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APEX KRIMI-HERBST 2021: Fünf Kriminal-Romane in einem Band!
APEX KRIMI-HERBST 2021: Fünf Kriminal-Romane in einem Band!
APEX KRIMI-HERBST 2021: Fünf Kriminal-Romane in einem Band!
eBook1.082 Seiten15 Stunden

APEX KRIMI-HERBST 2021: Fünf Kriminal-Romane in einem Band!

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Über dieses E-Book

Herbst - die Tage werden kürzer...

Herbst - die beste Zeit, innezuhalten und zu lesen...

Dieses Buch enthält fünf spannende und ausgewählte Top-Krimis aus den Krimi-Reihen des Apex-Verlags, geschrieben von internationalen Bestseller-Autoren - perfekter Lesestoff für lange Abende, für ein ruhiges Plätzchen im Schein der Herbstsonne, für die Reise: Die Dame in Schwarz von Richard Vincent, Der Mitternachtsengel von Frank Harper, Gefallen wie Luzifer von Sidney H. Courtier, Ein Mädchen spielt falsch von James Mayo und Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace - Die Frau im Dunkel von Christian Dörge.

Nervenkitzel und Unterhaltung pur!

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum10. Okt. 2021
ISBN9783748796596
APEX KRIMI-HERBST 2021: Fünf Kriminal-Romane in einem Band!

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    Buchvorschau

    APEX KRIMI-HERBST 2021 - Christian Dörge

    Das Buch

    Herbst - die Tage werden kürzer...

    Herbst - die beste Zeit, innezuhalten und zu lesen...

    Dieses Buch enthält fünf spannende und ausgewählte Top-Krimis aus den Krimi-Reihen des Apex-Verlags, geschrieben von internationalen Bestseller-Autoren - perfekter Lesestoff für lange Abende, für ein ruhiges Plätzchen im Schein der Herbstsonne, für die Reise: Die Dame in Schwarz von Richard Vincent, Der Mitternachtsengel von Frank Harper, Gefallen wie Luzifer von Sidney H. Courtier, Ein Mädchen spielt falsch von James Mayo und Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace - Die Frau im Dunkel von Christian Dörge.

    Nervenkitzel und Unterhaltung pur!

    1. DIE DAME IN SCHWARZ

    (Portrait in Black)

      von Richard Vincent

    1.

    Howard Mason hatte die Toreinfahrt und das Pförtnerhaus hinter sich gelassen, und doch hatte er noch mehr als eine Viertelmeile zu fahren, denn das große weiße Haus der Cabots lag hoch oben auf dem Hügel, imposant und weithin sichtbar von der Bucht, von der Straße und vom Fuße des Hügels, auf dem es stand.

    Seit Jahren hatte Mason es von all diesen Punkten aus gesehen, zumeist vom Fuße des Hügels. Und seit Jahren brannte in ihm das Verlangen, dieses Haus zu besitzen; er machte sich selbst gegenüber kein Hehl daraus. Er war kein Heuchler, es war ganz einfach sein überstark entwickelter Erwerbssinn. So leicht ließ Mason sich von niemand täuschen; am wenigsten von Howard Mason selbst. Und er wollte nicht nur das Haus, sondern auch das, wofür es stand, und indem er dies vor sich selbst zugab, steuerte er geradeaus auf dieses Ziel zu, ohne sich von irgendeiner Seite beirren zu lassen.

    Mason war das typische Produkt seiner Zeit und seiner gesellschaftlichen Schicht. Er war groß und von sympathischem Aussehen, fuhr einen schweren Wagen und war ein Experte im Golf spiel. Seine Anzüge waren von tadellosem Geschmack, leicht konservativ, und er verstand sie zu tragen. Seine Zähne waren kräftig und gesund, seine Haut sonnengebräunt, sein Haar kaum gelichtet, und er war sorgfältig darauf bedacht, nicht etwa einen Bauch anzusetzen. Er hatte eine gute Schulbildung genossen und konnte nahezu als intellektuell gelten. Er wusste ausreichend Bescheid über die zornigen jungen Männer, wusste, wo die Kampflinie zwischen Sartre und Camus verlief, und ebenso war er orientiert, worauf Tennessee Williams hinauswollte. Seine Rückhand beim Tennis war gefürchtet, und er beging nicht etwa den Fehler, die Damen der San Franciscoer Gesellschaft mit Gesprächen über die Aktienkurse der General Motors zu langweilen. Dies alles gab ihm genug Wissen und genug männlichen Charme. Dies alles war notwendig, um ihn, abgesehen von seinen beruflichen Fähigkeiten und Interessen, zu dem zu machen, was er war: Howard Mason.

    Er hatte keine düstere Kindheit in einem Elendsviertel irgendwo in den Slums hinter sich. Sein Vater war vielmehr ein mittelmäßig erfolgreicher Geschäftsmann gewesen. Aber selbst wenn man nicht aus den Slums kommt, gilt es, viele schwierige Türen zu öffnen. Und Howard Mason war gierig darauf bedacht, Türen zu öffnen wie die der reichen Cabots, und sie, wenn er sie einmal geöffnet hatte, fest hinter sich zu schließen. Er glaubte von sich selbst, dass er dann zufriedengestellt sein würde, auch wenn er in ehrlicher Selbstbetrachtung bereits die Möglichkeit erwogen hatte, dass er in seinem Besitz- und Geltungsstreben unersättlich sei - dass es ihm nicht genügen würde, im weißen Haus der Cabots, auf dem Hügel der Cabots, an der Seite von Sheila Cabot zu leben. Nun, das würde er erst dann herausfinden, wenn er dieses Ziel erreicht hatte.

    Er brachte seinen Wagen vor dem Haus zum Stehen und stieg aus. Einen Augenblick lang stand er da und schaute über die Bucht hinweg. Es war ein faszinierender Ausblick, denn der alte Joshua Cabot hatte außer seinem Yankee-Dickschädel auch den Blick und den Sinn eines Träumers gehabt. Mason verweilte stets ein paar Sekunden an dieser Stelle; auch dieser einzigartige Ausblick war es, der ihn an dem Haus der Cabots reizte.

    Ein großer Frachter schob sich gerade unter der Brücke hindurch, die sich über die Bucht spannte. Seine makellos weiße Bordwand warf das Licht der Sonne zurück. Sein Bug durchschnitt scharf das reglos und glatt daliegende Wasser. Und seine Bugwelle schwoll an, als der Kapitän jetzt die Fahrt erhöhte. Mason kannte das Schiff. Er kannte den Kapitän und die Schiffsoffiziere. Es war die Matthew S. Cabot, ein neues Schilf auf der Jungfernfahrt in den Orient. Mason beobachtete, wie es unter seiner Brücke hindurchglitt, doch keine Sekunde lang fühlte er so etwas wie Neid auf den Kapitän, und selbst die Liste der exotisch-romantischen Bestimmungshäfen konnte in ihm nicht die Spur des Wunsches wecken, mit an Bord zu sein. Fernweh hatte Mason noch nie gekannt, und was ihn im Augenblick ausschließlich interessierte, war der Mann oben im Cabot-Haus, der Mann, dem das Schiff gehörte und der sowohl den Kapitän bezahlte wie ihn, Howard Mason, selbst: Matthew S. Cabot.

    Tani, das orientalische Dienstmädchen, ließ ihn ein, und er stieg die Treppe hinauf und betrat, ohne zu klopfen, Cabots Schlafzimmer.

    Matthew Cabot lag im Bett und diktierte seiner Sekretärin. Mason wartete, bis er eine Pause machte, und sagte dann:

    »Sie sticht in See, Matthew.«

    »Mein Fernglas«, sagte Cabot.

    Mason nahm das Fernglas, das am Kopfende des Bettes hing, und reichte es Cabot. Der drückte auf einen Knopf an der Schalttafel, seitlich seines Bettes, und mit leise surrendem Geräusch hob sich sein schlaffer Oberkörper mit dem Kopfteil des Bettes in aufrechte Stellung. Er hob das Fernglas vor die Augen und richtete es aus dem breiten Panoramafenster, hielt es ruhig und stellte die Sehschärfe ein. In dieser Stellung verharrte er eine volle Minute.

    »Eigentlich müsstest du jetzt, ein erhebendes Gefühl spüren, Matthew«, sagte Mason. »Das ist Nummer fünfzig, die mit der wehenden Flagge der Cabots San Francisco verlässt.«

    Cabot reichte das Fernglas seiner Sekretärin, die es wieder an den Haken hängte. »Ich erwarte einen eingehenden Bericht, warum sie vierzig Minuten zu spät in See sticht«, sagte er mit dünner, krächzender Stimme. »Wenn es an der Dockmannschaft liegt, wird sie bis auf den letzten Mann abgemustert. Verstanden?«

    »Ich werde mich morgen früh sofort darum kümmern«, sagte Mason.

    »Sie werden sich sofort heute Nachmittag darum kümmern«, gab Cabot schroff zur Antwort. »Ihr Golfspiel wird eben einmal ausfallen müssen.« Er blinzelte zu seiner Sekretärin hinüber. »Wo waren wir stehengeblieben, Miss Lee?«

    »Beim Funktelegramm an den Kapitän der...«, sagte Miss Lee sofort.

    »Ja, ich weiß«, unterbrach sie Cabot und begann zu diktieren. »Zur Reparatur nach Hongkong einschleppen lassen...« Ein plötzlicher Krampf durchlief seinen Körper. Seine Hand tastete nach dem Schaltbrett neben dem Bett. Miss Lee, kreideweiß im Gesicht und voll offensichtlich ernster Besorgnis, ergriff diese Hand und führte sie zu dem richtigen Knopf. Cabot drückte ihn. Sofort begann das Kissenteil des Bettes sich zu senken, und schweratmend lag Cabot da.

