsame Aussage bezog sich auf die Tatsache, dass sich zwischen Valerie und Stella Kern gerade etwas anbahnte. Keine große Sache für Hinnerk, da er auf Frauen nicht eifersüchtig war. Außerdem war Valerie schon immer zweigleisig gefahren und hatte über längere Zeit ein Verhältnis mit Stella Kerns Vorgängerin, Tina Ruhland gehabt. In ihrer Ehe sprach man offen über derlei Dinge, weil Besitzdenken beiden fern lag.
»Gibt es brauchbare Spuren?«, fragte Hinnerk, als Valerie weitergegangen war.
»Das muss sich noch herausstellen. Da ist ziemlich viel herumgetrampelt worden. Unter anderem von dem, der die Leiche gefunden hat. Er steht da drüben und ist eher abgenervt als ängstlich, wenn du mich fragst.«
»Ich spreche gleich mit ihm. Habt ihr ein Handy oder persönliche Dinge bei ihr gefunden?«
»Nein, eine Handtasche hatte sie ja nicht dabei. Der Ausweis steckte in der Brusttasche des Hemdes. Als wollte man den Zettel am Zeh vorwegnehmen.«
»Wenn uns jemand die Arbeit erleichtern will, muss er zwingende Gründe haben. Und wenn es nur der Hinweis auf diese spezielle Person ist.«
Valerie begrüßte Stella mit einem Kuss auf die Wange, was Knud etwas befremdlich aufnahm.
»Hallo, werden wir mal wieder um die Nachtruhe gebracht«, sagte Valerie.
»Ja, wie üblich. Schön dich zu sehen. Der Anlass ist mal wieder alles andere als schön.«
»Hoger hat da so eine Vermutung geäußert. Ich würde dich bitten, bei der Toten darauf zu achten, ob es sich um eine biologische Frau handelt oder ob an ihr eine Geschlechtsangleichung vorgenommen wurde. Du erkennst das doch, oder?«
»In der Regel schon. Auch wenn es sehr gut gemacht ist. Was veranlasst euch zu dieser Vermutung?«
»Das Ganze erinnert an eine Bestrafung. Warum sollte man einer Frau die Brüste entfernen und ihr einen Kunstpenis in die Vagina stecken?«
»Vielleicht aus Hass gegenüber Frauen?«
»Und was soll die Verkleidung? Ich glaube kaum, dass sie freiwillig so herumgelaufen ist. Für eine Kampflesbe hat sie zu lange Haare. Hoger könnte Recht haben. Da wollte jemand etwas rückgängig machen, weil
er mit der Geschlechtsanpassung nicht einverstanden war.«
»Ziemlich rüde Methoden …«
»Wer weiß schon, was in den Köpfen von Psychopathen vorgeht? Je mehr ich mit denen zu tun habe, desto weniger möchte ich es eigentlich wissen. Eine Erklärung für ihr verwerfliches Tun ist es in den meisten Fällen eh kaum. Zu abstrus sind die Gedankengänge.«
Als Valerie und Hinnerk leicht übernächtigt einige Stunden später ins Büro kamen, informierten sie Heiko Wieland über den neuen Fall. Der smarte Kommissar aus Wiesbaden, der mit seinem Freund zusammenlebte, war erst unlängst zu ihnen gestoßen. Inzwischen wohnte sogar Ben als Untermieter bei Heiko und Fabian. Anfangs in zwei Zimmern mit eigenem Bad und separatem Eingang. Doch dann hatte Heiko seinen Bruder Tobias wiedergefunden, der jahrelang als vermisst galt. Tobi, der sich mittlerweile Sergej nannte, war Päderasten in die Hände gefallen, nach Hamburg verschleppt worden und später nach Berlin geflüchtet, wo er als Stricher arbeitete. Um ihn aus dem Milieu herauszuholen, hatte Heiko ihn bei sich aufgenommen. Was für Ben bedeutet hatte, ein Zimmer abzugeben. Doch da sich alle gut verstanden, war das kein Problem gewesen.
