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Stanleyville: Roman
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eBook458 Seiten5 Stunden

Stanleyville: Roman

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Über dieses E-Book

Das Jahr 1964. In dem von Belgien unabhängig gewordenen Kongo tobt ein Bürgerkrieg. Zauberer, die Unverwundbarkeit versprechen, führen die Rebellen an. Menschen werden massakriert, tausende als Geiseln verschleppt. Mehr als drei Monate wird die kleine Kim Lacquemont in der Stadt in der Mitte des endlosen Regenwaldes mit ihrer Familie in einem Keller gefangen gehalten. Sie überlebt, scheinbar unter dem Schutz einer rätselhaften hölzernen Maske, dem Abbild eines entsetzlichen dämonischen Mischwesens aus Mensch und Insekt.
Fünfundvierzig Jahre später: Dutzende Exemplare der gleichen Maske tauchen in einem stillgelegten Parkhaus im Stadtzentrum von Brüssel auf. Täglich verschwinden Kinder spurlos, die Zahl wächst rasant, ein Ende ist nicht abzusehen. Die Polizei steht vor einem Rätsel, manche sprechen gar von einem Krieg. Kim ist mittlerweile Ärztin. Auf der verzweifelten Suche nach ihrer verschwundenen siebzehnjährigen Nichte ist sie gezwungen, an den Ort zurückzukehren, an den sie sich ihr Leben lang nicht denken konnte, ohne das Bewusstsein zu verlieren zurück in den Kongo, zurück in die Erinnerungen an das Jahr 1964, zurück nach Stanleyville.
SpracheDeutsch
HerausgeberBuch&media
Erscheinungsdatum19. Feb. 2024
ISBN9783957803054
Stanleyville: Roman

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    Buchvorschau

    Stanleyville - Richard Hayer

    BELGIEN

    1

    FREITAG, 26. JUNI

    Kim Lacquemont erwachte mit der Karte eines Taxiunternehmens in der Hand. Es war sieben Uhr, und sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie sie gestern Nacht nach Hause gekommen war. Je genauer sie darüber nachdachte, desto deutlicher tat sich ein Loch von einigen Stunden auf.

    Sie schlug die Bettdecke mit dem blassblauen Blütenmuster zurück und sprang auf. Farben in hellen Mustern, schoss es ihr durch den Kopf, wie komme ich immer wieder zu der unbeschwerten Schmetterlingswelt eines kleinen Mädchens? Mit Bedacht setzte sie ihre Schritte. Der Fußboden war mit Reisegepäck, Impfbescheinigungen, Pass und Flugtickets übersät.

    Sie streckte sich in ihrem blassroten Schlafanzug, der blassrot gepunkteten Jacke über blassrot karierter Hose aus einem warmen, weichen Baumwollstoff, und legte eine CD mit Klaviertrios von Mozart in ihre Stereoanlage. Als es an der Tür klingelte, warf sie sich einen Mantel über.

    Mit den Spediteuren, die kamen, um die Praxiseinrichtung ihrer verstorbenen Mutter abzutransportieren, strömte ein Schwall frischer Sommerluft ins Haus. Der Chef der Truppe, ein massiger Mann von fast siebzig Jahren, der einen altmodischen Filzhut wie angewachsen auf dem Hinterkopf trug, trat als Letzter ein.

    Eine Weile blieb Kim vor der Rückseite ihres Hauses in Ukkel stehen. Noch war die Luft frühlingshaft warm, bald würde es unter dem strahlend blauen Himmel so heiß werden wie all die Tage zuvor. Achtunddreißig Grad im Schatten waren keine Seltenheit, jedermann in Brüssel ächzte unter der staubtrockenen Hitze. In den Straßen sah man Passanten, die sich Mineralwasserflaschen über den Köpfen entleerten, manche unternahmen leichtsinnige Aktionen auf den Dächern ihrer Häuser, doch die meisten Menschen bewegten sich schneckenhaft träge in ihren abgedunkelten Wohnungen. Kim erschien es wie ein Menetekel, dass ausgerechnet jetzt, kurz vor ihrer Abreise auf die Antillen, tropische Glut Einzug hielt. Als wollte eine höhere Macht sie zwingen, es sich noch einmal zu überlegen. Ein weißer Mercedes mit Weißwandreifen, Baujahr 1976, rollte vor ihr aus.

    Kim hatte den ehemaligen Kollegen ihrer Mutter, der die Praxiseinrichtung übernehmen und das Verpacken beaufsichtigen wollte, erwartet. Mit festem Händedruck begrüßte sie einen großen Mann, in dessen Gesicht unter einem dichten weißen Haarschopf sich auffallend fröhliche Augen bewegten. Kim führte ihn zu den Umzugsarbeitern im Haus und ging dann in ihr Bad. Unter der Regendusche öffnete sie den Mund und trank, den Kopf weit in den Nacken gelegt. Sie sehnte sich danach, etwas anderes als heißes Wasser auf ihrer Haut zu spüren. Warum war Warren jetzt nicht in ihrer Nähe? Jetzt, wo sie ihn verdammt noch mal brauchte.