    Mason beobachtete all dies. Es gab keinen Zweifel, Matthew Cabot war ein schwerkranker Mann. Dabei war er nicht einmal alt, gerade erst Mitte Fünfzig. Aber dennoch war er ein verbrauchter Mensch, ein menschliches Wrack, dessen physisches Leben vorüber war. Nur seine Arroganz und seine Herrschsucht waren geblieben. Er lag hilflos hier in diesem Raum, der ihm gleichzeitig als Krankenzimmer und als Büro diente, so gut es den Umständen nach eben ging.

    Aus den Augenwinkeln sah Mason zu Miss Lee hinüber. Er sah ihr verkrampft verzerrtes Gesicht und die Besorgnis darin. Mochte der alte Cabot denken, was er wollte - er, Mason, hatte Miss Lee in der Hand, wie es sich eben im Laufe der jahrelangen Zusammenarbeit ergeben hatte. Doch andererseits verstand auch Cabot, sie zu nehmen, und unwillkürlich, ob er es nun merkte oder nicht, sprach er höflicher und leiser, wenn er mit ihr zu tun hatte.

    »Schlimm heute?«, fragte Mason schließlich. Der Tonfall seiner Stimme war angemessen besorgt.

    »Setzen Sie keine solche Begräbnismiene auf, Howard. Sie werden sich noch eine ganze Weile mit mir abgeben müssen.«

    Mason sah ihm ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen. »Was wollen Sie damit sagen?«

    »Sie wissen genau, was ich damit sagen will«, entgegnete Cabot ruhig. Ohne ein verbindendes Wort fuhr er fort zu diktieren. »Zur Reparatur nach Hongkong einschleppen lassen. Erster Offizier löst Sie ab, bis Untersuchung über die Kollision abgeschlossen. Cabot.« Er schwieg einen Augenblick. »Das ist alles, Miss Lee.«

    Miss Lee stand sofort auf und schloss ihren Stenogrammblock. Sie nickte Mason zu und verließ das Zimmer.

    »Was liegt sonst vor?«, wandte sich Cabot an Mason.

    »Nichts Dringendes«, sagte Mason leichthin. Er ließ sich selten von Cabots Gemütsäußerungen überraschen; ebenso wenig von plötzlichen Entscheidungen. Meist sah er sie voraus und war auf sie gefasst, und mitunter hatte er den Eindruck, dass Cabot mit dieser Launenhaftigkeit eine Art Gesellschaftsspiel betrieb, das er mit ihm spielte. Es störte Mason nicht weiter; er war bereit, sich auch auf diese Art mit Cabot auseinanderzusetzen. »Die Stauer reden immer noch von Streik, aber, wie gesagt, sie reden nur davon.« Er nahm seine Aktentasche und öffnete den Verschluss. »Und über den Vertrag über die Schleppboote brauchen wir uns nicht vor dem Zehnten zu entscheiden.«

    »Ich habe bereits entschieden«, sagte Cabot mit seiner dünnen, krächzenden Stimme. »Der Vertrag geht an die Acme Schleppboot GmbH.«

    Dies war nun doch eine Überraschung für Mason. Diese Entscheidung gefiel ihm ganz und gar nicht, und er wusste auch, dass Cabot wusste, wie wenig sie ihm gefiel. Aber nichts von diesem Wissen war auf Masons sympathischem Gesicht zu lesen.

    »An die Acme? Wieso das?«

    »Aus verschiedenen Gründen«, sagte Cabot, »wovon der wichtigste ist, dass ich es so entschieden habe. Außerdem ist die Acme am leistungsfähigsten.«

    »Sie wissen doch, wem die Acme gehört?«, fragte Mason.

    »Ich weiß alles, was den Hafen betrifft, Howard«, sagte Cabot. »Und ebenso weiß ich alles, was Meilen landeinwärts geschieht.«

    »Und doch wollen Sie Joe Richards Sohn mit dem Schleppen von Millionen Tonnen von Cabot-Schiffen beauftragen?«

    »Mit Beauftragen und Vertrauen hat das nichts zu tun.« Cabot sah Mason leicht verärgert an. »Auch Ihnen traue ich nicht. Sie sind der beste Anwalt, den ich finden konnte; Sie sind ein Typ, den ich durchschaue, verstehe und brauche. Das ist der wahre Grund, warum ich Sie in meinem Dienst behalte, Howard - weil Sie der beste Mann für den Job sind.« Unerwartet glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Ich weiß außerdem, wo ein paar der - nun sagen wir - Opfer begraben liegen.«

    »Ich schätze, das wissen wir beide«, sagte Mason freundlich lächelnd.

    »Nun gut«, sagte Cabot. »Das ist Ihr Plus.«

    »Dessen bin ich mir, mit Verlaub, durchaus bewusst.«

    »Mit Verlaub?«, wiederholte Cabot. »Sie werden dreist. Ich hätte Ihnen schon längst auf die Finger klopfen müssen. Ich fürchte, den richtigen Zeitpunkt dafür habe ich bereits verpasst.«

    Mason lächelte. »Ich bin nur froh, dass Sie das versäumt haben.«

    »Das kann ich mir gut vorstellen.« Sekundenlang starrte er Mason an. »Das wäre dann alles, Mason«, fuhr er dann im Befehlston, mit völlig veränderter Stimme, fort. »Wenn Sie unten vorbeigehen, sagen Sie Sheila, dass ich sie zu sehen wünsche. Sofort

    Der herrschsüchtige Ton war für Mason beleidigend. Er konnte nicht verhindern, dass eine ärgerliche Röte sein Gesicht überzog. Doch seine Stimme klang weiterhin ruhig. »Wird erledigt, Matthew.« Er stand auf, verließ das Zimmer und stieg die breite, gewundene Treppe hinunter.

    Und während er mit ruhigen Schritten hinunterstieg, überwand er schnell den Hass gegenüber Cabot, der so plötzlich in ihm aufgestiegen war. Gefühlsregungen dieser Art hielt Mason für ausgesprochen hinderlich; er kannte den Wert eines kühlen, klar denkenden Kopfes. Niemals war es ihm bewusst geworden, dass er seine Karriere Cabot verdankte und niemand anderem. Seine einzige Sorge war im Augenblick, dass der kranke, langsam dahinsterbende Mann für ihn, Howard Mason, Anwalt der Rechte, das einzige Hindernis war, das ihm bei seinem Sturm auf den Cabot-Hügel noch im Wege stand.

    Als er an dem unteren Wohnzimmer vorbeikam, blickte er flüchtig hinein und verhielt sofort seinen Schritt. Sheila Cabot stand dort und blickte aus einem der hohen Fenster hinaus. Sie hatte Mason nicht bemerkt, und sekundenlang betrachtete er sie mit unverhohlenem Verlangen. Auch wenn sie nicht den Namen Cabot getragen hätte, wäre sie für ihn dieses Anschauen wert gewesen. Sie war hübsch, ja beinahe schön zu nennen. Dies und der Umstand, dass sie die Erbin Cabots sein würde, konnte den gebührenden Eindruck auf Mason nicht verfehlen.

    Gelassen stand sie da, hoch aufgerichtet, mit ihrem klaren Profil und dem aufgesteckten hellblonden Haar. Regungslos wartete Mason, bis sie sich vom Fenster abzuwenden begann. Erst dann sagte er leise: »Sheila?«

    Erschrocken wandte sie sich um.

    Mason lächelte sein weltmännisches, einstudiertes Lächeln, und seine gepflegten Zähne blitzten. »Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«

    Sheila sah ihn kühl an; sie hatte schnell ihre Haltung zurückgewonnen. »Warum schleichen Sie so durchs Haus, Howard?«

    Mason zuckte die Achseln. »Es liegt wohl an der Stimmung, die über dem Haus liegt.« Er hielt einen Augenblick inne und musterte sie in gespieltem Ernst. »Ich überbringe eine Vorladung«, sagte er und machte mit der Hand eine Geste, die die Treppe hinaufwies.

    Sheila ging auf seine sarkastische Art nicht ein. »Danke«, sagte sie mit nüchterner Höflichkeit.

    Das Geläut, das die Türglocke ersetzte, schlug an, und Sheila schrak erneut zusammen.

    Masons Blick glitt flüchtig auf seine Armbanduhr. »Er ist heute später dran als sonst, nicht wahr?«, sagte er und behielt Sheila Cabot bei diesen Worten genau im Auge. »Ich meine, das muss Dr. Riviera sein, oder nicht?«

    »Wir erwarten ihn in der Tat«, sagte Sheila ruhig.

    Tani durchquerte die Diele, um Dr. Riviera die Tür zu öffnen.

    »Matthew hält große Stücke auf den Burschen, nicht wahr?«, sagte Mason.

    »Ich glaube, ja«, sagte Sheila.

    »Und Sie auch«, sagte Mason.

    Sie zuckte in gespielter Gleichgültigkeit die Achseln. »Ja, gewiss. Sie etwa nicht?«

    Mason lächelte unsicher. »Ich? Aber gewiss doch, Sheila. Ich mag jeden, solange er mich nicht enttäuscht. Ich kann nur den Äthergeruch nicht vertragen.« Er folgte ihr in die weite Diele hinaus.

    Tani hatte inzwischen die Tür geöffnet, und Dr. Riviera trat herein. Er war schlank, groß, von dunkler Haut- und Haarfarbe, was auf den ersten Blick seine südländische Abstammung erkennen ließ. Mit seinen blitzenden dunklen Augen war er nahezu eine männliche Schönheit.

