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Stille Herzen: Kriminalroman
Stille Herzen: Kriminalroman
Stille Herzen: Kriminalroman
eBook589 Seiten7 Stunden

Stille Herzen: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Der Tod einer Asiatin stellt die Bonner Kripo vor ein Rätsel: Man hat ihr das Herz angehalten. Die Ermittler stoßen auf einen Fall von Menschenhandel und enthüllen eine Kette von Entführungen, Gewalt und Verzweiflung, die sich durch ganz Europa zieht. Zugleich nimmt ein einsamer Rächer, der die Tote kannte, den Kampf gegen die mächtige Organisation von Menschenhändlern auf. Was weiß er, was hat er mit dem Mord zu tun? Schließlich findet die Kripo eine Zeugin, die bereit ist, gegen die Organisation auszusagen. Doch die Organisation ist mächtiger als sie ahnen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Nov. 2019
ISBN9783750211087
Stille Herzen: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Stille Herzen - Michael Hackethal

    1

    Ich bin raus. Und ich bin froh, dass ich raus bin, war es vom ersten Tag an. Kann diese coolen Typen nicht mehr sehen, ob sie nun Kriminelle sind oder Polizisten. Sie halten sich für „cool", was immer das heißen soll. Ich finde sie einfach nur ignorant.

    Ich war neunzehn, als ich in den Polizeidienst eingetreten bin, vor neunundvierzig Jahren. Ich wollte die Täter nicht nur hinter Schloss und Riegel bringen, sondern mit ihnen reden, verstehen, warum sie es getan hatten. Ich gebe zu, das war naiv.

    Na und? Lieber naiv als cool. Ich war nie cool, hab mir auch nie Gedanken darum gemacht. Ich wollte überhaupt nie irgendwas anderes oder irgendwer anderer sein als ich selbst. Das fand ich schon schwierig genug

    Immerhin, manche von den Jungs haben mich tatsächlich verstanden. Die paar haben kapiert, dass ich sie als Menschen gesehen habe, nicht als Kriminelle. Es waren nicht viele, vielleicht sieben oder acht. In neunundvierzig Dienstjahren. Aber die sieben oder acht haben ihr Leben geändert und sind ausgestiegen. Das hat mir viel bedeutet. Denn auf einen, der es schafft, kommen fünfzig, die es versuchen. Und tausend, denen es scheißegal ist. Die nur lachen über einen naiven Bullen wie mich.

    Wie gesagt – ich bin froh, dass ich raus bin.

    Koller kenne ich, seit er in meinem Kommissariat angefangen hat, einige Jahre vor meiner Pensionierung. Er hört zu, nimmt sich Zeit. Man hat bei ihm den Eindruck, er will den Dingen auf den Grund gehen, denkt nach über Hintergründe und auch über sich selbst. Das fiel mir einfach auf. So jemand hat’s schwer. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.

    Ich sage Ihnen, wir werden niemals behaupten können, dass wir über jemanden Bescheid wüssten, dass wir verstanden hätten, wie ein Mensch tickt. Es kommt immer einer, der denkt ganz anders, als wir uns vorstellen können. Einer, der unsere Welt auf den Kopf stellt, weil er seine ganz eigene Logik hat, seinen ganz eigenen Weg geht. Und irgendwie sogar recht hat, auf seine ganz eigene, unerwartete Weise. Bloß, seine Weise passt nicht in diese Welt, weil kein anderer sie versteht. So wie in diesem Fall.

    Das ist ein Problem, für das es keine Lösung gibt. Ich jedenfalls kenne keine. Nicht in dieser Welt.

    „Ja, wenn ich es doch sage: ein Schnitt! Komm her und sieh dir das selbst an. So was habe ich in all meinen Dienstjahren nicht gesehen."

    Koller blickte ungläubig auf sein Handy. Hatte er richtig gehört? Aber Kollege Berger war nicht für schrägen Humor bekannt.

    Es war ein Samstagvormittag im Juli. Er stand hinter der Kasse im Supermarkt, steckte das Handy ein und machte sich auf den Heimweg. Zurück in der Wohnung packte er die Einkäufe in den Kühlschrank. Im Flur griff er nach der Baumwolljacke an der Garderobe und rief Jenna zu, dass er einen Einsatz hätte, doch es kam keine Antwort. Er zuckte die Schultern, schnappte sich den Helm und machte sich auf den Weg.

    Der Tatort lag in der Nähe der Bonner Universität am Rathenau-Ufer, in Sichtweite der Kennedy-Brücke und des Rheinpavillons. Mit dem Roller brauchte er weniger als eine Viertelstunde. Es war ein schwimmender Anleger für Personenschiffe, wenige Schritte rheinaufwärts von der Fähre nach Bonn-Beuel.

    An einem sonnigen Wochenende wie diesem waren jede Menge Leute unterwegs. Koller parkte die Vespa neben dem flatternden Band und bückte sich unter der Absperrung durch. Er betrat den Steg, der zu dem schwankenden Anleger hinabführte. Der Rhein führte wenig Wasser.

    Die Anlegemole bestand aus einer sechseckigen Konstruktion aus Eisenplatten. Sie bildeten ein Ponton, das außer über den Steg über je zwei Stahlseile am vorderen und hinteren Ende mit dem Ufer verbunden und so in der Strömung verankert war. Das Ponton hatte die Größe eines kleinen Kellerraumes. Durch eiserne Falltüren gelangte man hinein.

    Berger wartete neben der offenen Eisenklappe. Koller beugte sich über die quadratische Öffnung und sah den Arm einer Frau.

    „Die Spusi war schon da, wir können rein", sagte Berger.

    Koller zwängte sich durch die Falltür und stieg die Eisenleiter hinab. Ein Kollege von der Spurensicherung hatte zwei starke Leuchten aufgestellt, die den schwarz gestrichenen Eisenraum in helles, doch zugleich seltsam graues Licht tauchten. Der Stahlboden wurde vom Fluss kühl gehalten, Wände und Decke dagegen waren heiß von der Sonne.

    Die Frau lag auf dem Boden des Pontons. Die linke Ledersandale war von ihrem Fuß gerutscht. Fliegen kreisten um die Tote.

    Ihr weißes Sommerkleid war mit großen, roten Blumen bedruckt. Eine Blüte auf ihrem Bauch war seltsam in die Breite gezogen. Es war Blut, das sich ausgebreitet hatte.

    „Was weißt du?" fragte er Berger, der jetzt neben ihm stand, ohne den Blick von der Frau zu wenden.

