Todessehnsucht
Von Dietrich Novak
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Buchvorschau
Todessehnsucht - Dietrich Novak
Vorwort
Obwohl dieser Roman während der Corona-Krise entstanden ist, habe ich mich dazu entschlossen, dieses Thema nicht in die Handlung einfließen zu lassen. Da ich der Meinung bin, dass die Medien schon in ausreichender Form darüber berichten. Wir leiden alle unter den Folgen, doch ein Roman soll in erster Linie unterhalten und vom Alltag ablenken. Handelt es sich, wie in diesem Fall, um einen Krimi, fließt schon zwangsläufig genug grausame Realität ein, denn die Fantasie eines Autors wird mitunter von den realen Ereignissen übertroffen. Ich bin mir bewusst, dass einige Leser mit meiner Entscheidung nicht einverstanden sein werden, aber wie heißt es so schön? Wer die Wahl hat, hat die Qual. Und eines möchte ich keinesfalls – langweilen. Ich hoffe dennoch, dass die Krise bald überstanden sein wird und in ein paar Jahren nur noch eine schlechte Erinnerung daran zurückbleibt. In diesem Sinne: Bleiben Sie bitte gesund!
Dietrich Novak
im April 2021
Prolog
Sie hatte fast die ganze Nacht geweint und fühlte sich kraftlos, leer und grenzenlos einsam. Da kam der Anruf gerade recht. Wie immer hatte die Stimme des Mannes eine beruhigende Wirkung. Es schien, als sei er der Einzige, der sie verstand.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er.
»Schlecht. Ich bin total am Ende.«
»Wenn du nicht mehr kannst, weißt du, was du zu tun hast.«
»Ich weiß, aber ich habe Angst.«
»Das musst du nicht. Es wird nicht wehtun. Du wirst nichts merken und endlich frei sein.«
»Was soll ich also tun?«
»Du machst das Fenster auf, setzt dich aufs Fensterbrett und stellst dir vor, du könntest fliegen. Schließe die Augen und lasse dich einfach fallen.«
»Gut, dann gehe ich jetzt. Danke für alles.«
»Halt, nimm dein Handy mit, hörst du?«
»Ja, ist gut. Warte, bis ich sitze … So, jetzt bin ich so weit. Werde ich auch bestimmt nichts merken?«
»Aber nein, vertrau mir. Das letzte, das du spürst, wird der Wind in deinen Haaren sein. Jetzt breite die Arme aus und fliege davon. Wo du hinkommst, wird alles schöner sein. Du wirst dich leicht und frei fühlen. Eben wie ein kleiner Vogel … Hallo, bist du noch da?«
Er erhielt keine Antwort mehr. Es gab nur ein unangenehmes Geräusch, als das Handy auf dem Pflaster in tausend Stücke zersprang.
1. Kapitel
Ein paar Kilometer weiter wurde Valerie Voss, Hauptkommissarin beim LKA Berlin, liebevoll mit einer großen Tasse Kaffee geweckt. Man hätte meinen können, sie würde sich darüber freuen, doch ihr Gesicht gab darüber Aufschluss, dass es nicht der Fall war. Einmal war sie ein rechter Morgenmuffel, zum anderen gab sie umgehend die Erklärung.
»Eigentlich könntest du deine Wohnung untervermieten oder gleich kündigen, so oft, wie du hier übernachtest«, sagte sie und versuchte, ihre verstrubbelten, goldblonden Haare mit den Händen zu ordnen.
»Höre ich da eine leise Kritik aus deinen Worten?«, fragte Konstantin Bremer, ihr Kollege und seit Neuestem Lebensgefährte.
Er hatte lange darum kämpfen müssen, dass Valerie sich zu ihrer Liebe bekannte, denn sie war nie so ganz über den Tod ihres ersten Mannes, Hinnerk Lange, hinweggekommen. Sie hatte ihn sogar ein zweites Mal geheiratet, nachdem er sie wegen einer anderen Frau verlassen hatte und nach deren Tod reumütig zurückgekehrt war. Sehr zur Freude ihres gemeinsamen Sohnes, Ben. Als Hinnerk im Dienst erschossen wurde, war Ben untröstlich gewesen, denn der Beruf seiner Eltern war ihm stets ein Dorn im Auge.