    »Guten Tag, Tani«, sagte er zu der orientalischen Bediensteten. »Guten Tag, Mr. Mason.«

    »Nun, wie geht's, Riviera?«, sagte Mason in einem Ton, der leicht von oben herab und beinahe väterlich klang.

    Riviera tat so, als bemerke er es nicht. »Guten Tag, Mrs. Cabot«, sagte er und reichte Tani seinen leichten Übermantel. »Tut mir leid, dass ich heute später dran bin. Eine Operation. Und ein paar Komplikationen noch dazu.«

    »Ich nehme an, Sie haben Ihren Patienten durchgebracht«, sagte Mason, während er in Wirklichkeit hoffte, dass dieser Patient Riviera unter den Händen gestorben war.

    »Ja, ich denke doch«, sagte Riviera.

    »Sie meinen also, er wird's überleben?«, fragte Mason, und er bemerkte, dass Sheila ihm einen missbilligenden Blick zuwarf.

    David Riviera ignorierte die Anspielung und wandte sich an Sheila. »Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, was der menschliche Körper auszuhalten vermag. Vor einer Stunde hob ich das pulsierende Herz einer Frau aus seiner Höhlung. Bereits in einem Monat wird diese Frau wieder im Sattel sitzen und reiten können.«

    »Für einen Mann muss es doch ein erhebendes Gefühl sein, das Herz einer Frau in seiner Hand zu halten«, sagte Mason.

    David Riviera blickte flüchtig zu ihm hinüber. »Ich kann mich nicht einmal an ihren Namen erinnern.«

    Von einem kleinen Kasten an der Wand kam ein durchdringendes Schnarren.

    »Gehen Sie besser gleich hinauf, Doktor«, sagte Sheila. »Er wartet schon ungeduldig auf Sie.« Sie ging die gewundene Treppe hinauf, und Dr. Riviera folgte ihr.

    Mason sah ihnen nach. Er wartete, bis sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatten.

    »Good-bye«, sagte er dann mit sarkastischer Betonung.

    Beide wandten sich um, ein wenig überrascht ob ihrer eigenen Unhöflichkeit und Vergesslichkeit.

    »Good-bye«, sagten sie beinahe im Chor.

    Mason ließ sich von Tani seinen Hut geben und verließ das Haus. Da geht doch irgendwas vor zwischen den beiden, sagte er zu sich selbst. Ganz sicher habe ich mich nicht getäuscht. Mich hatten die beiden vollkommen vergessen; sie vergaßen sogar, mir Good-bye zu sagen. Nun, so schnell werden sie mich doch nicht vergessen, dafür werde ich sorgen, dachte Mason, während er in seinen Wagen stieg. In gemessener Fahrt lenkte er ihn auf der betonierten Fahrbahn den Hügel hinunter. Oh, nein, sie würden noch häufig genug an ihn denken.

    2.

    Als die beiden das Zimmer betraten, zeigte Cabot mit keiner Miene die Schmerzen, die er ertrug. Einen Augenblick lang beobachtete er diese, an ihm selbst gemessen, so jung und kräftig wirkenden Menschen. Dann unterzog er sich der flüchtigen Untersuchung durch David Riviera.

    »Wie war der Tag für Sie, Mr. Cabot?«, fragte Riviera, während er sich aufrichtete und auf ihn herunterblickte.

    »Meine Schiffe verspäten sich; mein Arzt verspätet sich; abgesehen davon war es ein Tag wie jeder andere«, knurrte Cabot.

    David Riviera lächelte. Er öffnete seine Arzttasche und entnahm ihr eine vorbereitete Rekordspritze, eine Injektionsnadel und eine Ampulle. Mit geübter Hand tränkte Sheila indessen einen Wattebausch mit Alkohol und rieb damit Cabots Armbeuge ein.

    »Sind die Schmerzen sehr schlimm?«, fragte David.

    »Sie sind das einzige, worauf ich mich verlassen kann«, murrte Cabot. »Wenigstens sie waren pünktlich.« Der Ton seiner Stimme war hart und fest. Es lag keine Spur von Mitleidheischen darin.

    David zog den Inhalt der Ampulle in die Spritze ein. Flüchtig blickte er zu Sheila hinüber, die die Augen niederschlug. Dann nahm sie die leere Ampulle, die er ihr hinhielt, und ließ sie in einen Abfallkorb neben dem Bett fallen. David beugte sich vor, durchbohrte mit der Injektionsnadel die welke, weiße Haut und entleerte den Inhalt in den schlaffen Arm.

    Cabot grunzte belustigt. »Ich komme mir fast so vor wie einer von dem Rauschgiftgesindel unten am Hafen. Ohne meine tägliche Spritze komme ich einfach nicht aus.«

    Wieder lächelte David und zog die Injektionsnadel aus Cabots Arm.

    Cabot bemerkte das Lächeln, und es ärgerte ihn. »Ich will von nichts und niemand abhängig sein, hören Sie. Von nichts und niemand.« Er sprach es mit einer Betonung, die keinen Zweifel daran ließ, dass er genau das meinte, was er sagte.

    »Wir alle brauchen jemand und sind von jedem abhängig«, entgegnete David ruhig.

    »Ich brauche niemand«, protestierte Cabot, und seine blassen Augen glitten sekundenlang zu Sheila hinüber. »Es ist mein schlaffer Corpus, der Hilfe braucht.«

    »Sie und Ihr Körper sind eins«, sagte David geduldig. »Es würde schwierig sein, das eine von dem anderen zu trennen. Eines existiert nicht ohne das andere.«

    »Natürlich nicht«, entgegnete Cabot gereizt. »Was Sie da sagen, weiß jedes Kind. Ich meine vielmehr, wenn es eine Möglichkeit gäbe, meinen Körper zurückzulassen und mein Gehirn und meinen Intellekt aus einer Flasche zu nähren, würde ich vollkommen zufrieden sein.«

    »Das meinen Sie doch nicht etwa im Ernst«, sagte David.

    »Wieso nicht?«, fragte Cabot. »Oder hatten Sie jemals den Eindruck, ich sei frivol?«

    »Das möchte ich nicht behaupten«, sagte David, und wieder lächelte er.

    »Sehen Sie! Dann meine ich auch, was ich sage. Angelegenheiten und Bedürfnisse des Körpers sind weiter nichts als lästig und unbequem. Ich, für meine Person, käme weit besser ohne sie aus. Dann würde ich wenigstens auf niemand angewiesen sein und ewig leben. Es wäre die perfekte Lösung für einen Mann von meinem Temperament.«

    »Unsinn!«, sagte David. »Dieses Gewäsch glauben Sie doch selbst nicht, und Sie tun mir leid. Ich kann Ihre Verbitterung verstehen, aber Ihre Theorie erscheint mir doch reichlich verschroben.«

    »Ja, ja, ich weiß«, sagte Cabot und sah zu ihm auf. »Zur Abwechslung bekomme ich mal eine ehrliche Antwort. Sehr erholsam für mich. Offensichtlich wollen und brauchen Sie nichts von mir, oder Sie würden entgegenkommender sein. Aber Ihre Lauterkeit - ich bin überzeugt, dass Sie es dafür halten - ist ebenso langweilig und lästig wie mein schlaffer Körper. Sie ekelt mich an. Gewiss, Sie sind ein ausgezeichneter Arzt - wie Leute, die es wissen müssen, mir versichert haben -, aber ein brillanter Arzt ist im Grunde doch weiter nichts als ein hochqualifizierter Techniker. Nichts mehr. Ich wünschte, Sie hätten mehr Einfallsreichtum und mehr Originalität der Gedanken, Dr. Riviera. Dann würde ich Sie mehr respektieren.« Ohne ein Wort des Übergangs wechselte er das Thema. »Was höre ich da - Sie wollen mir davonlaufen?«

    Sheila, die abseits neben dem Fenster gestanden hatte, zuckte merklich zusammen.

    »In die Schweiz, nicht wahr?«, fuhr Cabot fort.

    »Wer hat Ihnen davon erzählt?«, fragte David.

    »Ihr erlauchter Vorgänger, Dr. Kessler, Chefarzt irgendeines großen Krankenhauses. Er hat's mir erzählt.«

    David gab nicht sofort eine Antwort, sondern tat geschäftig, seine Instrumente zurück in die Arzttasche zu packen.

    »Warum haben Sie es mir nicht selbst gesagt?«, fragte Cabot mit abweisender Kälte.

    »Ich habe mich bisher noch nicht entschlossen, ob ich überhaupt gehe«, sagte David ruhig.

    »Sie treffen heute Abend mit dem Chefarzt eines Züricher Krankenhauses zusammen, nicht wahr?«

    David starrte Cabot eine Sekunde lang in die Augen. »Ja«, gab er gedehnt zur Antwort, »ich will hören, was er darüber zu sagen hat.«

    »Was ist es, das Sie nach Zürich zieht? Geld?«

    »In der Hauptsache die Möglichkeit unabhängiger und freier Forschung«, sagte David.

    »Wollen Sie mir weismachen, derartige Möglichkeiten gäbe es hier in San Francisco und in den Staaten nicht?«

    »Natürlich gibt es die.«

    »Ah, so«, sagte Cabot, »dann muss wohl das würdige alte Europa in Ihrem Kopf herumspuken. Berühmte alte Doktoren mit weißen Bärten, unverständlichen Dialekten und albernem Glauben an eine höhere Berufung. Das gute alte Europa! Zum Lachen! Es ist so krank, siech und hilflos wie ich selbst.« Er drückte den Knopf der Schalttafel seitlich des Bettes, und sein Oberkörper richtete sich mit dem Kissenteil auf. »Und mich lässt man einfach hier liegen! Wer wird Ihr Nachfolger?«

    »Ich halte Dr. Beloit für den fähigsten und geeignetsten«, sagte David.