    „Nicht viel, erwiderte Berger. „Ein Penner, der hier unten übernachten wollte, hat sie gestern am späten Abend gefunden.

    „Warum erfahre ich erst jetzt davon?" fragte Koller ohne Vorwurf.

    Er öffnete einen Knopf an seinem Hemd. Er war gerade erst gekommen, und schon drang ihm der Schweiß aus allen Poren.

    „Erst heute morgen wurden wir angerufen. Der Penner ist die ganze Nacht herumgelaufen, wohl aus Angst, man könnte ihn gesehen haben. Dann hat er irgendwem davon erzählt und wir wurden informiert. Anonym."

    „Na traumhaft. Der oder die Täter hatten also alle Zeit der Welt, sich davonzumachen."

    Die Männer hatten Schweißperlen auf der Stirn, schweigend betrachteten sie die Tote. Sie war Anfang dreißig, vielleicht einsfünfundsechzig groß, kräftiges Haar, blond gefärbt, am Scheitel dunkler Ansatz. Roter Lippenstift ließ ihr Gesicht noch blasser wirken. Markante Wangenknochen prägten das breite Gesicht. Die Haare am Hinterkopf waren blutverklebt.

    „Was sagtest du von einem Schnitt?" fragte Koller.

    Berger gab ihm einen Wink, sie knieten sich neben die Tote.

    „Dr. Schengen sagte was von ,Tod durch induzierten Herzstillstand‘", sagte er.

    Er wies auf einen etwa fünfzehn Zentimeter langen Schnitt links unter dem Brustkorb. Mit einem Kugelschreiber hob er das zerteilte Kleid vorsichtig an, so dass Koller die darunter liegende Haut sehen konnte. Sie klaffte ein wenig auseinander. Ein Schnitt war offenbar durch das Kleid hindurch ausgeführt worden, mit einer sehr scharfen Klinge. Sie hatte Haut und Fleisch unterhalb der Rippen glatt durchtrennt.

    „Der Schnitt ist gerade so groß, dass —"

    Bergers Stimme klang heiser, gepresst, brach dann ganz ab. Koller sah ihn erstaunt an, während Berger sich räusperte und mit rauer Stimme weitersprach.

    „— dass eine Hand hindurch passt."

    Ein eiserner Riegel wurde zurückgeschoben. Knarzend öffnete sich die Tür, Sonnenlicht flutete in die Kammer und blendete die Frau. Erschrocken wandte sie den Kopf ab und legte einen Arm vor die Augen. Sie hockte auf dem Boden, nackt.

    Schritte knirschten. Ein Mann legte ihr ein Hundehalsband um, hakte eine Lederleine ein und zog sie wortlos daran hoch. Dann zerrte er sie ins Freie.

    Die Frau konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ihre Schenkel waren von Exkrementen, Staub und Blut verdreckt, der Rücken von Wunden verkrustet, ebenso Arme und Hände. Ihr Alter war kaum zu erkennen, das Gesicht war zu sehr geschwollen, aber sie schien recht jung zu sein.

    Mit einem scharfen Ruck brachte der Mann sie zum Stehen. Schwankend blickte sie sich um.

    Sie war umringt von etwa dreißig Frauen, die sie nur schemenhaft sehen konnte. Aber sie wusste, wer da stand, wenn sie auch nicht die Namen kannte. Alle waren zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, drängten sich ängstlich aneinander. Keine sagte ein Wort.

    „Seht genau hin! brüllte der Mann. „Das passiert, wenn ihr versucht zu fliehen!

    Er schlug sie mit der Hundeleine. Sie schrie auf. Die anderen Frauen rissen die Augen auf, hielten die Hand vor den Mund.

    „Hinsehen sollt ihr!"

    Wieder schlug er die Frau. Sie hielt die Hände über ihren Kopf, doch sie war völlig schutzlos. Er gab ihr einen Stoß, sie fiel hin. Dann öffnete er seine Hose und urinierte auf sie.

    „Überlegt es euch gut. Ihr habt keine Chance."

    Er ließ die Leine fallen.

    „Heute Abend will ich Halsband und Leine sauber wiederhaben. Und du — er stieß die Frau mit dem Fuß an, „— wasch dich, du Schlampe, du siehst zum Kotzen aus.

    Als er ging, war selbst der Sonne das Lachen vergangen.

    „Lass uns von hier weggehen, Vera", sagte der junge Mann.

    Er hielt die Hand des Mädchens, das ihm in dem kleinen Café gegenüber saß.

    „Hier in Moldawien ist es so schwer, Arbeit zu finden. Aber wenn wir erst im Westen sind –"

    „Glaubst du wirklich?"

    „Schau dich doch um! Es kann nur besser werden."

    „Aber meine armen Eltern, Alex!"

    „In Österreich wirst du als Kellnerin mehr Geld verdienen, als du hier jemals könntest. Dann kannst du ihnen so viel schicken, dass sie gut versorgt sind."

    „Das stimmt."

    Sie war neunzehn und liebte ihren starken Alex. Seit drei Wochen waren sie zusammen. Auch ihre Eltern hatten ihn schon kennengelernt. Er hatte mit seinem Handy sogar Fotos von ihnen gemacht, weil er sie so gern mochte.

    „Dann lass uns bald fahren. Hast du deinen Pass?"

    „Ja, aber ich habe Angst, Alex. Was ist, wenn wir uns streiten oder nicht mehr vertragen? Wie soll ich dann nach Hause kommen?"

    Er küsste ihre Hand.

    „Vertrau mir, Vera. Du hast doch schon angefangen, Deutsch zu lernen."

    Sie lächelte. Im Westen würde alles besser werden, sie würde Geld verdienen und ihre Eltern unterstützen können, die von ihrer lächerlich niedrigen Rente nicht leben konnten. Und es war so schön, verliebt zu sein.

    „Was hast du gesagt?" fragte Koller ungläubig.

    „Es ist mehr als nur eine Freundschaft, wir haben eine Beziehung, sagte sie und sah ihm in die Augen. „Und ich bin sehr glücklich.

    Jenna sprach ganz ruhig. Falls sie nervös sein sollte, so war nicht viel davon zu bemerken.

    Koller versuchte zu begreifen, was der Satz bedeuten würde, den er soeben gehört hatte. Vergeblich.

    Jenna hielt genau wie er eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand, sie standen vor dem neuen Kaffeeautomaten in der Küche. Es war Samstagnachmittag, er war nach dem Besuch des Tatorts wieder zuhause.

    „Wie lange geht das jetzt schon?" fragte er heiser.