    Das Wasser ließ ihre Haare im Nacken zusammenfließen. Sie liebte Warren. Selten gestand sie es sich ein, vor allem aber liebte sie die Distanz. Was ihr zu nahe kam, erdrückte sie, aber wenn sie sich alleingelassen fühlte, belebte sich ihr Innenleben mit unerträglichen Ameisenvölkern unruhiger Ideen. Wie wollen wir auf diesem schmalen Grat gemeinsam ein Haus bewohnen?

    Eine Musik war in ihrem Ohr, ein melancholisches Lied, das sie gestern gehört haben musste, gesungen von einer Frau. Weder konnte sie sich an den Text noch an die genaue Melodie erinnern, mehr als eine harmonische Wehmut in ihrem Kopf war davon nicht übrig geblieben.

    Plötzlich traf es sie wie ein Schlag ins Genick. Der Betonboden zu ihren Füßen war mit Dingen bedeckt, die in flackerndem Licht schwarzen Schildkröten glichen. Herden großer, wie abgewetztes Leder glänzender, regloser Tiere.

    Kim schaffte es, den Kaltwasserhahn ihrer Dusche aufzudrehen. Der Schwall verscheuchte die Illusion. Sie stand sicher auf dem weißen Fliesenboden der Dusche. Was war das? Erinnerungen an die letzte Nacht? Unmöglich. Was sie soeben gesehen hatte, war zu abstrus und surreal. Ein Albtraum, Nachwirkungen eines Films. Vielleicht die Panik vor dem aufwendigen Renovierungsprogramm des alten Hauses, das sie sich vorgenommen hatte.

    Ihr Herzschlag beruhigte sich nur langsam.

    Eingewickelt in einen flauschigen, viel zu großen gelben Bademantel, den ihr Warren irgendwann in London gekauft hatte, trocknete sie sich die Haare. Kurz nach acht saß sie vor einer Tasse Kaffee und einem großen Glas Leitungswasser in der Küche. Einige ihrer Lebensgeister waren wieder geweckt. Appetit hatte sie höchstens auf eine einzige rostbraun getoastete Scheibe Brot mit einem hauchdünnen Butteraufstrich. Sie liebte das Geräusch, wenn das Messer über die krosse Oberfläche knisterte, sie liebte den Biss hinein, den zarten Hauch von Butter. Eine Scheibe sollte ihr für die morgendliche Meditation über die einfachen Dinge des Lebens reichen. Mehr war nicht nötig.

    Sie wendete die Karte von »Taxi Orange« in der Hand. Wie war sie in der Nacht heimgekommen?

    Die Straße vor der Vorderseite ihres Hauses wirkte wie ausgestorben. Im Bademantel trat sie einige Schritte vor die Tür. Inzwischen herrschte auf der Straße wieder die drückende, staubtrockene Hitze, die jeder seit Wochen kannte. Eine Wüste musste sich der Brüsseler Stadtgrenze genähert haben.

    Ihr Auto war nirgends zu sehen. Sie brauchte nicht lange, um festzustellen, dass es auch nicht in der Garage stand.

    Wie konnten mehrere Nachtstunden und ein rotes Auto abhandenkommen? Hatte sie selbst es irgendwo in der Stadt gelassen, weil sie schon in der Nacht nicht mehr wusste, wo es war? War sie betrunken gewesen? Unmöglich. Nach zu viel Alkohol fühlte sich in ihrem Innern nichts an.

    Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war eine Verabredung mit ihrer Nichte im Zentrum der Stadt. Vielleicht fand sich im Haus etwas, das ihrer Erinnerung auf die Sprünge half.

    An der Flurgarderobe hing der Rucksack ihrer Nichte Caline. Sie tastete mit der Hand hinein. Eine leere Champagnerflasche, ein abgebrochenes Stück Holz. Nichts klingelte in ihrer Erinnerung.

    Das Haus, vor ihrem geistigen Auge schon ausgeräumt, erschien Kim größer denn je. Solange sie sich erinnern konnte, hatte sie seine Dimensionen als selbstverständlich hingenommen, jetzt wirkten sie bedrohlich.

    Sie ging hinüber in den hinteren Teil des Hauses, das 1910 an einem Hang errichtet worden war. Als ihr Großvater es bauen ließ, hatte er das Ziel verfolgt, den ganzen Clan unter einem Dach zu versammeln. Die große Anwaltskanzlei Boerrinck & Boerrinck wurde im Hochparterre auf der Rückseite untergebracht, wo es zwei Stockwerke mehr gab als auf der vorderen Seite. Am Anfang der Avenue d’Orbaix, die sich in einer schmalen Haarnadelkurve krümmte, machte das Haus Nummer 3 den Eindruck eines blendend weißen englischen Landhauses. Wer sich vom Ende her näherte, meinte, mit der Nummer 14 ein großes städtisches Wohn- und Geschäftshaus vor sich zu haben.

    Von unten drangen laute Rufe herauf, als die Männer der Spedition weißlackierte Blechschränke durch die Türen jonglierten.

    Am hinteren Eingang erkannte sie einen Lieferwagen der Firma, der sie das gesamte Ausräumen, Einlagern und das genau geplante Wiedereinräumen ihres Hauses vor, während und nach der Renovierung übertragen hatte. »Transporteur Jucquois« verkündete die gelbe Aufschrift auf hellblauem Grund.