    »Nicht nur fähig, sondern auch zuverlässig?«, fragte Cabot.

    »Ich bin überzeugt, dass Dr. Kessler ihn in jeder dieser Hinsichten empfehlen wird.«

    Cabot lächelte; ein kaltes, maskenhaftes Lächeln. »Das hat er bereits getan. Bringen Sie ihn morgen mit.«

    »Sofern ich mich für die Schweiz entschließe«, sagte David.

    »Sie werden sich dazu entschließen. Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie hier halten soll. Sie werden sich genauso aufführen wie ein Held im Kino oder in einem Roman von A. J. Cronin.« Er musterte David verächtlich. »Das wäre dann wohl das höchste Ziel, das der Sohn eines mexikanischen Obstpflückers aus dem Napa-Tal erreichen kann. Ja, Sie werden fahren; Sie sind genau der Typ. Um der medizinischen Forschung zu dienen - so sagt man doch, nicht wahr?«

    David sah auf den leidenden alten Mann herunter, und Mitleid stand in seinem Gesicht. »Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Nacht«, sagte er und ging zur Tür. Sheila schickte sich an, ihn hinauszubegleiten.

    »Bleib, Sheila«, fuhr Cabot sie an. »Der Doktor kennt inzwischen den Weg nach draußen.«

    Sheila blieb starr stehen, wo sie war.

    »Falls Sie mich brauchen sollten«, sagte David ruhig, »können Sie mich zu Hause erreichen.«

    Er ging hinaus und schloss hinter sich die Tür.

    Sheila trat zurück an die Seite des Bettes, blieb dort ganz ruhig stehen, sagte kein Wort, und obwohl ihr Gesicht ausdruckslos blieb, machte sie den Eindruck völliger Resignation.

    Cabot schaute sie eine Weile an, ohne etwas zu sagen. Er ließ sie dort stehen, und sie wartete geduldig.

    »Mein teures Weib«, sagte er schließlich. »Mein ach so geduldiges teures Weib. Mit jedem Tag wirst du in deiner Haltung mir gegenüber widerspenstiger.«

    Sie gab keine Antwort.

    »Nun?«, sagte er.

    »Nun - was?«, entgegnete sie. »Du erwartest von mir darauf doch sicher keine Antwort.«

    »Ich erwarte gar nichts von dir. Das ist mein Glück - um es gelinde auszudrücken.«

    »Ich tue, was ich kann, Matthew«, sagte sie leise.

    »So, tust du das? Und bist du unglücklich dabei, meine Liebe?« Er wartete. »Nun, bekomme ich keine Antwort?«

    »Oh, Matthew«, sagte sie resigniert. »Warum fragst du bloß?«

    »Mein liebes Weib, wir haben einen heiligen Bund geschlossen, der vom Allerhöchsten gesegnet worden ist. Unser Name wird fortleben. Wir sind reich. Wir gehören zur herrschenden Gesellschaftsschicht, zur Aristokratie. Sollen wir den romantischen Idioten rechtgeben und eingestehen, dass wir mit all dem nicht glücklich sind?«

    »Soll ich sagen, dass ich glücklich bin?«, fragte sie. »Ich tu's, wenn du's verlangst.«

    »Ach was!«, sagte er barsch. »Ich bin ein logisch denkender Mensch, und diese Logik sagt mir, dass wir mit alledem, was wir besitzen, glücklich sein müssen.« Seine Augen glitten über ihre Gestalt, und sie las nur allzu deutlich den Hunger und das Verlangen darin. Verlegen wandte sie den Blick ab. »Du würdest aber doch sicher zugeben, dass wir einen guten und vielversprechenden Anfang machten«, fuhr er fort. »Nicht wahr, Sheila?«

    Sie hob den Kopf. »Gewiss«, sagte sie, »es war sehr nett.«

    »Nett?«, wiederholte er. »So, das war es für dich - nett! Nun, ich will dir sagen, dass es für mich nicht nett war. Dazu war es zu überwältigend, zu aufregend und später allzu enttäuschend. Ich möchte das alles nicht noch einmal durchmachen. Nie mehr!«

    Sie war überrascht und schockiert. »Matthew«, flüsterte sie, »das sagst du mir nach all diesen Jahren?«

    »Warum nicht?«, sagte er kalt. »Das alles spielt doch jetzt keine Rolle mehr.«

    Sie sah ihm fest in die Augen. »Nein«, sagte sie, »jetzt ist es zu spät. Aber es gab einmal eine Zeit, da war es nicht zu spät.«

    »Du bist eine perfekte Lügnerin«, sagte er mit gleichmütiger Stimme. »In Wirklichkeit habe ich dich niemals erreichen können. Du warst mir von eh und je fern. Ich wusste es schon damals, und heute gebe ich es selbst zu. Den Grund weiß ich nicht. Ich war ein unternehmungslustiger, gutaussehender Mann und besaß sogar so etwas wie Charme.«

    »Das warst du«, sagte sie. »Ich kann mich gut erinnern.«

    Er sah zu ihr auf. »So, du erinnerst dich. Weißt du, was du mir mit solchen Bemerkungen antust?« Ich glaube, nein. Du denkst vielleicht, du bist freundlich zu mir. Lass es lieber. Tu nur das, was ich dir sage. Ich werde dich bei mir behalten, bis ich sterbe, weil ich ein kranker, rachsüchtiger alter Mann bin, und weil ich dich hassen gelernt habe. Nun, was sagst du dazu?«

    »Das wusste ich längst«, sagte sie.

    »Nichts wusstest du. Du kannst mich auch heute noch nicht verstehen, und du bist in Wahrheit keine sonderlich intelligente Frau. Das ist nur ein kleiner Teil meines Denkens, den ich dir verrate, und du hast keine Ahnung, wer und was ich in Wahrheit bin, meine Liebe.« Er schloss einen Augenblick lang die Augen. »Ich kann mich erinnern, als du aus Seelenkummer weintest«, fuhr er fort. »Du weintest und stöhntest und schlugst um dich. Derart zu schauspielern, dazu bist du gar nicht imstande. Das war echt. Habe ich Recht?«

    Sie gab keine Antwort, sondern sah ihn nur in einer Art verlegenen Staunens an.

    »Heute erscheint es mir unglaublich«, sagte er weiter, »wie interessiert wir einmal jeder an dem Körper des anderen waren. Von einem gewissen Standpunkt aus war es beinahe schon ungesund. Es erscheint mir auch deshalb unglaublich, weil ich bestenfalls eine widerliche Apathie empfinde, wenn ich an das denke, was wir beide miteinander aufführten. Ja, sogar ein wenig Scham wegen der Würdelosigkeit, in die ich mich dabei verlor. Meine Würdelosigkeit und deine erschreckende Neugier und Lust. Oh, wenn ich daran denke, wie du dich gebärdet hast. Wirklich einmalig!«

    »Hör auf, Matthew«, unterbrach sie ihn. »In der Art, wie du es vorbringst, ist es obszön und unanständig.«

    »Geh' doch aus dem Zimmer«, sagte er. »Ich kann dich nicht zurückhalten, und du brauchst es dir also nicht anzuhören. Die Lage ist für dich unerträglich, aber dennoch bleibst du. Warum? Ich kenne die Antwort, die du dir selbst gegeben hast, und sie liefert dich mir aus, meine liebe Sheila. Unser - mein Sohn, sagst du. Nein. Es ist nicht Peter. Wenn du mich verlässt, stehst du ohne Geld da, ohne Sohn, ohne Haus, ohne Wagen, ohne Chauffeur. Nichts hast du dann mehr, und unser Sohn ist nur eines davon, aber er dient dir als Vorwand; er ist deine Entschuldigung. Die Wahrheit ist viel einfacher: Du bist ein Schwächling! Hier hast du alles, was du dir nur wünschen kannst. Wenn du mich ernstlich verlassen wolltest, hättest du durchaus die Möglichkeit dazu. Und doch wirst du es nicht tun, weil du mit der veränderten Lage nicht fertig werden würdest.«

    Während er sprach, und während die erniedrigenden, bösartigen Worte von seinen welken, blassen Lippen kamen, schien Sheila einen Halt gefunden zu haben, einen Schutz, unter den sie sich vor den auf sie niederprasselnden gemeinen Worten ducken konnte. Sie hatte sich aufgerichtet und war in ihrer Haltung ruhiger geworden. Cabot sah es mit seinen forschenden, durchbohrenden Augen und wusste, dass er sie endgültig verloren hatte. Flüchtig überlegte er, was ihr wohl diese Kraft geben mochte. Schon mehrfach hatte er bemerkt, dass sie irgendworan einen Halt zu finden schien und dass seine Worte, mochten sie noch so hart sein, Sheila nicht mehr tiefer verletzen konnten. Er redete noch eine Weile weiter auf sie ein, aber dann überkam ihn selbst der Ekel vor dem Schmutz, den er auf sie häufte; er begann sich selbst zu hassen, und wendete es dann so, dass er den Hass auf sie übertrug. Endlich hielt er inne, drückte einen der Knöpfe des Schaltbretts, und sein Oberkörper senkte sich in die Horizontale. Regungslos lag er mehrere Minuten flach auf dem Rücken, doch Sheila machte keine Bewegung, um das Zimmer zu verlassen.

    »Nur noch ein paar Minuten«, sagte er. »Ist das zu viel verlangt von meinem treu ergebenen Weib?« Seine Worte klangen jetzt beinahe flehend. Er wie auch Sheila hörten diesen gänzlich anderen Stimmfall, und wenn Cabot dazu imstande gewesen wäre, hätte er sich in diesem Augenblick aus dem Fenster gestürzt ob der nach seiner Meinung erniedrigenden Schwäche, die er ihr gegenüber offenbarte.

