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Ein kleines Stück vom Traum der Zeit
Ein kleines Stück vom Traum der Zeit
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eBook429 Seiten6 Stunden

Ein kleines Stück vom Traum der Zeit

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Über dieses E-Book

Helene und Rikarda begegnen sich 1936 als Kinder. Ihre Freundschaft überdauert die folgenden Jahre, obwohl ihre Charaktere unterschiedlicher kaum sein könnten. Sie erleben zusammen den Krieg, die erste Liebe und Enttäuschung und die Verluste, die mit den Bombennächten einhergehen.
Rikardas Familie wird vollständig auseinandergerissen, während Helenes große Liebe in den Wirren des Krieges verschwindet. Ihre einst heile Welt bricht nach und nach in sich zusammen. Schließlich flüchten sie zusammen mit ihren Müttern nach Bayern, auf den Bauernhof von Verwandten, wo sie die letzten Kriegsmonate verbringen und den Einmarsch der Amerikaner erleben. Nach der Kapitulation verändert sich mit einem Schlag alles und ihre Leben beginnen, sich voneinander zu lösen und nichts bleibt mehr, wie es war.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum5. Jan. 2021
ISBN9783753143446
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    Buchvorschau

    Ein kleines Stück vom Traum der Zeit - Regan Holdridge

    Kapitel 1

    Leipzig, September 1936

    „Heute wird mein erster Tag in der neuen Schule sein. Ich weiß jetzt schon, dass es mir dort nicht gefallen wird! Ich will wieder in meine alte Schule! Aber das geht ja nicht, weil Mutti und Paps unbedingt haben umziehen müssen..."

    Das Mädchen saß am Küchentisch und beobachtete seine Mutter, wie diese vier Stullen mit Butter bestrich und in ein Stück Papier wickelte. Sie hielt den Kopf in die Hände gestützt und ihr Gesichtsausdruck ließ glauben machen, ihr stünde der schlimmste Tag ihres bisherigen Lebens bevor und genauso fühlte sie sich auch.

    „Ich will nicht! Ich will zurück nach Lübeck, zu Oma!"

    Ihre Mutter seufzte ein wenig verdrießlich und der andauernd wiederkehrenden Diskussionen leid. „Das geht doch nicht und das weißt du! Aber es wird dir bestimmt gefallen! Ich bin mir sicher!"

    „Wird es nicht!"

    „Ich hab’ den lieben Gott gestern Abend ganz besonders lieb darum gebeten, dass er es dir leicht und einfach macht und viele nette Kinder in deiner Klasse sein lässt!"

    „Und? Hat er geantwortet?" Sie stieß jedes Wort noch mürrischer hervor. Was nützte ihr der liebe Gott?! In die neue Schule musste sie ja doch alleine!

    „Natürlich!, versicherte ihre Mutter hastig. „Er hat die Wolken beiseitegeschoben und der Mond hat hervorgeblitzt!

    Pah, dachte das Mädchen. So dumme Geschichten können sich auch nur die Erwachsenen einfallen lassen!

    Agnes Felder war eine zierliche, hübsche Frau von dreißig Jahren. Ihr Haar besaß die Farbe von Ebenholz, wie auch ihre großen, dunklen Augen. Ihr sonnengebräunter Teint wirkte überall, wo sie auftauchte ein wenig exotisch und das, obwohl ihr Stammbaum tadellos und weit in die beiden zurückliegenden Jahrhunderte hineinreichte. Agnes entsprang einer traditionsbewussten Hamburger Kaufmannsfamilie, in der immer streng darauf geachtet worden war, mit wem die Erben ihre Ehen eingingen. Lediglich ihr Vater hatte diesen Unfug nicht recht eingesehen und war von einer Geschäftsreise mit einer jungen Ungarin heimgekehrt. Ein Skandal zur damaligen Zeit in der biederen Gesellschaft von Hamburg und für das junge Mädchen, das bei ihrer Ankunft in der Hafenstadt kein Wörtchen Deutsch verstand, zu Anfang geradezu unerträglich. Sie wurde gemieden, hinter ihrem Rücken wurde getuschelt, mit dem Finger auf sie gezeigt und so lange sie lebte hatte sie damit zu kämpfen, nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen zu werden. Doch sie besaß Durchhaltevermögen und Ehrgeiz und schenkte ihrem Mann nicht nur vier kerngesunde Kinder, sondern führte nach dessen frühen Tod auch die Familiengeschäfte erfolgreich weiter, bis ihr ältester Sohn diese übernehmen konnte.