    „Seit letzter Woche. Du weißt doch, ich hatte angerufen, dass ich in Köln bleiben und bei Rolf übernachten würde, weil es schon so spät war."

    „Ja, aber ich dachte nicht, dass du ... dass ihr ..."

    „Ich wollte sicher sein, dass es nichts Zufälliges ist, sagte sie. „Er sagt, er liebt mich, und ich liebe ihn.

    Sie sah ihn unentwegt an. Er liebte seine Frau, und doch war es seit Jahren nicht einfach gewesen. Seit einem Jahr hatten sie immer weniger miteinander gesprochen und zuletzt kaum noch miteinander geschlafen.

    Verlegen standen sie sich gegenüber und schwiegen. Schließlich gab sie sich einen Ruck und sagte, sie wolle erstmal duschen gehen.

    Er blieb in der Küche, trank von dem heißen Kaffee und versuchte zu sortieren, was da in ihm vorging. Es wollte ihm nicht gelingen.

    Er hörte das Wasser in der Dusche rauschen, zog sich an und irrte hinaus in den Sommertag, dessen Heiterkeit ihn frieren ließ.

    Der kleine, stämmige Mann seufzte. Er schulterte seine Reisetasche und trat aus dem Gasthaus hinaus in das Licht der Maisonne. Am Rande der staubigen Straße blieb er neben seinem weißen Mercedes-Kleinbus stehen. Er legte die Hand an den Schirm seiner Kappe und schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Dunst, der die Straße am Horizont verschluckte.

    Bald würde auch er mit seinem Bus in dieser Ferne verschwinden.

    Er öffnete die Beifahrertür, warf seine Tasche hinein und ging ein letztes Mal um den Wagen herum. Sorgfältig kontrollierte er Reifen und Bremsen.

    In Kirgisien fahren Hunderte dieser alten Kleinbusse, Marshrutki genannt. Lokman hatte die Marshrutka vor ein paar Jahren gekauft, um sein Geld damit zu verdienen. Eine Zeit lang war er von der Hauptstadt Bishkek aus Überlandstrecken gefahren, später auch nach Almaty und Taras in Kasachstan und nach Taschkent in Usbekistan. Das waren überschaubare Strecken von einigen Hundert Kilometern gewesen.

    Seit er für die Organisation arbeitete, fuhr er von Zentralasien bis an den Rand Europas. Sie hatte ihm vor seiner ersten Fahrt das gesamte Auto überholen und sogar neue Reifen aufziehen lassen. Der Wagen war mehrere Tage in der Werkstatt gewesen, ohne dass er dafür bezahlen musste.

    Er öffnete die rechte Hecktüre. Im Gepäckraum hinter der Sitzbank stand ein großer Wasserkanister mit Zapfhahn auf zwei Reserverädern, festgeschnallt mit Gurten. Daneben lagen Decken und ein Karton mit Zeitschriften gegen die Langeweile.

    Er nahm seine Militärkappe ab und fuhr sich mit der Hand durch das kurze, schwarz glänzende Haar. Bald würde es losgehen.

    „Lokman! Ein Mann stand in der Tür und winkte. „Noch einen Tee?

    Er machte eine Geste mit der Hand, dass er später kommen würde. Ihm blieb reichlich Zeit, bevor er los musste. Und selbst dann hatte er es nicht eilig. Wer würde schon pünktlich sein, hier in Kalinovka, Kirgisien. Dennoch schaute er auf seine goldene chinesische Armbanduhr. Einfach weil sie neu war und so schön in der Sonne funkelte. Sie zeigte sogar das Datum an. 20. Mai.

    Er warf einen Blick in den dreißig Jahre alten Mercedes-Bus. Dieses Auto war sein ganzes Kapital.

    Lokman seufzte wieder. Er war seit vierzehn Jahren Fahrer und hatte fast alles erlebt, was es gab. Er kannte alle Schleichwege von Ulan Bator bis Istanbul und Hunderte von Leuten, die ihm für kleines Geld eine große Hilfe waren. Seine Erfahrung und Kontakte zahlten sich aus. Aber etwas hatte sich verändert. Nein, er hatte sich verändert.

    Das wird meine letzte Tour werden, dachte er. Es ist Zeit für etwas Neues.

    Zwölf Passagiere hatte man ihm angekündigt für die Tour. Zwölf war eine gute Zahl, seine Lieblingszahl. Das würde Glück bringen. Und genug Bakschisch für alle, die unterwegs wegschauen sollten.

    Am Sonntagvormittag fuhr Koller ins Büro. In seinem Bauch glühte eine Kugel, die sich entzündet hatte, kurz nachdem er die Augen geöffnet hatte. Jenna. Verdammt. Das konnte doch nicht wahr sein. Er hatte ungläubig auf die schlafende Frau gestarrt, die neben ihm im Bett lag. Seit Jahren wachte er neben ihr auf, kannte jedes Fältchen, jede Strähne an ihr, wusste ohne hinzuschauen, wie ihre Hand auf dem Kissen lag. Aber heute morgen war sie bei aller Vertrautheit wie eine Fremde gewesen.

    Er hatte sich ohne Frühstück auf den Weg gemacht. Ihm war, als wäre seine Haut ein zu kleiner Anzug aus Gummi, der ihm den gesamten Körper zusammenzog. Er hatte eine Weile gebraucht, bevor er die Kraft fand, den Zündschlüssel zu drehen.

    „Die vorläufige Gewebeuntersuchung lässt annehmen, dass die Frau gestern zwischen siebzehn und neunzehn Uhr gestorben ist. Sie muss noch gelebt haben, als der Schnitt durchgeführt wurde", sagte eine weibliche Stimme.

    Dr. Klara Schengen, die den Leichnam untersucht hatte, war durch die offene Tür hereingekommen. Sie warf ihren Bericht auf Bergers Schreibtisch.

    „Ob sie bei Bewusstsein war, kann ich nicht sagen. Sie stand neben den Schreibtischen und blickte aus dem Fenster in den blauen Himmel. „Und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen.

    Koller nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Pott.

    „Wer lässt sich so was einfallen, der nicht völlig krank ist? fragte er. „Oder haben wir hier einen Ritualmord, vielleicht so eine Art Voodoo?

    „Bis auf den Schnitt, die Platzwunde am Hinterkopf und eine Prellung am linken Ellbogen waren keine Verletzungen zu finden."

    Trotz des nüchternen Tonfalls war Bewegung in Dr. Schengens Stimme.