    »Nein, Matthew«, sagte sie, doch es lag kein Triumph in ihrer Stimme.

    »Natürlich kann es auch vielleicht ein paar Sekunden länger dauern«, konnte Cabot sich nicht enthalten, in seiner momentanen Schwäche einzugestehen.

    Sheila trat ans Fenster und zog die dichten Vorhänge vor die hellleuchtende Nachmittagssonne.

    Dies gab Cabot Zeit, sich wieder zu fassen, aber ihm kam nicht in den Sinn, dass sie es absichtlich getan hatte, eben um ihm diese Zeit zu geben. Unhörbar, zu sich selbst, sagte er sehr langsam und sehr klar: Lass das Flennen, Matthew S. Cabot! Nimm dich zusammen. Zittere und winsele nicht, wenn du zu ihr sprichst. Denk daran, wer du bist! Diese unhörbaren Worte gaben ihm seine Sicherheit zurück, und als er jetzt sprach, tat er es mit der gewohnten Härte und Kälte.

    »Die Zaubernadel«, sagte er, »die wunderbare Injektionsnadel, Zauber der Medizin. Tötet den Schmerz und hält einen Menschen am Leben - jahrelang. Ist es nicht jammerschade, dass sie noch nichts für deinen Zustand gefunden haben? Das wäre dann ein noch größeres Wunder, nicht wahr, Sheila?«

    Sheila wandte sich vom Fenster ab und trat zurück an das Bett.

    »Eine Vitaminspritze gegen Liebesmangel«, ergänzte er.

    Sie beugte sich über ihn, richtete ihm das Kissen und rückte die Karaffe und das Wasserglas besser in seine Reichweite. »Brauchst du sonst noch etwas, Matthew?«, fragte sie.

    Er wollte nein sagen, wollte sie gehen lassen, denn das Spiel, das er mit ihr trieb, war vorüber, aber er brachte es nicht fertig.

    »Ja«, sagte er. »Ich fand heute etwas über dich in der Post.«

    »Über mich?« Sie schien nur wenig interessiert.

    Er tastete mit der Hand über die verstellbare Tischplatte seines Betttisches und fischte eine Fotokopie heraus.

    »Hier, eine Fotokopie. Kraftfahrzeugzulassungsstelle. Antrag auf einen Lernführerschein. Ausgestellt für Sheila Cabot am 16. - das war also vorgestern.«

    Sheila schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast wohl überall deine Freunde sitzen, nicht wahr?«

    Cabot überhörte es. »Was ist plötzlich in dich gefahren? Wofür brauchst du einen Führerschein?«

    »Und warum machst du eine Affäre daraus, wenn ich selbst fahren will?«

    »Ein Chauffeur und eine Cadillac-Limousine genügen dir wohl nicht mehr?«, fragte er. »Sie sind dir wohl nicht - nun, sagen wir - diskret genug?«

    »Oh, Matthew«, sagte sie, »warum bist du so kleinlich. Es ist deiner doch gar nicht würdig.«

    »Kleinlich?«, sagte er. »Echte Rachsucht besteht fast nur aus Kleinlichkeit. Du als Frau müsstest das eigentlich wissen. Es ist ein typisch weiblicher Charakterzug. Wohin willst du fahren? Gib Antwort - wohin?«

    Sie wirkte plötzlich sehr müde, zum ersten Mal an diesem Tag.

    »Ich weiß es nicht«, gab sie zur Antwort. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Zum Friseur, zum Einkäufen, zu Freundinnen - ich weiß es wirklich nicht.«

    »Dafür ist Cob da, und dafür bezahle ich ihn«, sagte Matthew und war selbst beschämt über die Nichtigkeiten ihrer Konversation. Für ihn war es ein Maßstab, wie sehr sich sein Befinden verschlechtert hatte.

    »Vielleicht fahre ich nur ohne Ziel irgendwohin«, sagte Sheila. »Nur um zu fahren und um ein wenig allein zu sein.«

    »Allein?« Die schlaffe Hand tastete nach dem Knopf, das Kissenteil fuhr in die Höhe, und mit krallenartigem Griff packte er ihre Hand. »Du bist meine Frau. Du hast nirgends wohin allein zu fahren und nirgendwo allein zu sein.«

    »Bitte, Matthew«, sagte Sheila leise, »du tust mir weh.«

    Sofort ließ er sie los. Sie rieb sich das Handgelenk, auf dem die Spuren seiner Finger zurückgeblieben waren. »Lerne endlich, etwas auszuhalten«, sagte er kalt und schnaubte verächtlich, »so wie ich vieles in meinem Leben aushalten musste - vor allem jetzt.« Er schloss die Augen und spürte, wie die injizierte Droge schwer durch seine Venen floss. »Also gut. Deine täglichen Minuten, die du bei mir zu verbringen hast, sind um.«

    Sheila zögerte keinen Augenblick und verließ das Zimmer. Sie schloss von draußen die Tür und lehnte sich schwer dagegen.

    »Dieser schreckliche Mann«, flüsterte sie vor sich hin, so dass nur sie es hören konnte. »Dieser entsetzliche kranke alte Mann!«

    3.

    Tanis glatte rötlich-braune orientalische Gesichtshaut reflektierte das Licht, das von den Heizspiralen des großen Küchenbackofens kam. Als das Haustelefon läutete, schloss sie die Ofentür und hob den Hörer ab.

    »Ja, Mrs. Cabot. Natürlich. Cob ist hier unten. Ich werde es ihm ausrichten.« Sie hängte den Hörer auf und wandte sich an Cob, den Chauffeur. »Mrs. Cabot wünscht, dass Sie sofort mit dem Wagen Vorfahren.«

    »Pssst!« Cob setzte die Kaffeetasse ab und schaute irritiert auf. Er langte mit der Hand über den Tisch und drehte das Kofferradio auf volle Lautstärke. Der Ansager war gerade dabei, die Ergebnisse und Quoten der Pferderennen durchzusagen.

    »Sofort!«, sagte Tani. »Sie will den Wagen sofort!«

    Ärgerlich schaltete Cob das Radio ab. »Verflixt! Den ganzen Tag hat sie Zeit, und ausgerechnet in dieser Minute muss sie sich darauf besinnen, dass sie den Wagen braucht.«

    »Sie sagt, sie braucht ihn sofort«, wiederholte Tani.

    »Ja, ja, ich hör ja schon.« Cob quetschte den Stummel seiner Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf. »Tagelang steht der Wagen in der Garage, und die Batterie wird schwach und schwächer. Aber wenn sie ihn mal braucht, dann natürlich sofort.« Er zeigte mit dem Daumen zum Radio hin. »Ausgerechnet jetzt, wo die Quoten durchgegeben werden. Was ich dort investiert habe - darauf nimmt natürlich kein Mensch Rücksicht.«

    »Sie werden gut bezahlt für Ihr bisschen Arbeit hier«, sagte Tani und wandte sich wieder dem Backofen zu.

    »Was? Für meine wenige Arbeit? Ist es vielleicht ein Vergnügen, ständig in dieser Affenjacke herumzuparadieren? Nun, ich werde sie nicht mein ganzes Leben tragen. Eines Tages lande ich einen Volltreffer, und dann kaufe ich ihnen die ganze Rennbahn ab. Dann kommt die Sekunde X für Cob O'Brien.«

    »Ja, eines Tages...«, sagte Tani.

    »Was, glauben Sie es etwa nicht?« empörte sich Cob.

    »Inzwischen fahren Sie lieber den Wagen vor.«

    Cob starrte sie an, und sein raues, rotes Gesicht verzog sich ärgerlich. »Ha!«, sagte er. »Aus Ihnen spricht wohl die Weisheit des Ostens! Warum geben Sie nicht Ihren Beruf auf und gehen als Wahrsagerin?« Wütend stampfte er hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Tani lächelte, ein sehr westliches Lächeln, voll von Humor.

    Sheila war gerade dabei, den Mantel auszuwählen, den sie überziehen wollte, als ihr neunjähriger Sohn Peter hereinkam.

    »Mami?«, sagte er höflich, jedoch ein wenig unsicher.

    Sheila wandte sich zu ihm um, und wie immer, wenn sie ihn ansah, zog sich ihr Herz schmerzlich zusammen. Er war groß für sein Alter und blond wie seine Mutter. Doch seine Gesichtszüge hatten den strengen Schnitt der Cabots.

    »Ja, Peter? Was gibt's denn, Liebling?«

    »Schau, was mir Miss Lee mitgebracht hat!« Übereifrig sprudelte er die Worte heraus. »Aus dem Büro! Alles Luftpostmarken!«

    »Die sind aber fein«, sagte Sheila und gab ihrer Stimme das schuldige respektvolle Erstaunen. »Und aus der ganzen Welt! Hast du auch nicht vergessen, dich zu bedanken?«

    »Was ist?«, fragte Peter geistesabwesend.

    »Ob du dich bei Miss Lee auch für ihre Mühe bedankt hast!«

    »Oh!« Er schaute zu ihr auf und blinzelte. »Ich glaube, ja. Hilfst du mir beim Einkleben ins Album?«

    »Nicht jetzt gleich, Liebling. Heute Abend vor dem Schlafengehen. Genügt dir das?«

    »Klar.« Er hörte nur mit halbem Ohr hin, aber selbst seine leise Zerstreutheit fand Sheila entzückend. Unauffällig beobachtete sie ihn, und warm stieg die Liebe in ihr für ihn auf.

    »Ich gehe jetzt und sortiere sie.«

    »Gib mir erst einen Kuss«, sagte sie und sah stolz auf ihn herunter.