    Bei Agnes waren einige dieser mütterlichen, ungarischen Gene durchgeschlagen, nicht nur in ihrem Äußeren, auch in ihren Charakterzügen. Von jeher war sie eine starke, energische Persönlichkeit gewesen, die zwar jung geheiratet hatte, jedoch immer politisch interessiert und auch engagiert gewesen war. „Streitbar und provozierend" lautete das Urteil eines Artikels in der Hamburger Zeitung, in dem sie einmal erwähnt worden war, weil sie mit Gesinnesgenossinnen vor dem Rathaus für mehr Rechte für Frauen demonstriert hatte. Den Ausschnitt besaß sie noch heute, in ihr Poesiealbum eingeklebt, als Erinnerung und Ansporn.

    Ihre politische Karriere dauerte – zu ihrem großen Leidwesen – jedoch nur bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr. Dann ging sie eine Ehe mit Paul Felder ein, einem Biologie- und Chemiestudenten aus Lübeck. Sie waren sich einige Monate zuvor begegnet, als der junge, nicht unattraktive Mann sein Gastsemester in Hamburg angetreten hatte. Er konnte keine Familie im Sinne eines reichen Kaufmanns aufweisen, sondern lediglich eine etwas undurchsichtige Familienchronik mit einem Erzeuger und einem Stiefvater, den seine Mutter in zweiter Ehe geheiratet hatte, nachdem sein leiblicher Vater mit einer verruchten Dame aus einer Tanzbar durchgebrannt war. Geld gab es nie im Überfluss und die Studiengebühren mussten sein Stiefvater und seine Mutter hart von ihrem wenigen Lohn abzwacken.

    So hielt sich die Begeisterung über den vermeintlichen Schwiegersohn in spe bei Agnes’ Familie entsprechend in Grenzen und nachdem das Techtelmechtel nicht – wie erhofft und prophezeit – schon nach ein paar Wochen zu Ende ging, wurde der Familienrat einberufen. Dieser legte der streitbaren Tochter dringend nahe, den „unwürdigen Studenten" zum Teufel zu jagen.

    In Agnes regten sich der angeborene Widerstand und Trotz, nicht nur wegen ihrer politischen Gesinnung, dass Frauen noch immer viel zu wenig Mitspracherecht in ihrem eigenen Leben besaßen. Vor allem aber deshalb, weil ihr der unerwünschte, junge Mann längst viel zu viel bedeutete, als dass sie ihn einfach hätte fortschicken können. Um ihre Familie jedoch nicht völlig zu verärgern, gab sie schließlich schweren Herzens nach und mit der festen Überzeugung, ihn niemals wiederzusehen. Sie hatte jedoch nicht mit Pauls Hartnäckigkeit gerechnet, der sich von ihrem Korb nicht beeindrucken ließ und ihr weiterhin den Hof machte. Als sein Semester sich dem Ende neigte, der endgültige Abschied bedrohlich näher rückte und sich für die Situation der beiden Liebenden noch immer keine geeignete Lösung gefunden hatte, beschloss Agnes, den unehrenhaftesten Schritt von allen zu gehen: Wenn sie erstmal ein Kind erwartete, konnten ihre Eltern nichts mehr gegen eine Heirat einwenden!

    Sie nahm Paul an einem Abend mit zu sich nach Hause, als sie wusste, dass ihre Eltern ausgegangen waren. Natürlich hielt er die Idee für schlecht und nicht den richtigen Weg, eine Ehe zu beginnen. Er war so entsetzlich korrekt und immer um Etikette bemüht, dass es seine zukünftige Braut schier um den Verstand brachte! Agnes ihrerseits hatte sich zu viele Gedanken gemacht, wie sie ihren Paul doch noch heiraten durfte, um so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Es gelang ihnen noch zweimal, ein Schlafzimmer für sich alleine zu finden, wo niemand sie stören konnte. Dann stand der Abschied bevor und Paul fuhr zurück nach Lübeck, allerdings nur für wenige Wochen, bis das Eiltelegramm aus Hamburg eintraf: Sofort kommen – stop – bin guter Hoffnung – stop – Heirat sobald wie möglich erwünscht! – stop – In Liebe Deine Agnes

    Ein wenig schockiert und mit klopfendem Herzen setzte Paul sich in den nächsten Zug, mit den besten Wünschen seiner Mutter und seines Stiefvaters begleitet, um seine junge Braut aus Hamburg abzuholen. Wirklich willkommen geheißen wurde er bei seinen Schwiegerleuten allerdings nie. Im Gegenteil – wegen des Kindes, das „in Sünde" entstanden war, brach die traditionsbewusste Hamburger Kaufmannsfamilie mit der unehrenhaften Tochter. Der Kontakt zu ihr wurde auf ein Minimum reduziert und mit finanzieller Unterstützung durfte sie natürlich auch nicht rechnen.