    Kim rief bei »Taxi Orange« an. Der Abbruch der Verbindung erlöste sie aus einer endlosen Warteschleife. Dann wählte sie die Nummer der Polizei. Bis sie Gelegenheit bekam, zu melden, dass ihr roter Saab letzte Nacht von seinem Platz vor ihrem Haus verschwunden war, wurde sie mehrfach von einem Beamten zum nächsten weitervermittelt.

    »Gestohlen?«, wiederholte sie die Frage des Beamten, »ich habe keine Ahnung. Vielleicht von Jugendlichen für eine Spritztour genutzt.«

    »Also gestohlen.«

    »Wohl ja.«

    »Oder haben Sie vergessen, wo Sie ihn geparkt haben?« Sie konnte förmlich sehen, wie er einen Kollegen angrinste, der in einem anderen Gespräch zu hören war.

    »Ich weiß genau, wo er war«, sagte sie fest, »vor meinem Haus. Dort ist er nicht mehr. Gestohlene Wagen dienen, wie Sie wissen, der Vorbereitung weiterer Straftaten. Helfen Sie mit, die zu verhindern, indem Sie meinen roten Saab finden.« Armleuchter. Sie gab alle nötigen Daten an den Beamten weiter und beendete das Gespräch.

    In der oberen Etage wartete sie vor Calines geschlossener Zimmertür, hinter der sich früher die kleine Einliegerwohnung ihrer Großmutter befunden hatte. Noch schlief ihre Nichte. Um zwölf Uhr sollten in ihrer Schule bei einer großen Zeremonie in der Aula Abschlusszeugnisse und die Zeugnisse der jüngeren Jahrgangsbesten übergeben werden. Caline war eine von ihnen.

    Für dieses stolze Ereignis hatten sie am letzten Samstag ein elegantes, dunkelblaues Kostüm beschafft. Caline hatte sich darin vor dem Spiegel mit allen Grimassen, die ihr Gesicht hergab, überprüft und war ausnahmsweise nicht in nervendes Gejammer ausgebrochen. Ein Zeichen für allerhöchste Zufriedenheit. Sie hatte zauberhaft in diesem Kostüm ausgesehen, fand Kim.

    Sie zögerte eine Weile. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass sie jetzt nachsehen sollte. Vielleicht wusste Caline, was gestern Nacht geschehen war – und wo sich der Saab befand.

    Es war noch mehr als eine Stunde Zeit, bis sie sie wecken musste. Sollte sie noch ausschlafen. Vorher war der Dachboden an der Reihe.

    Seit ihren Kindertagen hatte Kim den Speicher nicht mehr betreten. Sie musste endlich mit ihren Aufräumarbeiten beginnen, damit die Handwerker am Sonntagnachmittag, wenn sie das Haus zwei Wochen lang für sich allein haben würden, mit der groß angelegten Renovierung loslegen konnten.

    Auf ihrem Weg nach oben begleitete sie die Angst, unter der Dusche könnte sie doch eine echte Erinnerung überfallen haben. An welchem verrückten Ort habe ich, um alles in der Welt, die letzte Nacht zugebracht?

    2

    In der leer geräumten Diele am oberen Treppenabsatz waren die Planungsunterlagen für das abschließende Gespräch mit dem Bauingenieur ausgebreitet. Wie der zweigeschossige, niemals so recht fertiggestellte Keller erstreckten sich auch alle Räume des Dachbodens über die vollen zweihundertvierzig Quadratmeter der Grundfläche – über das dreistökkige Kontorhaus und das ebenerdige Landhaus. Die Fläche unter dem Dach war in etwa geviertelt zwischen der kleinen Wohnung mit Calines Zimmer, einem leer geräumten Teil, der früher zum Trocknen von Wäsche gedient hatte, einem Teil, in dem die Baustoffe aus verschiedenen Renovierungsphasen des Hauses gelagert waren, und dem Speicher, der achtzig Quadratmeter belegte. Über vier kleine Dachluken drang nicht genug Licht in den großen vollgestopften Raum. Kim schaltete eine Reihe nackter Glühbirnen ein, die von den Deckenbalken hingen. Angesichts der sich auftürmenden Überbleibsel früheren Lebens, der ungeordneten Erinnerungen, der Andenken, des Ausrangierten und Abgelagerten überkam sie die schiere Verzweiflung.

    In einem weißen Laborkittel aus der ehemaligen Praxis ihrer Mutter setzte sie sich in einen roten Plüschsessel, der eine Wolke von Staub ausstieß. Ein Schrank mit Packen von Akten. Sie schlug die erste auf. Eine Patientenakte aus dem Jahr 1980. Kim klebte einen roten Punkt auf den Schrank: Alles darin konnte vernichtet werden.

    Nach einer Stunde holte sie sich aus der Küche einen Kaffee. Die dampfende Tasse in den Händen lehnte sie sich wieder in dem Sessel zurück. An den Glühbirnen unter den Dachbalken verbrannte Staub. Es roch alt. Es roch nach der großen Welt des Dachbodens, auf dem sich die kleine Kim vor ihrem Bruder Claes versteckte. Inzwischen hatten sich die roten Punkte wie ein Schwarm Feuerkäfer über den Dachboden verbreitet.