»Die Befragung des Zeugen hat nicht viel gebracht«, sagte Hinnerk. »Als er mit seinem Cruisingpartner am Fundort ankam, war die Frau schon tot. Vom Täter gab es natürlich keine Spur mehr. Aufgrund der Kleidung dachten die beiden zunächst, es handle sich um einen Mann. Die von dem Kunstpenis verursachte Beule in der Hose hielten sie für eine Erektion. Dass man der Frau die Brüste amputiert hatte, auf den Gedanken kamen sie deshalb nicht, wunderten sich nur über das blutdurchtränkte Hemd.«
»Dass der Tiergarten nachts so gefährlich ist, hätte ich nicht gedacht«, sagte Heiko.
»Ja, lass dir das eine Lehre sein«, meinte Valerie. »Falls dir auch mal nach sexueller Abwechslung zumute ist.«
»Also hör mal! Weder provoziere ich die Kerle, indem ich in Frauenkleidern herumlaufe, noch bin ich notgeil, da ich in einer festen Beziehung lebe.«
»Das sieht man doch nicht so eng bei euch. Und in unserem Fall war es umgekehrt. Eine Frau trug Männerkleidung.«
»Das erinnert mich an den Fassbinder-Film „In einem Jahr mit dreizehn Monden"«, sagte Heiko. »Die Transsexuelle geht nachts in den Park zu den Schwulen und wird fürchterlich vertrimmt, als man merkt, was Sache ist. Glaubt ihr, unser Opfer hatte es sich auch anders überlegt?«
»Das wäre zumindest ein ganz neuer Gedanke«, sagte Hinnerk. »Ich kenne zwar den Film nicht, aber der Vergleich ist nicht von der Hand zu weisen.«
»Das erscheint mir weit hergeholt«, meinte Valerie. »Das fand ich schon in dem Film fragwürdig. Schwule wollen etwas in die Hand nehmen, wenn sie eine fremde Hose aufmachen und keine Damenwäsche sehen. Dass man sie nach dem Mord umgezogen hat, erscheint mir naheliegender.«
»Als Adresse ist bei dieser Jana Steinbach die Ebersstraße in Schöneberg angegeben«, sagte Hinnerk. »Jana deutet für mich übrigens darauf hin, dass der Vorname zuvor Jan war. Jedenfalls stehen in der Ebersstraße meines Wissens vorwiegend Altbauten mit riesigen Wohnungen. Es ist also gut möglich, dass sie in einer Wohngemeinschaft gelebt hat.«
»Lieschen, bring doch mal in Erfahrung, ob Jana Steinbach die Hauptmieterin der Wohnung ist, oder wer sonst.«
»Das kann aber einen Moment dauern. Am besten, ihr genehmigt euch derweil einen Kaffee«, sagte Marlies Schmidt, die Kriminalassistentin und gute Seele der Abteilung, die von allen nur Schmidtchen oder Lieschen genannt wurde, was in keinem Fall abwertend gemeint war.
»Das erinnert mich an einen Fall vor vielen Jahren«, sagte Hinnerk. »Damals fand man eine Transsexuelle erschlagen in ihrer Wohnung auf. Die Ehefrau hatte sich kurz zuvor in der Küche erhängt.«
»Und warum weiß ich nichts von dem Fall?«, fragte Valerie.
»Weil du damals im Mutterschutz warst, Schatz. Ich wollte dich nicht aufregen. Die Ermittlungen verliefen eh im Sande. Niemand wollte etwas gehört oder gesehen haben. Brauchbare Spuren gab es auch nicht. Die Staatsanwaltschaft ging schließlich von Einbrechern aus dem Ostblock aus, die damals in Banden organisiert ihr Unwesen trieben. Als die Einbrüche schlagartig aufhörten, nahm man an, sie wären in die Heimat zurückgekehrt.«
»Ich hab hier was!«, rief Marlies und kam kurz darauf zurück. »Frau Steinbach hat mit einem gewissen Detlef Krüger zusammengewohnt, der als Hauptmieter eingetragen ist.«
»Dann sollten wir uns den Herrn mal ansehen«, sagte Hinnerk. »Vielleicht haben wir dann schon unseren Mörder. Falls nicht, sollte er zumindest über den