    »Was? Ach so.«

    Sie küsste ihn auf die Wange, dann lief er mit seinen Briefmarken in der Hand aus dem Zimmer.

    Sheila hatte sich endlich für einen Mantel entschieden, ging zur Tür hinaus und stieg die gewundene breite Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Als sie die Diele erreicht hatte, öffnete sich die Haustür und Catherine Cabot, ihre erwachsene Stieftochter, trat ein. Beide blieben stehen, wo sie gerade standen.

    »Wie geht es Vater?«, fragte das junge Mädchen.

    »Er schläft jetzt. Dr. Riviera war gerade da und hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben.«

    Unverwandt blickte das Mädchen sie an. »Und du gehst aus?«

    »Gewiss, warum nicht?«, sagte Sheila. »Ich habe in der Stadt ein paar Besorgungen zu machen. Tani wird nach deinem Vater sehen.«

    Cathy stürmte an ihr vorbei auf die Treppe zu. »Das braucht sie nicht. Ich werde es tun.«

    Sheila fuhr herum. »Cathy!«, rief sie ihr nach.

    »Ja?« Das Mädchen verhielt den Schritt. Ihr langes dunkelblondes Haar flog herum und umrahmte ihr frisches, goldbraun getöntes Gesicht.

    »Seit drei Tagen habe ich keinen Fuß aus dem Haus gesetzt«, sagte Sheila leise und eindringlich. »Auch ich brauche gelegentlich ein wenig frische Luft. Dagegen wirst doch wohl auch du nichts einzuwenden haben.«

    Es stand weder Liebe noch Sympathie in dem Gesicht des Mädchens, das dort von den ersten Treppenstufen auf ihre Stiefmutter heruntersah. »Amüsiere dich gut, Sheila«, sagte sie und ging weiter die Treppe hinauf.

    Sekundenlang stand Sheila starr und sah ihr nach. Ihr Gesicht ließ keinerlei Regung erkennen, doch in ihrer Haltung lag so etwas wie Betroffenheit.

    Auf der Fahrt ins Stadtinnere merkte Sheila verschiedentlich, wie Cob sie im Rückspiegel beobachtete und ihren Blick einzufangen versuchte. Anscheinend wollte er ein Gespräch anfangen, aber Sheila ermunterte ihn nicht dazu. Lediglich einmal bestätigte sie ihm, dass es in der Tat ein herrlicher Tag sei. Das war alles, was sie sagte, und Cob unternahm keine weiteren Versuche.

    Die schwere Limousine hielt vor dem Tuchgeschäft von Magnin & Company, und Cob kam um den Wagen herum und hielt Sheila die Tür auf.

    »Holen Sie mich in einer Stunde ab«, sagte sie.

    »Hier, Madam?« Cob zog die Augenbrauen hoch.

    Sheila fühlte ein Zittern der Angst in sich aufsteigen. »Ja, hier. Warum?«

    »Das Geschäft schließt in einer dreiviertel Stunde«, sagte Cob und sah sie unverwandt an.

    »Oh!« Sie überlegte einen Moment. »Nun, dann eben in einer dreiviertel Stunde.«

    Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass er grinste, obwohl er es in Wirklichkeit selbstverständlich nicht tat.

    »Ich bin pünktlich auf die Minute da, Madam«, sagte er, stieg zurück in die Limousine und glitt mit ihr davon.

    Sheila blickte ihm kurz nach und öffnete die Tür des Geschäftes, in dem sie mit schnellen Schritten den Hauptgang entlang ging. Jemand, der sie beobachtet hätte, hätte zweifellos den Eindruck gehabt, es handele sich um eine Kundin, die genau wüsste, was sie wollte und wo sie es finden konnte. Sie bog vom Hauptgang ab und blieb vor einem Verkaufstisch in der Nähe des Seitenausgangs stehen, nahm einen herrlich gemusterten italienischen Brokatstoff auf und ließ ihn durch ihre schmalen, feingliedrigen Finger gleiten. Dann blickte sie sich einmal vergewissernd um, ganz in die Runde, und verließ das Geschäft durch den Seitenausgang. Dort wartete ein vorbestelltes Taxi, und sie stieg ein.

    David Riviera wohnte auf dem Russian Hill in einem eleganten Appartementhaus mit dem Standardblick auf die Bucht und das Meer hinaus, wie er für elegante San Franciscoer Wohnungen üblich ist.

    Als Sheila den Summer an seiner Wohnungstür drückte, öffnete er sofort, und sie schlüpfte hinein.

    Er fasste sie leicht bei den Armen. »Ich habe so gehofft, dass du dich freimachen könntest«, sagte er.

    »Es musste einfach gehen, vor allem heute.« Sie sah ihm flüchtig in die Augen und ging ins Wohnzimmer hinein.

    David folgte ihr auf den Fersen. »Sheila, wegen Zürich, ich wollte dir nur sagen...«

    »Nicht jetzt, Liebling«, unterbrach sie ihn, und leise Wehmut und Trauer lag in ihrer Stimme. »Sag jetzt gar nichts. Halt mich nur fest. Bitte!«

    In Davids Gesicht war zu lesen, was hinter seiner Stirn vorgehen mochte. Seine Augen zogen sich wie im Schmerz zusammen, und wieder schloss er Sheila in die Arme.

    Diesmal war es eine leidenschaftliche Umarmung. Immer wieder flüsterte er leise ihren Namen, und sie stöhnte wie im Schmerz. Dann nahm sie sein Gesicht in ihre beiden Hände, schob seinen Kopf zurück und sah ihm eindringlich in die Augen, sekundenlang, küsste ihn erneut leidenschaftlich und hingebungsvoll auf den Mund, bis sie ihn dann endlich freigab und ans Fenster trat.

    »Es ist also wahr?« Sie sagte es ganz ruhig.

    »Setz dich, Liebling«, sagte er, »und gib mir erst deinen Mantel.«

    »Bitte, David, ich möchte eine Antwort auf meine Frage.«

    »Ja, es ist wahr«, sagte er mit heiserer Stimme. Es durchzuckte ihn wie ein schmerzlicher Stich. »Bitte, sieh mich an«, sagte er zu Sheila, die immer noch zum Fenster hinaussah.

    Mit einer schnellen, flüchtigen Drehung wandte sie sich ihm zu, und in ihrem Gesicht stand nichts von dem, was sie in diesem Augenblick empfinden mochte. »Es scheint eine einmalige Gelegenheit für dich zu sein.«

    »Sheila«, sagte er betont, »bitte!«

    »Nun, ist Zürich das nicht?«

    »Ja«, sagte er, »beruflich ist es das.«

    »Und es ist doch genau das, was du dir immer erträumt hast.«

    »Sheila, bitte hör’ auf!«

    »Die Schweiz, solch ein herrliches Land. So sauber und rein.« Erneut wandte sie sich von ihm ab. Tränen verschleierten ihren Blick.

    »Bitte weine doch nicht, Liebling. Zanke und streite mit mir, aber bitte nicht weinen!«

    Sie drehte sich zurück. Ihre Tränen waren versiegt, ihre Augen glänzten nur noch von Nässe. »Ich? Weinen? Warum sollte ich. Ich bin lediglich höflich und interessiere mich für deinen beruflichen Fortgang, den du in der Schweiz...«

    »Lass das Theaterspielen«, sagte er heiser und starrte sie an. »Ich gehe nicht aus beruflichen Gründen. Ich gehe, weil ich muss - weil die Situation hier unerträglich geworden ist.«

    »So, ist sie das?« kam die Antwort. »Wie in einem Drama oder etwas Ähnlichem?«

    »Was ist mit dir?«, fragte er. »Warum sprichst du in dieser verleumderischen Art, die unserer Liebe nicht wert ist...«

    Da kamen ihr erneut die Tränen. Er ließ sie weinen, und als sie die Tränen getrocknet hatte, fühlten beide sich erleichtert, und er schloss sie in seine Arme.

    »Das einzige Mal, dass ich dich bisher weinen gesehen habe, war, als du zum ersten Mal in diese Wohnung kamst«, sagte er leise.

    Sie stützte beide Hände gegen seine Brust und machte sich von ihm frei. »In Wirklichkeit willst du also, dass ich weine«, sagte sie. »Und da ich weine, ist man eben zu dem armen Liebling freundlich und sanft. Noch eine Weile, dann werden wir beide weinen, und du wirst in die Schweiz fahren, und das wird dann das Ende sein. Nun, ich versichere dir, das wird es nicht sein. Ich glaube nicht, dass du überhaupt verstehst, wie sehr ich dich liebe. Wir wollen jetzt nicht nett und sanft zu mir sein, und wir wollen auch nicht zugeben, dass die Situation unerträglich ist. Ich halte das einfach nicht aus.«

    »Meinst du, mir macht es Spaß, die Dinge beim Namen zu nennen, Liebling?« Das ganze Elend, das er in diesem Augenblick fühlte, klang aus seiner Stimme heraus.

    »Nein«, sagte sie. »Das glaube ich nicht. Aber nichtsdestoweniger... gehst du fort.«

    Sie sah ihn an, wie er niedergeschlagen vor ihr stand, und es schien ihr das Herz zu zerreißen. »Seltsam«, sagte sie, »was einem in solchen Augenblicken durch den Kopf geht. Alles, was ich denken kann, ist, dass ich nun niemals wissen werde, wie es ist, am Morgen zu erwachen und dich neben mir zu finden.«

    »Doch«, sagte er, »das wirst du. Glaube mir. Es ist nur eine Frage der Zeit. Matthew Cabot erholt sich nicht mehr. Sein Zustand ist hoffnungslos.«

    »Und mein Zustand?« Sheila lächelte bitter.