    Zu Anfang war ihr Leben in Lübeck schwierig gewesen. Sie hatten mit Pauls Eltern in der winzigen Wohnung leben müssen, weil er als Student noch nichts verdiente. Die Verhältnisse waren mehr als beengend gewesen und das Geld noch knapper als zuvor. Nach der Geburt ihrer Tochter hatte Agnes angefangen, stundenweise in einem Hotel als Zimmermädchen zu arbeiten und so waren sie über die Runden gekommen, bis Paul schließlich an einem Gymnasium für bessere Söhne zunächst als Lehramtsanwärter und später hauptverantwortlich Biologie und Chemie unterrichtete.

    Im Laufe der Jahre waren sie mehrmals umgezogen, bis sie schließlich eine hübsche Wohnung in einem dreistöckigen Gebäude in Lübeck gefunden hatten. Unweit davon befand sich eine Mädchenschule, wohin Helene zu Fuß gehen konnte und auch das humanistische Gymnasium, in dem Paul unterrichtete, war in wenigen Minuten zu erreichen. Sie lebten dort vier glückliche Jahre, bis zu dem verhängnisvollen Tag, an dem der Brief eines Notars aus Leipzig in ihren Briefkasten flatterte...

    „Jetzt mach’ doch kein solches Gesicht! Agnes seufzte ungeduldig und schüttelte den Kopf. Schon seit Tagen lief ihre elfjährige Tochter mit dieser Leidensmiene umher. „Die Welt geht nicht gleich unter, nur weil du eine neue Schule besuchen musst!

    „Warum können wir nicht zurück nach Lübeck gehen?! Warum haben wir unbedingt hierher ziehen müssen?! Das verstehe ich nicht!"

    Agnes verdrehte die Augen und wickelte die Butterbrote in das Papier. Das Thema langweilte sie allmählich. „Hier. Pack das ein und dann müssen wir los. Es ist nicht weit und ab morgen kannst du allein gehen."

    „Ich will aber nicht!"

    Ihr Vater betrat die Küche. Er hatte die letzten Worte seiner Tochter gehört. „Irgendwelche Probleme?"

    Seine Frau hob die Schultern. „Nur die üblichen."

    Trotz seines jungen Alters von Anfang dreißig, war Paul Felder eine stattliche, respekteinflößende Erscheinung, mit seinen über Einsneunzig und dem Kreuz, an das nur maßgeschneiderte Anzüge passten. Er trug einen Schnauzbart, den er hegte und pflegte und sein dunkelblondes Haar stets zu kurz geschnitten. Auch für ihn sollte dies der erste Tag an seiner neuen Unterrichtsstätte und vor einer neuen Klasse werden. Erst vor wenigen Wochen waren er, seine Frau und Helene von Lübeck hierher gezogen. Seine Tante mütterlicherseits war unerwartet verstorben und hatte ihm – ausgerechnet ihm, der am wenigsten mit ihr zu tun gehabt hatte – das Haus am Stadtrand von Leipzig hinterlassen. Ein hübsches, eigentlich für sie drei viel zu großes Gebäude, Anfang des Jahrhunderts erbaut, mit zwei Bädern und vier Schlafzimmern. Ein riesiger Garten umgab es nach allen Seiten, in dem eine Menge Unkraut wucherte und die Büsche am Rand des Grundstücks glichen einem Urwald. Es war unmöglich, von irgendeiner Seite hinein oder hinaus zu sehen. Die einzige Lücke stellte die Gartenpforte dar und selbst dort bildeten wuchernde Rosen ein Spalier, unter dem man hindurch musste. Seit Monaten hatte Tante Hedwig den Garten nicht mehr gepflegt und genauso sah es auch überall aus. Sie war alleinstehend gewesen, hatte jung geheiratet, um bald darauf Witwe zu werden. In den Monaten vor ihrem Tod war es mit ihrer Gesundheit nicht mehr zum Besten gestanden und hatte es ihr unmöglich gemacht, das Haus längere Zeit zu verlassen.