Valerie hatte nach dieser leidvollen Erfahrung ihren Dienst bei der Kripo quittieren wollen, doch nach langem, innerem Kampf war sie schließlich geblieben. Als neuer Kollege wurde ihr Konstantin zur Seite gestellt, und der Hauptkommissar hatte von Anfang an keinen Hehl aus seiner Bewunderung für Valerie gemacht. Ein Umstand, der sie anfangs irritiert, dann wütend gemacht und schließlich doch zum Umdenken gebracht hatte. Sie war noch zu jung, um den Rest ihres Lebens allein zu bleiben, und Konstantin, der eine uneheliche Tochter hatte, aber allein lebte, schien es ehrlich mit ihr zu meinen. Die wenigen Jahre, die er jünger war, spielten dabei keine Rolle.
»Was heißt Kritik?«, fragte Valerie. »Du kennst meine Meinung zu diesem Thema. Ja, ich bin gern mit dir zusammen, auch nachts, aber ich sagte, dass ich Zeit brauche, mich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Wenn wir jeder unser eigenes privates Reich haben, tut das der Liebe keinen Abbruch. Was später ist, wird man sehen.«
»Also schön, dann werde ich ab jetzt wieder öfter in meiner Wohnung übernachten, wenn dir das lieber ist.«
»Jetzt bist du böse. Ich würde auch gern hin und wieder bei dir schlafen. Eine gewisse räumliche Trennung am Anfang einer Beziehung ist bestimmt kein Fehler.«
»Ich verstehe dich ja, und ich habe dir auch versichert, Geduld aufzubringen, aber ich fühle mich hier nun mal sehr wohl.«
»Das freut mich, und das soll auch so bleiben. Früher oder später wird Heiko oben ausziehen und mit einem neuen Partner ein eigenes Reich schaffen. Wenn ich mich nicht täusche, bahnt sich da etwas an. So oft wie dieser Pascal sich hier aufhält. Dann wird man sehen, wie es weitergeht.«
Kommissar Heiko Wieland aus derselben Abteilung war bei Valerie in die obere Etage gezogen, nachdem sein langjähriger Freund, Fabian, sich neu verliebt und seine Wohnung am Kaiserdamm aufgegeben hatte, um mit seiner neuen Flamme auf Mallorca zu leben. Valerie hatte Heiko gern aufgenommen, um sich in dem großen Haus nicht so allein zu fühlen.
»Gut, dann sollten wir die beiden Turteltauben nicht warten lassen. Sie haben nämlich schon das Frühstück vorbereitet.«
»Oh nein, das muss auch aufhören. Früher habe ich überhaupt nicht gefrühstückt, und jetzt finden wahre Orgien statt.«
»Solange es nur Frühstücksorgien sind ...«
»Sehr witzig. Etwas anderes käme mit zwei Schwulen kaum infrage. Hin und wieder gefällt es mir ja, wenn wir zusammen den Tag einläuten, aber eben nicht ständig.«
»Dann sag es Heiko. Ich glaube, der hat das noch nicht kapiert.«
»Das werde ich. So, ich gehe jetzt ins Bad. Du kannst ja schon Smalltalk in der Küche halten.«
»Süß bist du, wenn du so schlecht gelaunt bist. Hast du ein Glück, dass mir Morgenmuffel nichts ausmachen. Wenn ich nicht so von mir überzeugt wäre, könnte ich auf den Gedanken kommen, ein schlechter Liebhaber zu sein und dich heute Nacht nicht überzeugt zu haben.«
»Wenn du glaubst, ich würde in dieser Beziehung ein Lob aussprechen, da kannst du lange warten.«
»Hexe.«
»Eitler Gockel.«
Als Valerie wenig später frisch geduscht und frisiert in der Küche zu den drei Männern stieß, hatte sich ihre Laune schon merklich gebessert.