    David wandte sich mit einer plötzlichen Drehung von ihr ab. »Mein Gott«, sagte er, »wenn du ihn doch nur hier zurücklassen und mit mir kommen könntest. Helfen kannst du ihm ohnehin nicht.«

    »Ach, wie du dir das alles so vorstellst.« Ihre Stimme klang nur noch verzagter. »Wie soll ich das machen? Einfach meinen Koffer packen und davonlaufen? Er würde niemals in eine Scheidung einwilligen, das weißt du. Und Peter... Matthew würde mich bis an das Ende der Welt jagen, um ihn mir wegzunehmen. Und auch dich würde er ruinieren. Er würde dafür sorgen, dass du, solange du lebst, niemals mehr als Arzt praktizieren dürftest.«

    »Das könnte er nicht«, sagte David.

    »Verlass dich darauf, er bringt es irgendwie fertig.«

    »Mag sein, vielleicht hast du Recht«, änderte David plötzlich seine Meinung. Er schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. »Mein Gott!«, stöhnte er. »Wenn mir jemand früher gesagt hätte, dass ich einmal für den Tod eines meiner eigenen Patienten beten würde...«

    »Ich weiß«, sagte Sheila, »ich weiß, was für eine Hölle es für dich ist, Liebling. Ebenso wie für mich.« Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Endloses Lügen, Intrigieren, Ränkeschmieden, Herausschleichen aus Seitenausgängen - alles nur, um ein paar Minuten beieinander sein zu dürfen. Aber wenn ich daran denke, was mein Leben ohne diese wenigen Minuten wäre... ich...« Ihre Stimme brach ab, fing sich dann wieder. »Bitte, lass mich nicht allein, David«, flehte sie. »Bitte, geh' nicht fort!«

    »Ich muss, Sheila.«

    »Warum, Liebling? Warum nur? Ich bin schon jetzt verzweifelt, wenn ich daran denke, was ich ohne dich anfangen soll.«

    »Und ich fürchte mich vor dem, was ich tun könnte, wenn ich bleibe.«

    »Du fürchtest dich?« Sie starrte ihn an.

    Unsicher blickte er zu ihr auf, zog sie zu der Couch hinüber, und sie setzten sich. »Sheila«, sagte er, »hast du gehört, was wir beide hier sagen, oder schlimmer noch, was hinter dem lauert, was wir sagen?«

    Verwirrt sah sie ihn an. »Was meinst du damit?«

    »Sheila«, sagte er, »wir beide sind von Natur aus gute Menschen. Oder wir waren es zumindest einmal. Aber jetzt sitzen wir hier und sprechen in allem Ernst über Tod und Liebe, über die Rechte zweier Liebenden, und warten darauf, dass ein kranker Mann stirbt - tun Dinge, die, bei anderem Licht betrachtet, von uns beiden als schändlich empfunden werden würden. Aber weil es um uns selbst geht, weil wir selbst in das, was wir fühlen und empfinden, tief verwickelt sind, und weil wir es so brennend wünschen, können wir nicht den notwendigen Abstand dazu gewinnen, um es vom moralischen Standpunkt aus nüchtern zu beurteilen. Wir sind ganz einfach schwach, zu nachsichtig gegenüber unseren Wünschen und, wie wir glauben, berechtigten Forderungen. Jeder Außenstehende, der Abstand von den Dingen halten kann, würde einen völlig anderen moralischen Maßstab anlegen. Nur unser Maßstab eben hat sich verschoben, weil wir selbst in die Dinge verwickelt sind. Wenn wir beide von Natur aus amoralisch, ohne jedes sittliche Empfinden und Verantwortungsbewusstsein wären, würde das nichts ausmachen. Aber das sind wir beide eben nicht. Unser Gewissen ist nur von unseren Wünschen verdrängt worden, und als Ergebnis dessen empfinden wir diese untragbar scheinende seelische Belastung. Weiß Gott, es ist schwierig und belastend genug, jemand zu lieben, jemand verfallen zu sein, sich jemand brennend bei sich zu wünschen. Aber hier sitzen wir und befinden uns in einer aussichtslosen Lage, aus der sich zwangsläufig nur eine tiefe Verletzung unseres Stolzes, unserer Würde und vor allem unserer Selbstachtung ergeben kann. Ich habe diese Situation ebenso wenig herbeigewünscht wie du, aber indem man es ausspricht, ändert man nicht das Geringste daran; die Tatsachen bleiben, ich begehre dich immer noch mehr als alles sonst auf der Welt. Und ich bin längst nicht mehr der, der ich früher einmal war. Die Dinge, die ich tun könnte oder zu tun in Erwägung ziehe, sind schreckliche Dinge. Sie zeigen, wie hoffnungslos ich schon in diese unselige Situation verstrickt bin; wie weit ich gesunken bin.«

    Er erhob sich und ging zum Tisch hinüber, auf dem seine Arzttasche stand, entnahm ihr eine Injektionsspritze und trat wieder zu Sheila.

    »Schau dir diese so harmlos erscheinende Spritze an. In Wirklichkeit ist sie tödlicher als eine Pistole. Und tausendmal weniger auffällig und nachweisbar. Ich verwende sie jeden Tag - bei ihm!«

    »David!«, stöhnte Sheila. »Mein Gott, David!«

    Doch David sprach weiter. Er schien unter einem inneren Zwang zu stehen, es sich von der Seele zu reden.

    »Hast du eine Vorstellung davon, wie leicht es sich bewerkstelligen ließe? Oh, nichts derart Plumpes wie eine Überdosis seiner täglichen Injektion - das ließe sich durch eine Autopsie leicht entdecken. Nein, nichts weiter als ein kleines Luftbläschen in der Spritze, bevor man sie ansetzt. Das ist alles, was nötig wäre.«

    »Denk nicht einmal daran«, flüsterte Sheila erschrocken. »Nicht einmal mit dem Gedanken daran darfst du spielen!«

    »Nicht daran denken?« Er rieb sich die Augen. »Das war es doch, was ich vorhin meinte. Du bist nicht ehrlich zu dir selbst. Du frisst nur die Qual und den Schmerz in dich hinein. Wir beide tun es, und genauso geht es Matthew. Wir alle leiden nur. Aber du scheinst auf irgendeine Art Wunder zu warten; ein Wunder, das nie eintreffen wird. Hörst du, nie! Es sei denn, zu spät für uns alle. Gewiss, irgendwann einmal wird er sterben, aber so lange können wir nicht warten. In uns lauert die Gier, Sheila, machen wir uns doch nichts vor. Sie stört und quält uns, aber wir können es nicht ändern; sie ist mm einmal da. Und da sagst du mir, ich soll einfach nicht daran denken! Ich habe beinahe schon nichts anderes mehr im Sinn und in meinen Gedanken als dieses eine.«

    Er starrte in ihr von panischem Schrecken verzerrtes Gesicht. »Nun weißt du, warum ich fortgehen muss. Ich will dieses Teuflische da nicht tun. Es geht gegen mein ärztliches Gewissen, gegen mein ganzes inneres Ich. Alles in mir lehnt sich dagegen auf, und doch werde ich es tun, wenn ich noch allzu oft in Versuchung geführt werde - bei jeder täglichen Injektion, die ich ihm gebe. Verstehe mich bitte, deshalb kann ich einfach nicht bleiben.«

    Als er jetzt innehielt, entstand zwischen ihnen beiden ein langes, tiefes Schweigen, und Sheilas Erschrecken wandelte sich in abgrundtiefe Resignation.

    »Natürlich musst du fahren«, sagte sie endlich. »Du hast recht, und ich habe das alles übersehen und mir selbst etwas vorgemacht.« Sie seufzte auf, und es lag keine Spur von Hoffnung mehr darin. »Wann fährst du?«

    »Schon bald«, sagte er leise. »Morgen Abend.«

    »Morgen Abend schon?« Ihre Augen weiteten sich in jähem Erschrecken. »Dann ist dies das letzte Mal, dass ich dich sehe!«

    »Zumindest allein.« Seine Stimme klang unsicher; der Gedanke an das, was ihnen beiden bevorstand, drückte ihn nieder. »Ich komme morgen früh noch einmal ins Haus. Mit dem neuen Arzt.«

    »Auch das bleibt uns also nicht erspart«, flüsterte sie. »Ein Abschied in aller Öffentlichkeit also. Ich weiß nicht, ob ich das ertragen werde, ohne mich zu verraten.«

    Er zuckte zusammen, und sie bemerkte es. Sie stand von der Couch auf und schlang die Arme um seinen Hals. »Bitte verzeih mir«, flüsterte sie, und die Tränen schossen ihr in die Augen. »Good-bye dann. Auf Wiedersehen - in ach wie vielen Jahren.«

    »Sheila«, setzte er an zu reden, schwieg dann aber, weil es nichts zu sagen gab; nichts gab, das ihnen half.

    Sie blickte sich suchend im Zimmer um. »Dieses Zimmer«, sagte sie leise, »solange ich lebe, ich werde es niemals...« Rasch wandte sie sich ab und ging auf die Tür zu. Sie legte die Hand auf den Türknauf, aber irgendwie schien ihr die Kraft zu fehlen, ihn zu drehen.

    »Sheila«, sagte David mit seiner ruhigen Stimme. »Warte!«

    Sie drehte sich um, kam zu ihm zurück, und sie klammerten sich aneinander. »David«, flüsterte sie. »David!«

    4.