    Sie stieß auf einen Karton »Kim«. Er war angefüllt mit einem Sammelsurium von Schulheften und Büchern, Zeug, das ihre Mutter zusammengeworfen hatte, um es aus dem Weg zu haben.

    Dann fand sie eine großformatige Kladde mit der Aufschrift »1997«. Die erste Seite war zu einem Drittel mit Notizen für den anstehenden Besuch bei einem Dr. Georges Tassignon gefüllt. Sie las den Satz: »... wahnsinnige Kopfschmerzen, an Afrika zu denken ...« Es war ihre Schrift, es waren ihre eigenen Notizen. Der Rest des Buches war leer.

    Kim horchte in sich hinein. Afrika? Sie fühlte keine Kopfschmerzen. Aber sie erinnerte sich an die Therapie, die sie begonnen, aber schnell abgebrochen hatte, bei der es um ihre Kindheit in Afrika gehen sollte.

    Sie hob sich einen Karton mit Briefen und Fotos aus dem Besitz ihrer Großmutter auf den Schoß, die von ihrer Mutter abgelegt worden waren – und war von Afrika umgeben.

    Briefe und Sendungen, die ihre Mutter in den Jahren 1955 bis 1964 aus dem Kongo nach Hause geschickt hatte. Ansichtskarten aus einer Utopie. Auch wenn ihr Puls höher zu schlagen begann, wenn sie an Afrika dachte, konnte Kim sich dem Zauber nicht entziehen, den die schwarz-weiß fotografierten, überrealen Landschaften verströmten.

    Aus einem Brief mit einem längeren Bericht ihrer Mutter vom September 1957 rutschte ein Foto. Es zeigte ein strahlend weißes Gebäude, das langgestreckt und zweistöckig, in der Mitte geteilt von einem großartig aufragenden Portal, zwischen locker gruppierten Palmen lag. Auf der Treppe des Portals hatte sich eine Gruppe von Männern und Frauen unter einer Schrifttafel »Symposium on Virus Diseases in Africa« aufgebaut. Auf der Rückseite fand sich eine Notiz in der Handschrift ihrer Mutter:

    »Einweihung des neuen Laboratoriums in Stanleyville, in dem wir medizinische Proben aus allen Hospitälern der zentralen und östlichen Provinzen des Kongo untersuchen werden.« Darunter eilig hingeschrieben der Ausruf: »Großer Gott! Das Meer ist so weit, und mein Boot ist so klein!« Die letzte Nacht hatte Kim hautnah mit Afrika in Berührung gebracht. Deshalb hatte sie die Erinnerung verloren. Wann immer Afrika ihr zu nah kam, stieg physisches Unbehagen in ihr hoch. Solange sie sich erinnern konnte, hatte sie versucht alles, was mit diesem Kontinent zu tun hatte, von sich fernzuhalten.

    Sie atmete mehrfach tief durch, bevor sie sich wieder der heilen Welt der Postkarten zuwandte.

    In den Fünfzigerjahren hatte man alles entdeckt, was hinaus in die Zukunft führte. Die Welt hatte ihre größte Ausdehnung erreicht – zugänglich überall, aber noch nicht geschrumpft, wie in den Jahren danach. Auch die Zukunft hatte ihre größte Ausdehnung erreicht. Die unendliche Kraft des Fortschritts, die Zivilisation, die sich bis ans Ende der Milchstraße träumte – der Kongo, Stanleyville in der Mitte Afrikas, schien da nur ein Planet der Wildnis auf dem Weg zum Horizont des Universums zu sein. Elegante Limousinen vor einem »Hotel Cosmopolite«, gebaut in den geschwungenen Linien des Optimismus dieser Zeit, in der die Schaffung des Paradieses eine Aufgabe der Tagespolitik war. Die unsichere belgische Nation hatte einen Planeten in der Mitte der Dunkelheit besiedelt, hinter der sich die Zukunft verbarg. Afrika. Der Kongo. Die fortschrittlichste Kolonie der Welt.

    Eine der Postkarten zeigte ein Luftbild von einer tropischen Villenvorstadt. Große Einfamilienhäuser, in deren Gärten als helle Rechtecke Swimmingpools zu erkennen waren, lagen aufgereiht an geschwungenen Straßen unter Palmen. Am östlichen Bauch der Biegung einer Wendeschleife war ein Kreuz eingezeichnet, ein Pfeil und die Nummer »32B«. Auf der anderen Seite trug die Karte das Datum 16. Mai 1964 und nur wenige Worte in der Schrift ihrer Mutter. »Endlich wieder im wunderschönen Yangambi. Ein Traum, der zu Ende geht.«

    Yangambi. Ein märchenhafter Name, der nach der Heimat freundlicher Fabelwesen klang.