    „Die Kopfwunde kann von einem stumpfen Gegenstand stammen oder vom Aufprall auf den Stahlboden, da bin ich noch nicht sicher. Und ich nehme an, sie ist genau dort getötet worden, wo sie gefunden wurde."

    „Da war noch etwas", sagte Dr. Schengen.

    Die Männer blickten auf.

    „Die Tote war schwanger, in der zehnten Woche."

    Keiner sagte ein Wort.

    Berger stellte seine Tasse ab und blätterte durch den Bericht. Kurz darauf klappte er die Akte zu. Er stand auf und stellte sich neben Dr. Schengen vor das weit geöffnete Fenster. Er holte tief Luft.

    „Manchmal denke ich, man kann den Wahnsinn nicht mehr steigern, den wir hier jeden Tag haben. Körperverletzung, Totschlag, Mord. Und dann passiert doch wieder was, das bekloppter ist als alles, was ich je erlebt habe."

    Dr. Schengen schloss die Augen.

    „Das waren die ersten Ergebnisse, sagte sie und wandte sich zum Gehen. „Morgen mehr.

    Koller nickte stumm zum Abschied, dann stellte er mit einem Knall seine Tasse ab.

    „Also, was haben wir: eine Frau, die auf sehr ,eigenwillige‘ Weise umgebracht wurde, einen ungewöhnlichen Fundort der Leiche, den Tatzeitpunkt Nachmittag oder früher Abend am Freitag. Irgendwelche Ideen?"

    Schweigen.

    „Wir sollten morgen weitermachen, sagte Berger schließlich, seine Stimme klang sehr müde. „Dann sind die anderen dabei. Lass uns diesen Sonntag nicht völlig ruinieren.

    Der weiße Kleinbus kam an einer Tankstelle zum Stehen. In der Tür zum Laden lehnte ein Mann, einen Kopf größer als Lokman und deutlich besser gekleidet. Er trug eine schwarze Lederjacke über dem weißen Hemd, das sich über seinen Bauch spannte.

    „Heeey, Lokman, alter Uigure, siehst gut aus!" log er mit breitem Grinsen. Er grüßte den Fahrer wie einen alten Freund. Es schien ihm nichts auszumachen, dass Lokman seine falsche Freundlichkeit nicht ebenso erwiderte. Er hatte keine Zeit, auf die vielen Empfindlichkeiten einzugehen, die die Angehörigen der Völker in dieser Region mit sich herum trugen.

    „Jurij, wie geht’s dir? erwiderte Lokman. „Du siehst aus wie ein richtiger Geschäftsmann! Ich hoffe, du hast bei all der Arbeit noch ein bisschen Spaß am Leben.

    „Ein bisschen? Mann, es könnte kaum besser sein, so wie es zur Zeit läuft!"

    Jurij grinste ein breites Goldzahnlächeln und legte die Hände auf seinen Prallbauch. Wer ihn sah, hatte keinen Zweifel, dass er sich großartig fühlte.

    Lokman kannte Typen wie ihn nur zu gut. Der Spruch seines Vaters, dass man sich vor dicken Leuten in einem dünnen Land vorsehen sollte, stimmte immer noch. Heute warst du ihr Freund, morgen waren sie leider gezwungen, dir ein paar Knochen zu brechen, weil ihr Boss sauer auf dich war. Das waren die Tage, an denen man noch mal Glück hatte.

    Sie gingen hinein, Jurij lotste ihn neben die Kasse.

    „Hier sind die Medikamente für die Reise", polterte er und holte eine Plastiktüte hinter dem Tresen hervor.

    Lokman nahm sie mit einem Nicken entgegen.

    „Die Mädels sind schon da, kannst sie gleich einladen."

    „Zwölf, hattest du gesagt?"

    „Ja. Eine ist abgesprungen, aber dann hat eine andere gleich ihre Chance ergriffen."

    Er lachte.

    „Hier ist dein Lohn, und das Geld für unterwegs. Ist alles abgezählt. Sollte was übrig bleiben, gibst du den Rest beim Empfänger ab."

    Er gab Lokman zwei Bündel mit Dollarnoten. Eines enthielt fünftausend Dollar, das andere zweitausend. Lokman zählte bedächtig die Scheine. Als er aufblickte, bemerkte er, dass Jurij ihn beobachtete. Lokman lächelte unsicher.

    „Stimmt genau", sagte er.

    Jurij platzte vor Lachen heraus.

    „Du bist einfach köstlich, Junge."

    Er stand kopfschüttelnd vor ihm und grinste.

    „Es wäre wahrscheinlich das erste Mal, dass da auch nur ein Dollar übrig bleibt. Aber dir würde ich das glatt zutrauen."

    Lachend führte er ihn in den Nebenraum, wo die Frauen bei Neonlicht warteten. Jede durfte nur eine Tasche mitnehmen, doch die meisten hatten noch ein, zwei Plastiktüten mit Lebensmitteln dabei.

    „Also dann: Go West, meine Damen, dröhnte er. „Sie werden mit Lokman fahren, unserem besten Mann. Sollten Sie nicht vollzählig eintreffen, werde ich ihm persönlich ein Bein ausreißen. Aber ich bin sicher, das wird er schon selbst tun. Ist ein richtiger Gentleman, unser Lokman.

    Er lachte über seinen müden Witz, während er den Frauen die Türe offen hielt. Unsicher folgten sie ihrem Fahrer zum Bus. Jurij gab Lokman die Reisepässe.

    Lokman öffnete die Beifahrertür und half den Frauen beim Einsteigen. Er zeigte ihnen, wo sie ihre Taschen verstauen sollten, und erklärte ihnen, dass sie jederzeit von dem Wasser im Kofferraum trinken konnten. Bis alle ihren Platz gefunden hatten, vergingen mehrere Minuten.

    Er bat um Ruhe.

    „Melden Sie sich bitte rechtzeitig, wenn ich halten soll, weil es nicht immer sofort möglich ist."

    Die Frauen nickten.

    „Gut. Wir haben fünftausend Kilometer vor uns. Da brauchen wir zehn Tage, wenn alles gut geht. Am besten schlafen Sie einfach."

    Er machte einen freundlichen Eindruck. Es würde ihnen gut gehen mit ihm, da waren die Frauen sicher.

    Koller kam ein paar Mal zu mir, um diesen Fall zu besprechen. Hat etwas gedauert, bevor wir kapierten, wie der Hase lief. Ist übrigens gar nicht so selten, dass nur ein Zufall zur Lösung eines Falles führt. Aber gibt es überhaupt Zufall?