»Guten Morgen, schöne Frau. Wie kann man um diese Uhrzeit nur schon so gut aussehen?«, meinte Pascal und zeigte seine Grübchen.
»Die schöne Frau ist Mutter eines erwachsenen Sohnes, und der erste Lack ist bei ihr längst ab, inklusive Cellulite. Aber danke für das Kompliment«, sagte Valerie.
»Glaubt ihr kein Wort«, widersprach Konstantin. »Körperlich kann sie es noch mit jeder Zwanzigjährigen aufnehmen.«
»Ach, geistig wohl nicht? Erinnerungslücken und beginnende Anzeichen von Demenz liegen noch fern.«
»Vorsicht! Madame ist heute wieder einmal auf Krawall gebürstet. An solchen Tagen kann man ihr es kaum recht machen«, sagte Heiko.
»Wie gut du mich doch schon kennst ...«
Das witzige Geplänkel fand ein unsanftes Ende, als das Telefon läutete.
»Oh, oh, ich ahne Schlimmes«, meinte Valerie, meldete sich aber wie üblich. »Voss, was gibt‘s?«
»Zeisig, guten Morgen«, meldete sich eine sonore Stimme. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«
Als ob dir das etwas ausmachen würde, du Schleimscheißer, dachte Valerie, sagte aber brav: »Nein, nein, ich wollte gerade frühstücken.«
»Das müssen Sie leider verschieben. Es hat einen ungeklärten Todesfall draußen in Staaken gegeben. Ein sechzehnjähriges Mädchen ist aus dem Fenster im vierzehnten Stock gestürzt. Bitte fahren Sie gleich los, und nehmen Sie Herrn Bremer mit. Ich gehe davon aus, dass er sich in Ihrer Nähe befindet.«
»Da muss ich Sie enttäuschen, aber ich werde ihn umgehend informieren«, log Valerie ungeniert.
Das Verhältnis zwischen Abteilungschef Dr. Paul Zeisig und Valerie war äußerst ambivalent. Dabei war er derjenige gewesen, der sie zurückgeholt hatte. Er schätzte nämlich ihre jahrelangen Verdienste bei der Kripo, hasste aber ihre Alleingänge und Widerworte, die sie oft in einem grenzwertigen Ton anbrachte. Valerie hielt ihn für einen sogenannten Krümelkacker, dem es nur auf eine positive Aufklärungsstatistik ankam. Außerdem war er ihr zu übellaunig und griff öfter daneben bei seinen Äußerungen.
»Tun Sie das. Ich erwarte dann Ihren Bericht.«
»Alles klar, bis später! Ach, halt, wie lautet die genaue Adresse?«
»Obstallee 24. Das ist in der Rudolf Wissell Siedlung.«
»Gut, bin schon unterwegs.«
»Wen willst du informieren?«, fragte Konstantin.
»Na, wen wohl? Dich. Was hat es den Alten zu interessieren, wo du übernachtet hast?«
»Sehr richtig. Aber vielleicht willst du lieber mit Heiko fahren?«
»Die Order war unmissverständlich. Es wird deine Anwesenheit gewünscht. Heiko wird noch genug zu tun bekommen, wenn wir erst ermitteln.«
»Gut, fahren wir mit einem oder zwei Wagen?«
»Was für eine Frage … Natürlich mit einem.«
»Ich dachte nur, dass ich dann heute Abend wieder herbringen müsste.«
»Es gibt Taxis. Und du könntest auf dem Rückweg einen Schlenker machen.«
»Wo liegt eigentlich das Problem?«, fragte Heiko. »Habe ich irgendwas nicht mitbekommen? Habt ihr Streit?«
»Nein, ich habe Herrn Bremer nur gebeten, sich daran zu erinnern, dass er auch eine eigene Wohnung hat.«
»Oh, oh. Du kannst heute Abend mit mir fahren, Valerie.«
»Danke, ich werde darauf zurückkommen. Sag mal, was machst du da eigentlich die