    Kim blätterte in einem Reiseführer aus dem Jahr 1954. Er zeigte Fotos schnurgerader Straßen zwischen Palmen, Aufnahmen von Avenuen, die sich zwischen sanften Hügeln in die Ferne schwangen, die Wälder waren zu schmalen Einrahmungen zurechtgestutzt. Nur auf einem Bild erkannte sie den Ozean des Lebens jenseits der Straßen, die in Wahrheit Fäden waren, die man über ein lebendiges Ungeheuer gesponnen hatte. Sie blickte auf malerische Touristenattraktionen in den östlichen Bergregionen, zu denen frisch geebnete Straßen führten. Sie sah Wildhüter in ihren Wagen, Schulen, Missionen, Bahnhöfe inmitten unwegsamer Wälder, an Flüssen, in den Bergen, auf deren Gipfel Hospitäler thronten. Hospitäler für die Belgier, für die Eingeborenen, Hospitäler der katholischen Mission und amerikanischer Missionen, Hospitäler der Plantagen- und Minengesellschaften.

    Kaum jemals waren Menschen auf den Bildern zu erkennen, die Promenaden, die Straßen, die Rondelle, die Uferwege waren leer. Die Zivilisation drang mit der Leere vor. Unaufhaltsam. Die Menschen jenseits der Fotos mussten ihr Leben nach dem Rhythmus der Elektrizität, der Motoren, der Flieger und Kraftwagen, nach dem Raster von Straßen, nach den Regeln von Hospitälern und Schulen richten. Mit der Kenntnis des weiteren Schicksals des Kongo erschien es Kim, als wäre in der utopischen Naivität der Fotos bereits die Wehmut des blutigen Scheiterns angelegt. Zu großartig, um real werden zu können. Zu schön, um von Bestand zu sein. Die Perfektion der Wolken, des Lichts, der geschwungenen Formen von Kraftwagen und Häusern: Die Reinheit des Schwunges in die Utopie war wie ein Filmset aufgebaut. Jenseits des fotografierten Ausschnitts mussten Hunderte von Menschen mit Besen und Farbeimern, mit Gartenscheren, Gießkannen und Straßenwalzen präsent sein, die für die langen Belichtungszeiten der Fotos aus der Bildfläche gewinkt worden waren. Die Linien der Eisenbahnen, die Fernstraßen, das Gewebe der Zivilisation waren auf einer Eisfläche errichtet worden. 1960 hatte es zu tauen begonnen, 1964 tobten Sommergewitter, heute war der Kongo ein chaotisches Meer, auf dessen Grund die Ozean-Liner der Utopien von damals lagen. Von unten erklang die Haustürklingel.

    Kim legte das Buch zur Seite und nahm eine große Papiertüte mit der Aufschrift »1955« in die Hand. Vielleicht hatte sie Glück und fand ein Foto ihres Vaters, von dem im ganzen Haus nie ein Bild existiert hatte. Briefe, ein Foto. Sie warf einen kurzen Blick darauf: eine Hochzeitsgesellschaft vor einem »Hôtel des Chutes« an palmenbestandener Promenade vor träge dahinströmendem Fluss, weit wie ein Meer. Der Kongo. Die Braut. Die Gäste.

    Kein Bräutigam.

    Sie glaubte, nicht recht zu sehen. Das einzige Foto in dem einzigen Brief über die Hochzeit ihrer Mutter mit Pierre Lacquemont im Jahr 1955 und der Bräutigam war nicht zu sehen? In der Handschrift ihrer Mutter stand auf der Rückseite »Deine Tochter am glücklichsten Tag ihres Lebens, fotografiert von dem glücklichsten Mann der Welt«. Kein Bild ihres Vaters. Was für eine Hochzeit war das gewesen? Sie steckte die Papiere in die Kitteltasche. Später würde sie sich alles sehr genau ansehen.

    Es klingelte wieder, jetzt länger.

    »Ich komme«, rief Kim, »einen Moment.« In einem kleinen Bücherschrank mit Fachbüchern wie »Malaria Front Line: Australian Army Research During World War 2« und »Malaria Eradication Program in Mexico 1955« erregte ein Buch ihre Aufmerksamkeit, das nicht in diesen Zusammenhang gehörte: »Out of the Jaws of the Lion«. Den Fängen des Löwen entkommen. Der Bericht eines Amerikaners über eine Revolte in Stanleyville, heute Kisangani, der Stadt, in der sie geboren wurde. 1964. Das Jahr, in dem sie aus dem Kongo nach Brüssel gezogen waren. Offenbar hatte ihre Mutter dieses Buch gelesen, denn in viele Seiten waren Eselsohren eingekniffen und Passagen waren angestrichen. Kim begann zu lesen.

    »Vier Schamanen in ihrem vollen Schmuck tanzten an der Spitze der Invasionsarmee nach Stanleyville hinein. Gekleidet in Pflanzen und Federn des Dschungels verkörperten sie eine Macht, die einen in Erschauern versetzte. Um jeden Nacken hing ein Fetischbeutel, der die mysteriöse Quelle ihrer Kraft enthielt. In Panik warfen Stanleyvilles Verteidiger ihre Bazookas von sich und flüchteten. Zwei Tage später kontrollierten die Simbas die Stadt.«

    Mehr als diesen kurzen Absatz schaffte sie nicht.

    Ein Blatt segelte aus dem Buch auf die Dielen herab. »Motiyo« war darauf handschriftlich notiert, darunter: »Der Ndoki des Erscheinens und Verschwindens.«

    Auf einem angehefteten Zettel linierten Papiers war in der säuberlichen Schrift ihrer Mutter vermerkt: »Bericht der Belgischen Marine, November 1964 – für Kims Therapie im Juli 1997 an ihren Psychologen Georges Tassignon gegeben.«

    Sie drehte das Blatt um.