    Ich glaube auch nach all den verrückten Jahren als Polizeibeamter immer noch an einen Gott. Ich kann nicht anders. Ich verstehe immer weniger, was er von uns will, aber ich glaube an ihn. Daran ändern auch die Morde nichts, die täglich in der Welt geschehen, die Verbrechen mit all der Trauer und dem Elend, die sie auslösen.

    Sie machen es nur schwieriger, an ihn zu glauben. Das schon.

    Als Koller nach Hause kam, lag ein Zettel auf dem Küchentisch. „Bin in Köln." Es war ihre Handschrift.

    Seine Beine sackten weg, er fiel schwer in den Stuhl. Das war es also. Sie waren noch verheiratet, aber sie war nicht mehr seine Frau.

    Zu lange, zu oft hatte er sie warten lassen, sitzen lassen, weil er weg musste. Es waren wohl doch zu viele nächtliche Einsätze gewesen, zu viele Abende und Wochenenden, die er für Ermittlungen oder Judo, Karate und Jogging geopfert hatte. Aber irgendwie musste er den Druck aus seinem Job doch verarbeiten.

    Er stellte sich vor, wie sie mit dem andern Hand in Hand durch die Stadt schlenderte, wie sie gemeinsam Eis essen gingen, lachten. Er war für Jenna völlig unwichtig geworden. Überflüssig.

    Er schleuderte die Notiz zu Boden und stürmte aus der Wohnung.

    „Iwana, Anruf für dich!"

    „Wer ist es, Mamutschka?"

    Iwana schaute neugierig aus ihrem winzigen Zimmer. Sie war zweiundzwanzig, Studentin der Literaturwissenschaften in Odessa.

    „Ich habe den Namen nicht verstanden. Beeil dich!"

    Iwana lief den kurzen Flur entlang in die Wohnküche.

    „Ja bitte? Wer spricht?"

    Eine heisere Frauenstimme am anderen Ende.

    „Ich bin’s, Eva."

    „Eva! Wie schön, deine Stimme zu hören. Meine Güte, ich habe so lange nichts von dir gehört! Iwanas freie Hand fuhr aufgeregt durch die Luft. „Wo bist du? Wie geht es dir?

    „Danke, es geht mir ganz ausgezeichnet, Iwana, hörst du? Ganz ausgezeichnet!"

    Iwana erstarrte.

    „Oh, ja, mein Gott. Ja, Eva ..."

    „Ich muss Schluss machen, Iwana. Mach’s gut, ich melde mich wieder, sobald ich kann."

    Dann war die Leitung tot.

    Iwana blickte ungläubig auf den schweren Hörer in ihrer Hand. Sie begann zu zittern.

    Mit einem Knall fiel der Hörer auf den Boden.

    „Mamutschkaaa!"

    Sie wusste, Eva brauchte Hilfe. Dringend.

    „Der Anleger beim Rheinpavillon gehört der Schifffahrtsgesellschaft und wird im Sommer ständig genutzt. Die Schiffe legen täglich dort an, um halb neun abends ist Feierabend. Allerdings liegt bis zu einer Stunde zwischen den Anlegemanövern, so dass genügend Zeit bleibt, auch mal rein zu klettern. Die Klappe ist nicht abgeschlossen."

    Aylín Karamanoglu, Kollers Assistentin, legte ihren Notizblock hin und wartete auf eine Reaktion der Kollegen.

    Koller nickte, Berger machte sich Notizen. Eric Roleder, ihr junger Kollege, sah Aylín an.

    „Am Freitag Nachmittag war gutes Wetter und jede Menge Volk unterwegs. Wer um die Zeit auf so einen Anleger geht, wird doch von all den Leuten am Ufer gesehen, sagte er. „Nicht gerade schlau, wenn man einen Mord begehen will.

    „Wir wissen nicht, ob es sich um einen geplanten Mord oder um Totschlag handelt", gab Berger zu bedenken.

    „Glaubst du im Ernst, so was passiert im Affekt?" fragte Roleder.

    „Eher nicht, erwiderte Berger, „ich will es nur nicht ausschließen.

    „Und die Leute gehen ja meistens vorbei, sagte Aylín. „Selbst wenn die jemanden auf dem Schiffsanleger sehen sollten, fällt der nicht wirklich auf.

    „Und sollte das Paar in den Ponton abtauchen – wen kümmert’s? meinte Berger. „Wenn eine halbe Stunde später nur einer wieder rauskommt, ist niemand da, der Verdacht schöpfen könnte.

    „Außer, sagte Koller, „dieser Niemand sitzt in der Nähe und hat alle Zeit der Welt.

    „Wie unser Penner", sagte Berger und warf seinen Bleistift auf den Schreibtisch.

    „Wie unser Penner, sagte Koller mit einem Nicken. „Hat jemand seinen Namen ausfindig gemacht?

    „Noch nicht, aber ich kenne jemanden, der ihn vielleicht kennt, sagte Roleder. „Der Schiffsanleger befindet sich in seinem Revier, ich kümmere mich darum.

    „Revier?" fragte Berger und zog eine Augenbraue hoch.

    „Naja, er ist auch obdachlos. Ich kenne ihn, weil ich als Kind in seiner Nähe gewohnt habe, als er noch im normalen Leben war."

    „Versuch ihn aufzutreiben und eine Beschreibung zu bekommen", sagte Koller.

    Er rieb sich die Augen. Hundemüde war er, hatte die halbe Nacht wach gelegen.

    „Wenn wir Pech haben, war er gar nicht dabei", sagte Berger.

    Sie war auch nicht da, dachte Koller. Die ganze Nacht nicht.

    „Abwarten", sagte Roleder.

    Was denn? dachte Koller. Ob sie wiederkommt?

    „Sonst noch was?" fragte er.

    „Das Messer muss äußerst scharf gewesen sein, möglicherweise ein Skalpell. Sagt jedenfalls der Obduktionsbericht", sagte Berger.

    „Ein Skalpell kann ich mir in jeder besseren Apotheke besorgen, stöhnte Roleder, „das hilft uns auch nicht weiter.

    „Hat jemand von euch schon mal von so was gehört?" fragte Koller.

    Alle hatten den Bericht gelesen.

    „Irgendwie lässt das bei mir was klingeln, ganz weit im Hinterkopf, sagte Aylín zögernd, „ich kann aber jetzt nicht mehr dazu sagen. Lass mir Zeit, ich werde dranbleiben.

    „Gib mir sofort Bescheid, sagte Koller. „Wer so was macht, sollte keinen Tag länger da draußen herumlaufen.