    Am nächsten Morgen wartete Sheila doch auf David; auf eine letzte Möglichkeit, ihn noch einmal zu sehen, obwohl sie wusste, dass es zur Katastrophe kommen konnte, wenn er in Gegenwart von anderen endgültig von ihr Abschied nahm. So stand sie im Wohnzimmer am Fenster, wartete auf sein Kommen, auf die routinemäßige Visite und auf einen einzigen letzten Blick von ihm. Es schien ihr immer noch unfassbar, dass David Fortgehen sollte. Die Erinnerung an den gestrigen Nachmittag stand noch allzu lebendig vor ihren Augen.

    Dann endlich sah sie seinen Wagen die gewundene Betonauffahrt heraufkommen, und sie trat vom Fenster zur Seite, um nicht bemerkt zu werden. So stand sie in einer dunklen Ecke des großen Raumes und hörte, wie Tani ging, um die Tür zu öffnen. Sheila wollte, wenn es ging, vermeiden, noch einmal mit ihm zu sprechen, aber als sie dann seine Stimme hörte, trat sie doch in die Diele hinaus. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, um gleichgültig zu erscheinen.

    »Tani, führen Sie Dr. Riviera und Dr. Beloit gleich in das Zimmer meines Mannes«, sagte sie gleichmütig, doch als sie durchs Fenster sah, dass David allein gekommen war, hielt sie sofort erschrocken inne.

    Tani öffnete die Tür. »Guten Tag, Doktor«, sagte sie.

    »Guten Tag, Tani«, erwiderte er.

    »Kommen Sie allein, Sir?«, fragte Tani überrascht.

    »Ja, Tani«, sagte er, »ja.« Er rührte sich dabei nicht und schaute düster auf Sheilas Gestalt, die ebenso reglos blieb wie er und mit dem Boden verwachsen schien.

    Dann endlich schien er sich gefasst zu haben. Er wandte sich um, trat an den beiden Frauen vorbei und stieg die Treppe hinauf.

    Sheila sah ihm nach und griff sich mit der Hand unwillkürlich an die Kehle. Mit ruhigen, entschlossenen Schritten stieg David die letzten Stufen hinauf, überquerte den Treppenabsatz und schloss hinter sich die Tür von Matthew S. Cabots Zimmer.

    Sheila sah einen Schleier vor ihren Augen. Wie im Taumel wankte sie zurück ins Wohnzimmer, während Tani ihr bereits den Rücken zugedreht hatte. Sie schien nichts bemerkt zu haben. Für Sheila gab es keinen Zweifel, was der entschlossene Ausdruck in Davids Gesicht zu bedeuten hatte. Sie fühlte sich sterbenselend bei dem Gedanken daran, und ihr kam eine erste düstere Vorahnung, dass es nicht gutgehen konnte. Wenn jetzt das Entsetzliche geschah, war sie ebenso schuldig wie David. Zwar hatte sie es ihm auszureden versucht, als er es ihr erzählt hatte, aber nur zögernd hatte sie nachgegeben, als er darauf bestand, dass er fort müsse. Also traf sie fast die gleiche Schuld. Ihn jetzt noch daran zu hindern, kam ihr nicht in den Sinn; was sich dort oben abspielen mochte, erschien ihr in weite, weite Femen entrückt und ihrem Eingreifen entzogen.

    Und dennoch, sie wusste, dass Matthew Cabot in Kürze tot sein würde, aber es war eine so ungeheuerliche Vorstellung, dass ihr Bewusstsein sie einfach nicht annehmen wollte. Vielleicht konnte sie es sogar in diesem Augenblick noch verhindern, aber ihr kam nicht einmal der Gedanke daran. Es war etwas, das sich nach den Gesetzen des Schicksals zwangsläufig vollzog, ob man es nun wollte oder nicht. Es war etwas, das getan werden musste, für David und für sie selbst. Durch sein unmenschliches Verhalten und seine Taten hatte Matthew Cabot seine Rechte auf weiteres Leben verwirkt. Das war es, was sie sich einzureden und glauben zu machen versuchte. Nur das war für sie und David entscheidend. Matthew zählte nicht. Doch ihr Gewissen meldete sich und beschwor sie, dass er dennoch zählte. David hatte Recht, sie war als Mensch nicht schlecht genug, um nicht zu ermessen, was in diesem Augenblick dort oben geschah. Ganz und voll jedoch wurde es ihr nicht bewusst.

    Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit, als sie Matthew kennengelernt hatte. Damals war er ein ganz anderer gewesen als jetzt. Sie erinnerte sich gut.

    Er war Witwer gewesen, wesentlich älter als Sheila, aber noch von angenehmem und distinguiertem Äußeren, sogar mit so etwas wie männlichem Charme. Sie selbst war schön gewesen, jung, und stammte aus einer aristokratischen Familie, die die relative Armut ihrer letzten Generationen mit Würde zu ertragen verstand.

    Einige Wochen später hatte er um ihre Hand angehalten, und nach einigem Zögern hatte sie eingewilligt. Eingewilligt allein deshalb, weil sie keinen Gegengrund finden konnte. Sie hatte ihn nicht geliebt, aber sie war einfach der Schar junger Männer überdrüssig gewesen, die sie fortlaufend zur Heirat drängten. Und ebenso überdrüssig war sie ihres Zuhauses, ihrer Familie und ihrer Arbeit gewesen. Dabei hatten ihr mehrere der jungen Bewerber um ihre Hand nicht einmal missfallen, ja, sie hatte sogar zwei kurze, unkomplizierte Affären gehabt, aber irgendwie hatte ihr all das keine Erfüllung gegeben. So hatte sie nach einigem Überlegen Matthew Cabots Antrag angenommen, und eine ganze Zeitlang hatte sie es nicht zu bedauern gehabt.

    Das Bedauern kam eigentlich erst, als Matthew krank und dadurch ein ganz anderer Mensch wurde. Er wurde kleinlich, niederträchtig, sarkastisch und besitzergreifend. Und gerade zu dieser Zeit hatte Dr. Riviera ihren Weg gekreuzt. Ehe sie sich versahen, hatten sie sich ineinander verliebt. Natürlich hatte sie schon vorher von Liebe gehört, hatte davon gelesen, hatte die physischen Aspekte einer heißen Liebe in Betracht gezogen, aber durch nichts war sie auf den Hurrikan von Gefühlen vorbereitet, der sie einfach umwarf, als sie sich in David verliebte. Es war wie ein zerreißendes Zerren an ihren Nerven, nicht etwa nur ein süßer Taumel, und Matthew S. Cabot war es, der ihnen genau im Wege stand.

    Ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Mit einem schnellen Blick sah sie die Treppe hinauf, und Angst wuchs in ihr auf. Matthew, der starke, mächtige Mann, sieht sich in diesem Augenblick dem Tod gegenüber, fuhr es ihr durch den Sinn. Er hört auf zu existieren, sinkt zurück in ein Nichts. Der Gedanke traf sie wie ein Schlag. Sie konnte nicht mehr verhindern, dass sie einen leisen, erschreckten Schrei ausstieß. Mein Gott, dachte sie, jetzt tötet er ihn! Und auch ich töte ihn! In ihrer grenzenlosen Qual fuhr sie herum und sah sich Cathy gegenüber, die ihr von der Tür des Wohnzimmers entgegenstarrte.

    »Sheila«, fragte sie, »fehlt dir was?«

    Sheila starrte zurück. Das Bild des jungen Mädchens verwischte sich, die Konturen verschwammen vor ihren Augen, so, als ob sie etwas Unwirkliches sähe.

    »Nein, nein, mir fehlt gar nichts«, brachte sie heraus, und es klang beinahe erleichtert. »Es ist alles in Ordnung.«

    »Wirklich?«, sagte Cathy. »Du siehst so verändert und ganz bleich aus.« Sie wandte sich zur Tür. »Ich geh jetzt fort. Zum Dinner bin ich rechtzeitig wieder zurück.«

    »Amüsiere dich gut, Liebes«, sagte Sheila, und es klang, als ob Cathy auf eine Cocktailparty ginge. Sheila hörte ihren eigenen, ganz merkwürdigen Tonfall und hätte beinahe laut herausgelacht.

    Cathy gab keine Antwort; sie war bereits dabei, das Haus zu verlassen.

    5.

    Mit fast dreißig Knoten jagte das schlankgebaute Mahagoni-Boot über die Bucht dahin, so dass sich sein Bug hoch aus dem Wasser hob. Vor einem der Verladedocks scherte es in weitem Bogen ein und hielt mit viel zu hoher Fahrt auf ein gedrungenes Schleppboot und einen daran vertäuten Lastkahn zu. Erst im allerletzten Augenblick nahm Cathy - sie war es, die allein in dem Mahagoni-Boot stand - das Gas zurück, schaltete auf Rückwärtsfahrt und ließ den starken Bootsmotor mit aller Kraft auf heulen. Ein Zittern durchlief das Boot, es verlangsamte rasch seine Fahrt und kam kaum einen Meter vor dem Schlepper zum Halten. Ein junger Matrose trat an die niedrige Reling des Schleppers und fing die Leine auf, die Cathy ihm zuwarf. Während er das Motorboot vertäute, kletterte Cathy geschickt an Bord.

    Blacky Richards kam ihr entgegen und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Darling, wenn du weiter mit deiner Kiste in dieser Manier über das Wasser fegst, wirst du eines Tages in meinem Maschinenraum landen - auf direktem Weg, quer durch die Bordwand.«

    »Pfui, du Angsthase«, sagte Cathy. »Außerdem hatte ich's eilig. Du, Blacky, ich hab' eine wunderbare Nachricht!«

    »Benutze für eilige Nachrichten beim nächsten Mal ein Telefon. Das ist sicherer.«

    In gespieltem Ernst hielt Cathy sich die Nase zu. »Wenn ich geahnt hätte, dass du

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