    Mit beiden Händen musste sie sich an der Rückenlehne des Sessels festhalten. In ihrer Hand hielt sie das Foto einer afrikanischen Maske, groß, geradezu gewaltig schien sie das Format des Abzugs zu sprengen.

    Mehr als ihre Augen konnte Kim nicht bewegen – schon das kostete unglaubliche Anstrengungen. Sie starrte in die Dachschräge über ihrem Kopf.

    Licht. Staub. Zeitlose Ruhe.

    Als Caline etwa fünf war, hielt sie sich gern in den Ästen der beiden Eschen auf, die damals auf dem Grundstück standen. Sie liebte es, Kim von oben zu erschrecken, sie von dort still zu beobachten, in das eine oder andere Fenster zu blicken, vor allem aber, ihr mit einem lauten Vogelschrei aus der Höhe Angst einzujagen. Kim zeigte ihre Angst lautstark, keinesfalls wollte sie Caline zu waghalsigen Manövern verleiten, weil sie nicht genug erschrak.

    Jetzt hing Kims Blick oben im Gebälk wie ein Paar zitternder blauer Vögel. In die fein gesponnene Erinnerungswelt des Dachbodens war ein ungeheuerliches Monstrum getreten. Ein Wesen zwischen Mensch und Dämon, das jede Sekunde der letzten Nacht wiederbrachte.

    3

    DONNERSTAG, 25. JUNI

    Die Hitzeglocke über der Stadt war wie geschaffen dafür, siebzehnjährige Mädchen auf verrückte Ideen zu bringen. Die Luft hatte sich seit Wochen keinen Zentimeter bewegt, es war ein Glück, wenn man Gelegenheit hatte, mit der Bahn die Stadt zu durchqueren.

    Kim betrachtete Caline, die ihr im Zug von Watermaal zum Residenzpalast gegenübersaß. Die blonden Haare flatterten im Fahrtwind, als würden sie von einem Sturm ihrer Fantasien bewegt. Was Caline ihr weismachte, um Kim zu einer mitternächtlichen Tour in das Zentrum der Stadt zu bewegen, war komplett verrückt. Dafür liebte Kim ihre Nichte.

    »Brüssel besteht aus drei Städten«, erklärte Caline, »gebildet von drei Arten von Bauwerken. Obwohl sie eng benachbart sind, haben sie wenig miteinander zu schaffen: Bürgerhäuser der alten flämischen Handelsmetropole, Paläste der Monarchie, die den zusammengewürfelten belgischen Staat vereinen sollte, und die Türme von Europas Bürokratie. Aber«, behauptete sie mit leuchtenden Augen, »es gibt eine vierte Stadt. Der Eingang zu ihr besteht aus einem einzigen Gebäude.« Als Baumedizinerin im Brüsseler Umweltamt in Kraainem sollte Kim ihrer Nichte vor Ort erklären, was notwendig war, um das Bauwerk zu nutzen. Die Vermessung eines Luftschlosses hört sich leichter an, dachte Kim.

    Alles in Brüssel lechzte seit Wochen nach Wasser und Kühlung. Sie streckte die Hand nach der Flasche aus, die Caline gerade abgesetzt hatte und nahm einen kräftigen Schluck. Die vollgepackt durch die Tunnel stampfenden Züge kamen ihr vor wie Kompressionszylinder einer viel zu weit entfernten Kühlmaschine. Im Zug jedenfalls kam nichts Kühles mehr an.

    Den ganzen Tag hatte Kim im Auftrag einer Wohnungsgesellschaft mit ihrem Team des flämischen Umweltamtes »Bruxelles Environnement« ein Haus am Drève des Gendarmes untersucht, in dem eine einsame Frau innerhalb der letzten drei Jahre lebensgefährlich von Allergien heimgesucht worden war. Sie hatten in dem verdreckten und vom Schwamm zerfressenen Gebäude Proben von Holz und Erdboden genommen, hatten Mauern aufgestemmt und Stichgräben angelegt. Kim war wild entschlossen, mit ihrem Team die Quelle des Problems zu finden und ihren Bericht abzuschließen, bevor sie am Sonntag zu den Antillen aufbrechen würde.

    »Wir wollen dort je zweihundert Zuschauer in mindestens drei Veranstaltungen unterbringen.« Caline zwirbelte ihre Haare mit beiden Händen.

    Seit Wochen und Monaten redete ihre Nichte von nichts anderem. Alle Schulprüfungen hatte sie mit Bravour bestanden, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Über das Stück »Malpertuis« nach Jean Rays düsterem Roman aus dem Jahr 1943, an dem ihre Schultheatergruppe unter Anleitung eines professionellen Regisseurs arbeitete, sprach sie seit Anfang des Jahres. Die Götter des Olymps fristen heute ihr trauriges Dasein in einem belgischen Landhaus, ausgezehrt, kraftlos, weil niemand mehr an sie glaubt. Welch eine schräge Kombination. Die belgische Spezialität, Dinge zusammenzufügen, die nichts miteinander verbindet, dachte Kim, wird uns glücklicherweise gelegentlich als Kreativität nachgesehen.