    „Ganz ausgezeichnet! rief der Mann mit dem gefönten Haar. „Wie Sie das wieder hinbekommen haben!

    Er hielt ein dünnes Brett aus Zypressenholz in der Hand, etwa achtzehn mal vierundzwanzig Zentimeter groß. Von hinten war es nur ein altes Holzstück. Doch was er sah, ließ ihn vor Begeisterung strahlen.

    „Es wird mir nicht leicht fallen, dieses Meisterstück abzugeben", sagte er.

    Dr. Horst Hagen war kaum größer als die Frau, die neben ihm stand. In diesem Moment war er von dem Kunstwerk in seinen manikürten Händen vollständig in Beschlag genommen.

    Was er sah, war eine Abbildung von Maria mit dem Kinde, in blassen Farben vor goldenem Hintergrund. Das Blattgold war fast durchscheinend, doch eben dadurch von einer unbeschreiblichen Anmut, die den Ausdruck der Gesichter noch verstärkte.

    „Ich danke Ihnen, Marja, sagte er nach einer Weile mit bewegter Stimme. „Das ist mit Abstand die schönste Ikone, die ich je in Händen halten durfte.

    Er stellte sie andächtig auf ein Sims aus Naturstein, das in Augenhöhe an der Wand angebracht war. „Die Muttergottes von Tbilissi – unglaublich, dass sie nach vierhundert Jahren ihren Weg zu mir gefunden hat."

    Es war Marja anzusehen, dass sie stolz war. Auf das Lob, aber vor allem auf ihre Arbeit.

    „Sie wissen, dass ich Ihnen einen sehr guten Preis gemacht habe, nicht wahr?"

    Hagen warf ihr einen dankbaren Blick zu, in dem allerdings auch Sorge über den weiteren Verlauf des Gesprächs lag. Wollte sie jetzt über Kosten reden? Doch Marja lächelte und sagte nichts. Hagen war beruhigt.

    Noch vier Wochen, dann wollte er seinen besten Kunden etwas ganz Besonderes präsentieren. Hagen hatte ihnen in persönlichen Gesprächen angekündigt, in Kürze ganz exquisite Positionen anbieten zu können. Nun stand noch ein letztes Stück auf seiner Wunschliste, die Sensation, die ihn zum Triumph führen würde. Damit wäre er endlich einer der führenden Ikonengaleristen.

    Er sah Marja eindringlich an.

    „Glauben Sie, dass ich in den nächsten drei Wochen die Auferstehung noch erwerben kann?"

    „Nun, darüber müssen Sie mit dem Papst verhandeln, sagte Marja mit gespieltem Ernst. „Ich kann Ihnen nur Ikonen besorgen!

    Hagen war einen Moment lang irritiert, dann lachte er nervös.

    „Machen Sie es mir nicht so schwer, meine Liebe."

    „Geduld, Horst. Solche Objekte brauchen Zeit."

    Hagen nickte.

    Marja verabschiedete sich und ging hinaus.

    Auf dem Bürgersteig vor der Galerie wandte sich Marja entschlossen nach rechts, Richtung Bonner Innenstadt. Mit dem Gewinn aus der Vermittlung der Ikone würde sie problemlos das nächste Jahr überstehen, ohne sich einschränken zu müssen. Ihre Entlohnung war nicht eben gering kalkuliert, schließlich war sie eine der Besten in diesem Geschäft. Bei einem Marktwert von 480 000 Euro für die Muttergottes von Tbilissi konnten sie beide zufrieden sein. Sehr zufrieden.

    Sie beschloss, sich mit einem guten Essen zu belohnen. Danach würde sie sich um ihre Schwester kümmern. Sie hatte viel zu lange nichts von ihr gehört, und der Detektiv hatte noch keine Ergebnisse gemeldet. Marja machte sich Sorgen. Große Sorgen.

    Die ersten Tage kamen sie schnell voran. Ihre Route führte sie durch die – für kirgisische Verhältnisse – dicht besiedelte Hochebene nach Taschkent in Usbekistan und von dort weiter über Turkmenistan nach Aserbaidschan.

    Sie fuhren auf der alten Seidenstraße Richtung Westen. Die Städte lagen inmitten endlos scheinender Felder entlang der Überlandstraßen. Vom Treiben in den Ortschaften bekamen sie kaum etwas mit, sie fuhren nur hindurch oder streiften die Ausläufer der Vorstädte. Die waren am Reißbrett geplant, in rechtwinklig angeordneten Vierteln, die alle gleich langweilig aussahen.

    In Turkmenbashi am Kaspischen Meer sollte ein Boot auf sie warten, um sie auf die aserbaidschanische Seite zu bringen. Das würde die lästigen Zollformalitäten umgehen und Zeit sparen. Von Aserbaidschan aus ging es über Georgien durch die Türkei nach Europa.

    Lokmans Aufgabe bestand darin, die Frauen bis Istanbul zu bringen. Dort sollte er sie an andere Fahrer übergeben.

    Es lief immer gleich ab. Die Männer, die sie dort in Empfang nahmen, waren stets zu zweit. Und nie dieselben. Lokman übergab ihnen die Pässe, sie zählten die Frauen und ließen sie in ihren Bus einsteigen. Dann erhielt er die andere Hälfte seines Lohns. Anschließend musste er den Bus in eine Werkstatt fahren und auf den Anruf warten. Danach konnte er ihn abholen und zurückfahren.

    Für die Grenzübergänge brauchte Lokman Bakschisch. Das kürzte die Wartezeiten erheblich ab und ermöglichte ansonsten Unmögliches. Er wusste genau, wer wie viel verlangte. Und keiner würde leer ausgehen.

    Dafür war das Geld der Organisation vorgesehen. Die Beträge waren fast gleichgültig. Jede Summe war besser als in einem dieser Gefängnisse zu landen, wo man nicht mehr derselbe war, wenn man wieder rauskam. Falls man wieder rauskam.

    Die Notiz von Jenna steckte ihm den ganzen Tag über in den Knochen.

    Wie dünn die Verbindung zwischen zwei Menschen werden konnte, bevor sie abriss. Sie waren sehr unterschiedlich, hatten sich oft aneinander gerieben, aber nicht so, dass es nicht mehr weitergehen konnte. Er jedenfalls sah kein Problem, das ihnen unüberwindbar im Weg gestanden hätte. Aber sie hatte das wohl ganz anders empfunden.

    Zuhause griff er zum Telefon. Es dauerte fast eine Minute, ehe der Hörer abgenommen wurde.

    „Hannes, ich bin’s. Koller. – Naja, deshalb rufe ich an. Hast du heute Abend Zeit? – Passt. Bis dann."

    Er hatte das Gefühl gehabt, dass es wieder besser werden würde, dass es nur eine Phase war, die man überstehen musste. Geduld, hatte er sich immer wieder gesagt, hab’ Geduld.

    Aber es war nicht besser geworden. Sie hatten sich wohl nur an die Distanz gewöhnt.

    Das Obdachlosenheim war in einem alten Haus mit mehreren Stockwerken untergebracht. Roleder ging über den gepflasterten Weg auf das Gebäude zu. Auf Bänken längs des Wegs saßen Männer mit ungepflegten Bärten und wirrem Haar, die meisten älter als vierzig, in abgewetzten Klamotten, viel zu warm für die Jahreszeit.

    Roleder hielt Abstand, als er an ihnen vorbei ging.

    „Ich suche Volker Eckmeier", sagte er zu dem jungen Mann am Empfang.

    Der Sozialarbeiter sah gelangweilt auf.

    „Versuchen Sie’s hinten im Garten. Geradeaus durch."

    Der Geruch von altem Schweiß, Seife und Bieratem begleitete Roleder durch den hohen Korridor. Er beschleunigte seine Schritte und gelangte in einen großen Garten, der von alten Kastanien und hohen Mauern umgeben war. Im hinteren Teil erblickte er ein kleines Rondell mit einer Laube aus Holz, von wildem Wein überwachsen. Vor dem dunklen Grün leuchtete ein heller Trenchcoat im Licht der Nachmittagssonne.

    „Grüß dich, Ecki. Hast du mal Zeit für mich?" fragte er.

    Der Alte richtete sich langsam auf und drehte seinen Kopf mitsamt den Schultern.

    „Der kleine Eric! japste er heiser. „Das hätte ich ja im Traum nicht gedacht.

    Er lächelte dünn, ein gelber Zahn lugte zwischen den blassen Lippen hervor. Die papierdünne, dunkel gegerbte Haut rund um seine Augen legte sich in hundert Fältchen.

    „Setz dich! Er klopfte neben sich auf die Steinbank. „Was führt dich in diesen Palast des Elends?

    Roleder ließ sich neben ihm nieder.

    „Jemand hat eine tote Frau in einem Schiffsanleger gefunden. Ich muss mit dem Mann reden, der sie gefunden hat. Kannst du mir helfen?"

    Der alte Mann nickte langsam.

    „Unter einer Bedingung."

    „Und die wäre?"

    „Dass ich aus der Sache rausgehalten werde."

    „Versprochen."

    Eckmeier schien beruhigt.

    „Der Mann, den du suchst, heißt Arnold Breckler. Er ist im Sommer in der Stadt unterwegs, kommt alle paar Wochen her, wäscht seine Klamotten und bleibt ein paar Tage."

    „Wie sieht er aus?"

    „Anfang sechzig, breite Schultern, kleiner als du. Seine Hose ist dunkelblau. Manchmal trägt er eine Weste und einen Strohhut. Sein Zeug hat er in einem Einkaufswagen."

    „Hat er einen Hund?"

    Der Alte schüttelte den Kopf

    „Er ist immer allein. Ziemlich eigenartiger Kerl, ich komme nicht gut klar mit ihm."

    „Wieso, ist er aggressiv?"

    „Er brabbelt pausenlos vor sich hin. Es macht einen ganz verrückt. Aber er kann auch schnell mal aufbrausen."

    „Ist er nicht ganz richtig im Kopf, oder was?"

    „Ich würde sagen, ein bisschen verrückt, aber harmlos. Man weiß nie, wie er reagiert."

    „Wo kann ich ihn finden?"

    „Am Rhein oder in der Innenstadt. Keine Ahnung, wo er schläft."

    „Danke, ich werde mein Glück versuchen."

    Eine leichte Brise bewegte die Blätter hinter ihnen. Eckmeier rieb sich die Nase.

    „Da ist noch etwas, Eric."

    Er schaute Roleder mit einem verschmitzten Lächeln an.

    „Ja?"

    „Du musst mir versprechen, dass du bald mal wiederkommst und ein bisschen Zeit mitbringst."

    Roleder lächelte.

    „Versprochen. Danke, Ecki."

    Er stand auf, klopfte dem alten Mann auf die Schulter und ging davon.

    „Was willst du?" fragte der Polizist und blickte den Eindringling über drei Stapel Akten und Papiere hinweg mürrisch an.

    Iwana stand unbeholfen vor dem abgewetzten Schreibtisch in dem Polizeibüro in Odessa und hielt sich mit beiden Händen an ihrer kunstledernen Handtasche fest.

    „Ich habe einen Anruf von meiner Freundin Eva erhalten, sagte sie. „Sie ist vor sechs Wochen nach Europa gegangen, will als Verkäuferin in Deutschland arbeiten. Wir haben ein Signal vereinbart, falls sie in Not kommen sollte. Dann sollte sie mich anrufen und sagen, dass es ihr ganz ausgezeichnet ginge. Ansonsten würde sie eine andere Formulierung wählen.

    Der Beamte warf seinen Kugelschreiber auf die Tischplatte und lehnte sich seufzend zurück.

    „Sie sagt also, es geht ihr ganz ausgezeichnet, aber du erzählst mir, dass es ihr nicht gut geht."

    Seine schlechte Laune wurde noch schlechter.

    „Was soll ich deiner Meinung nach tun? Einen Hubschrauber schicken?"

    „Sie muss in Not sein, bitte glauben Sie mir. Sonst hätte sie es nicht gesagt. Und ihre Stimme klang sehr ängstlich."

    Iwana hielt ihre Handtasche mit beiden Händen vor der Brust und sah ihn mit großen Augen an. Der Polizist, ein breiter Mann Ende fünfzig, strich mit den Fingern durch seinen grauen Schnurrbart. Die junge Frau, die da schüchtern vor ihm stand, schien nicht dumm zu sein. Sie spielte sich nicht auf und ihre Sorge war echt. Ganz so selten kam es schließlich nicht vor, dass junge Frauen in Not gerieten. Oft sogar. Viel zu oft.

    Vielleicht war er doch zu grob zu ihr gewesen.

    „Wie sollte man sie denn erpressen können? fragte er, seine Stimme war jetzt deutlich weicher. „Hat sie Geld?

    „Nur für die Reise. Es könnte doch sein, dass jemand sie bedroht."