    »Ich bin gespannt«, sagte sie.

    »Es ist eine so rabenschwarze Geschichte«, erklärte Caline. »Kann man sich als Gott, der in der Antike das gesamte Universum regierte, Schlimmeres vorstellen, als auf dem Land in Belgien zu verkommen?« Sie lachte. Den Waggon schien die Belgische Bahn seit Urzeiten in Betrieb zu halten. Winzige Sitzecken, in denen man kaum die Beine einer einzigen Person unterbringen konnte, geschweige denn die von vier. Muffige Polster. In diesen Abteilen erlebte man die Hölle, sobald sie sich in Bewegung setzten. Caline machte das Geräusch der Schienenstöße nach.

    »Von Schuman fahren wir mit deinem Auto?«

    »Du musst fahren.« Kim erteilte ihre illegale Fahrgenehmigung, etwas, das nur eine Tante tun durfte. Die Tochter ihres Bruders Claes war das reinste Sonnenkind. Groß und blond, intelligent, mit einem kauzigen Humor gesegnet, Nervensäge, Kleinkind gelegentlich. Weil sie außer ihr selbst nicht viele andere Menschen wirklich interessierten, war sie im Umgang mit allen freundlich und offen. Viele ihrer Freundinnen hielten sie für die beste Freundin, die sie hatten. Caline selbst betrachtete keine von ihnen als solche. Sie wühlte in ihrem Rucksack, wobei sie sich Mühe gab, den Inhalt vor Kim zu verbergen.

    Mit einer Hand zupfte sie herum, bis der Hals einer Champagnerflasche sichtbar wurde. »Überraschung.«

    Kim hatte es als Grund für die mitternächtliche Stunde dieses Ausflugs vermutet. Ihr Geburtstag. Ihr letztes Jahr vor der großen Zahl. Das »Noch-einmal-davongekommen-Jahr« begann nach Mitternacht. Der Zug hielt am Bahnhof Résidence. Sie beeilten sich herauszukommen.

    Kim trat einige Schritte von dem Torbogen zurück, der sich vor ihr in der Fassade öffnete. Sie zog ihr helles Leinenjackett aus. In ihrer kurzärmligen hellbraunen Baumwollbluse und den knapp sitzenden dunkelbraunen Hosen fand sie sich nach dem Verlassen ihres klimatisierten Autos für die Wetterlage noch immer viel zu warm angezogen. Links von ihr lag ein Gebäude, das man in den Sechzigerjahren als ein spitzwinkliges Dreieck in den Zwickel zwischen Rollebeekstraat und Keizerlaan eingepasst hatte. Darin versuchte eine Bowlingbahn über einer Total-Tankstelle ihr Glück. Zu ihrer Rechten, die Straße weiter hinauf, beherrschten belebte Straßencafés vor dreistöckigen efeubewachsenen Häusern die Szene der Nacht. Auf der anderen Straßenseite gab es die ersten Antiquitätenläden, deren Reihe sich von hier bis in die Marollen fortsetzte. Kim würde sich hüten, die Schaufenster mit afrikanischen Kunstwerken in ihrem Rücken näher zu betrachten.

    Caline meldete sich neben ihr mit einem Niesanfall. Umständlich nestelte sie eine Packung Taschentücher aus dem Rucksack. Obwohl sie in der heißen Nachtluft wie in einem zähen Gelee steckten, wehte aus dem Hof hinter der Durchfahrt ein kühler Luftzug auf die Straße. Etwas musste dort den ganzen heißen Tag lang Schatten produzieren und Feuchtigkeit bewahren. Es konnte nicht einfach ein verkommenes Haus sein. Für den Zug, den Kim auf der Haut spürte, besaß eine niedrige Hinterhausruine nicht genügend Fläche. Sie spürte die kalte Wand der Durchfahrt in ihrem Rücken. Es roch nach feuchtem Putz und Zigarettenrauch.

    Vor ihr öffnete sich ein Innenhof. Müll aus leer geräumten Häusern, umliegenden Gaststätten und Läden lag in Bergen neben überquellenden Abfallcontainern. Nahezu der gesamte Innenraum des Hofes war ausgefüllt von dem Ungetüm eines stillgelegten zweistöckigen Parkhauses.

    Versteckt. Vergessen. Nicht älter als vierzig Jahre, aber von prähistorischer Anmutung. Aus einer Zeit, als man viel grober mit Beton und Stein umging als heute. Groß, kalt und unsichtbar, nur wenige Meter von der tagsüber mit Touristen gefüllten Straße entfernt, dämmerte der Betonklotz dort vor sich hin.

    Kim erinnerte der Anblick an ein Foto, das sie vor Jahren in einer Ausstellung des Fotografen Robert Polidori in der Tate in London gesehen hatte. Es zeigte das Innere eines ehemals prächtigen Opernhauses in Detroit – die samtbespannten Wände, das Parkett, die Bühne, die Logen mit samtroten Brüstungen. In das Opernhaus war ein Parkhaus gebaut worden, als hätte sich eine außer Kontrolle geratene Autofähre hineingebohrt. Die Logen bildeten den Rand eines Parkdecks. Chromglänzende Kühlergrills warteten auf nie mehr stattfindende Aufführungen.