    „Hast du eine Ahnung, von wo sie angerufen hat?"

    „Nein, sie konnte nicht lange sprechen. Die Verbindung war schlecht, bestimmt ein Ferngespräch."

    „Nicht gerade viel", brummte der Beamte.

    Ächzend stand er auf, ging zu einem alten Aktenschrank und öffnete die Glastür. Er zeigte auf die Stapel von Papier, mit denen die Regalbretter überladen waren.

    „Schau mal her. Wir haben hier so viel Arbeit mit Kriminellen in unserer schönen Stadt, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Und für deine Sache finde ich nicht das passende Formular, weil es kein passendes Formular gibt. Ich kann dir da überhaupt nichts versprechen, Kleine."

    Er zog die Schultern hoch und sah sie traurig an. Sein Blick sagte ihr, dass es ihm ehrlich leid tat.

    Während er zu seinem Schreibtisch voller Papiere zurückkehrte, kam ein Kollege aus dem Nebenzimmer, Ende zwanzig, gut trainiert. Seine Schritte waren selbstsicher.

    „He, Aleksej, was gibt’s denn?" fragte er beiläufig. Er lehnte sich lässig an das Fenstersims und blickte Aleksej mit verschränkten Armen an. Iwana ignorierte er.

    „Ach, die Kleine will, dass ich mich um ihre Freundin kümmere, die vor ein paar Wochen nach Europa abgehauen ist. Sie hat angerufen, angeblich geht es ihr nicht gut. Scheiße, Dmitrij, wir haben keine Zeit, keine Leute, keine Möglichkeit, irgendwas in die Wege zu leiten."

    Dmitrij schnellte mit einem kurzen Seitenblick zu Iwana von der Fensterbank hoch.

    „Verschwenden wir nicht unsere Zeit damit, Dmitrij", winkte der Ältere ab und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, um sich einem Aktenstapel zuzuwenden. Von dort warf er Iwana einen verdeckten Blick zu, der sie verwirrte. Der vorher so müde Mann schien plötzlich sehr wachsam. Seine Augen fixierten sie durchdringend.

    Jetzt erst wandte sich der zweite Beamte Iwana zu und taxierte sie mit einem prüfenden Blick. Er ließ seine Augen ganz ungeniert über ihren Körper wandern, vom Gesicht über Brust und Bauch, die Beine hinab bis zu den Schuhen und wieder hinauf. Ohne jede Eile.

    „Und wie heißt deine Freundin?" fragte er schließlich.

    Seine Stimme verriet keinerlei Interesse.

    „Eva Aleksandrawna Konienka."

    „Wann hat sie angerufen?"

    „Gestern Nachmittag, gegen halb fünf."

    „Weißt du, von wo sie angerufen hat?"

    Er nahm sich wie beiläufig ein Blatt Papier und einen Stift. Er sah sie mit halb geschlossenen Augen an, während er sich Notizen machte.

    „Nein, keine Ahnung. Iwana seufzte. „Es rauschte stark, wie ein Ferngespräch, aber ich konnte hören, dass sie Angst hatte.

    „Name, Adresse?" fragte der Beamte kühl.

    „Iwana Danilawna Sobolowa, 12532 Motorna 34b."

    Der Mann notierte sich alles. Auch der ältere Beamte, der hinter dem jungen Kollegen an seinem Schreibtisch saß, schrieb sich die Daten auf. Er sah Iwana an und machte eine Bewegung mit der linken Hand, die Iwana nicht verstand. Sie hatte keine Zeit, darauf einzugehen, der junge Polizist sprach sie bereits wieder an.

    „Deine Telefonnummer", fragte die Stimme kühl.

    Iwana sagte sie ihm. Dann hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen.

    „Werden Sie sich melden, wenn Sie etwas wissen?"

    Der Mann warf ihr einen Blick zu, den Iwana nicht einschätzen konnte.

    „Du wirst ganz bestimmt von uns hören", sagte er.

    Irgendetwas in seiner Stimme ließ Iwanas Bauch ganz hart werden.

    Lokman hatte viel Zeit, über sein Leben nachzudenken, wenn er am Lenkrad seiner Marshrutka durch die Welt kurvte. Aber obwohl er schon so viel von ihr gesehen hatte, sogar Europa, wollte er nirgendwo anders als in seiner Heimat leben, drüben in China. Wenn sie ihn nur in Ruhe ließen.

    Er hatte seinen Militärdienst absolviert, als er achtzehn war, und eine Zusatzausbildung für Nahkampf erhalten, Kung-Fu-Training, diverse Techniken. Die Spezialausbildung hatte ihn interessiert, weil er sportlich war und einer der Besten im Nahkampftraining. Aber er stellte bald fest, dass er kein Typ fürs Militär war. Wer wie er die Weiten der Steppe erlebt hatte, der konnte die Enge der Kasernen und die Willkür der Vorgesetzten nicht lange ertragen.

    Lokmans Eltern waren einfache Hirten und Bauern gewesen, ohne jede Schulbildung, die alles dafür gaben, dass er auf eine Schule gehen konnte. Er machte nach seinem Abschluss eine Ausbildung als Schlosser, fand Arbeit in der Stadt und war dank seines Sprachtalents bald Vermittler zwischen Angehörigen verschiedener Herkunft. Er sprach Chinesisch, Russisch, Türkisch und Mongolisch.

    Wann immer er Zeit hatte, kehrte er heim auf den kleinen Hof, half bei der Feldarbeit, beim Hüten des Viehs und auch beim Schlachten. Häufig feierten sie Feste, gemeinsam mit anderen Hirten und Bauern. Hier fühlte er sich wohler als in der Hektik des Stadtlebens, wenn er dort auch Dusche, Handy und Internet zu schätzen wusste. Doch liebte er die uralten Bräuche und Traditionen seines Volkes. Sie verbanden ihn mit seinen Vorfahren.

    Seine Kontakte brachten ihn bis nach Ulan Bator, die Hauptstadt der Mongolei. Bald wurde er über einen Bekannten an die deutsche Botschaft vermittelt und begann Deutsch zu lernen. Dank des Goethe-Instituts verbrachte er mehr als ein halbes Jahr in Deutschland und lernte die Sprache schnell. Für Übersetzungen im täglichen Business war es genug. Zurück in China begleitete er Unternehmer aus China und Deutschland, kam viel herum und verdiente gutes Geld.

    Dann kamen eines Tages russische Geschäftsleute, die mit Lokmans Hilfe Kontakte knüpften. Sie machten ihm ein Angebot, für sie zu arbeiten. Er

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