    »Ist das deine vierte Stadt?«, fragte sie Caline. Ihre Nichte stand neben ihr, den Rucksack auf dem Rücken, wie eine Touristin, die tausend Kilometer gewandert war, um vor einer prähistorischen Ruine im Innern Yucatans zu stehen.

    »Das ist der Eingang zu der Stadt, in der die Götter warten«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. »Wären sie nicht schon hier, wäre es nicht für ›Malpertuis‹ geeignet.«

    »Sie sind anwesend?«, fragte Kim. Was sollte das bedeuten?

    »Natürlich sind sie anwesend«, Caline lachte. »Sie warten auf dich. Sie sind deine Geburtstagsüberraschung.« Kim konnte mit den Bemerkungen nichts anfangen.

    »Zweihundert Gäste?«, fragte sie.

    »In diesem Deck werden die Gäste parken«, sagte Caline. »Einfacher geht es nicht.« Sie sah auf die Uhr. »Noch zehn Minuten.« Sie marschierte voran, den Rucksack auf dem Rücken.

    Sorgfältig setzte Kim ihre Absatzschuhe Schritt vor Schritt, das Jackett über den Arm gelegt. Caline bestieg vor ihr eine Leiter in das zweite Parkdeck. Mit der Champagnerflasche wies sie den Weg.

    Caline hielt eine Stablampe in der Hand. Ihr Strahl verlor sich in der weiten Ebene des oberen Parkdecks, auf dessen Betonfußboden sie jetzt standen. Er versackte im Müll, den Generationen von Kids und Obdachlosen hinterlassen hatten, zwischen zerbrochenen Flaschen, in muffigen Lagern aus nassen Matratzen, bei zerbrochenen Spritzen, gebrauchten Kondomen und den Überresten anderer erledigter Geschäfte.

    »Warte hier«, sagte Caline, »ich bereite es vor.« Kim musste sich eingestehen, dass sie hoffte, es schnell hinter sich zu bringen. Ein »Happy Birthday«. Einige Schlucke Champagner. Kerzenschein, ein paar umständlich verpackte winzige Geschenke. All das wäre in Ordnung. Danach nichts wie weg.

    Während ihre Nichte die Rampe hinunterlief, wanderte Kim in der leeren Betonfläche umher. Es gab nichts Mystisches. Es gab den Dreck, es gab Verwahrlosung, es gab kalkige Zapfen, die durchsickerndes Regenwasser erzeugt hatte, es gab Pfützen und Müll. Es gab keine Götter. Es gab nicht einmal Obdachlose, die von sich behauptet hätten, welche zu sein. Es gibt keine vierte Stadt in Brüssel, es gibt vernachlässigte Winkel, in denen es stinkt und auch im Sommer kalt ist. Das ist alles.

    Hier eine Veranstaltung mit zweihundert Gästen? Kim fror. Abgesehen davon, dass man Toiletten verfügbar haben, Luftqualität messen und Zugänge schaffen musste: Selbst im Sommer würde man es beheizen müssen.

    Caline tauchte aus dem Erdgeschoss wieder auf der Rampe auf. Null Uhr. Sie schoss den Korken in die Luft. Plötzlich hatte sie zwei Gläser, die sie mit Champagner füllte. Dann fiel sie ihrer Tante um den Hals.

    Zwölf Jahre alleinerziehende Tante. Kim wusste, dass es eine Ehre für sie war, an einen so geheimen Ort geführt zu werden. Keine siebzehnjährige Tochter hätte ihre Mutter hierher geschleift. Kim war etwas anderes für Caline. Sie war Tante und Freundin, nur sehr selten Mutter. Kim würde sich eher in die Zunge beißen, als Caline zu fragen, wie sie auf diesen schrecklichen Ort gekommen war.

    Caline hielt das Glas hoch. Sie prosteten sich zu. Irgendwo rollte ein Stück Holz.

    »Du musst mir sagen, was ich tun muss, damit Aufführungen vor Publikum problemlos funktionieren können.« Als sie Kims skeptische Miene sah, fuhr sie fort: »Aus einem verrückten Grund ist dieses Haus für uns bestimmt. Du wirst es sehen.« Sie kramte in ihrem Rucksack und nahm etwas in die Hand, was sie von dort unten zum Zuprosten eine Etage höher geschleppt haben musste. Es schien groß wie ein Pferdekopf zu sein. Kim hatte ein ungutes Gefühl. Dann zog Caline etwas heraus, das Kim nicht sehen wollte.

    Nur das Blinken eines Blickes erlaubte sie sich, bevor sie sich abwandte. Eine afrikanische Maske. Groß. Geradezu gewaltig. Zwei Gesichter in einem. Augenschlitze. Hornähnliche Auswüchse eines Insektenkopfes. Ein Wesen von jenseits des menschlichen Universums. Ein Stück davon brach ab und blieb im Rucksack hängen. Caline ignorierte es.

    Wie in Trance folgte Kim ihrer Nichte, während sie sich das Jackett wieder um die Schultern legte. Ihr war kalt. Sie gingen zur Rampe, die ins untere Parkdeck führte. Es roch

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