    Helene kannte diese Tante Hedwig nicht, hatte sie auch nie gesehen. Sie wusste nur, dass ihr Vater sie ab und an einmal besucht hatte. Dann hatten sie und Agnes ihn zum Bahnhof gebracht, ihm zum Abschied gewunken und jedesmal war er mit Keksen und anderen Süßigkeiten zurückgekehrt. Das hatte ihr immer gefallen. Süßigkeiten gab es bei ihr zu Hause nur selten. Aber jetzt hasste sie diese Tante Hedwig, denn die war Schuld, dass sie von Zuhause fortgezogen waren! Wieso hatte sie auch das Zeitliche segnen müssen, diese Tante Hedwig?! Und war ihr kein besserer Erbe eingefallen, als ausgerechnet Paul?

    „Wollt ihr euch nicht ein bisschen beeilen? Ihr Vater warf einen ungeduldigen Blick auf die Küchenuhr. „Sonst kommt das Kind schon am ersten Tag zu spät!

    „Na, komm!" Agnes zupfte an der Bluse ihrer Tochter, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Nur widerwillig kam das Mädchen der Aufforderung nach und schlurfte in Richtung Hausflur.

    „Und vergiss nicht, auf dem Rückweg bei der Arbeitvermittlung vorbeizugehen und die Stellenausschreibung abzugeben, damit wir jemanden für den Garten und die Küche finden! Vor allem für den Garten!", erinnerte Paul seine Frau.

    „Es wird sich sowieso keiner melden!"

    „Sei doch nicht immer so pessimistisch!" Paul setzte sich an den Frühstückstisch, wo seine beiden hartgekochten Eier, die drei Brötchen, sowie der Kaffee und die Erdbeermarmelade auf ihn warteten – wie jeden Morgen. Die Eier links vom Teller, mit den selbst gehäkelten Hütchen oben drauf, damit sie auch schön warm blieben, beide in Eierbechern, die Brötchen im Korb vor ihm und rechts davon der Marmeladentopf.

    „Ich sehe die Dinge nun mal, wie sie sind!, rief Agnes aus dem Flur zurück. „Niemand wird sich freiwillig auf eine Stellung bewerben, wo er erst einmal ein halbes Jahr mit Unkraut jäten beschäftigt ist!

    Paul reckte den Hals, um zum Küchenfenster hinaus auf den Platz in ihrem Garten zu blicken, wo einstmals Gemüse angebaut worden war und jetzt nur noch das Gewächshaus, das sich zwischen dem hüfthohen Gras erhob, daran erinnerte.

    „Solange ich denken kann, sah der Garten so aus oder zumindest ganz ähnlich! Tante Hedwig hatte eben keinen grünen Daumen!"

    „Das lag wohl weniger am Geschick, als an der Arbeit!"

    Helene schlurfte noch mal herein, von ihrer Mutter geschoben, den Ranzen auf dem Rücken und die Lippen fest zusammengepresst. Verabschieden, hatte Agnes ihr befohlen und sie in die Küche zurück dirigiert. Papa einen Kuss geben, wie es sich für brave Mädchen gehörte.

    Sie war ihr einziges Kind geblieben. Nach zwei Fehlgeburten, die Agnes beide einigermaßen gut überstanden hatte, war ihre Hoffnung auf weiteren Nachwuchs mehr als gering. So blieb es auch nicht aus, dass Helene von ihren Eltern immer besonders behütet wurde und den kleinen Mittelpunkt der Familie darstellte. Was ihr im Übrigen durchaus bewusst war – im Gegensatz zu ihren Eltern, die von sich glaubten, überaus streng und konsequent zu sein.

    Helene hatte das Haar und die Augen ihrer Mutter geerbt, ihre kantigen, wenig mädchenhaften Gesichtszüge jedoch gingen mehr in Richtung ihres Vaters. Beides gefiel ihr nicht. Sie träumte davon, blond zu sein und blauäugig und so hübsch wie Agnes und sie war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Vaters Liebling und Mutters Schatz, das war sie immer gewesen und plötzlich ging das nicht mehr, aus ihr völlig unerfindlichen Gründen. Es war ihnen gleich gewesen, dass sie nicht aus Lübeck fort gewollt hatte, dass es ihr in Leipzig nicht gefiel. Paul entschied und innerhalb von wenigen Wochen war ihre bis dahin heile Welt in sich zusammengebrochen.

    Vier Wochen lebten sie nun schon hier, waren mit ihrem ganzen Hab und Gut umgezogen, einschließlich des Kanarienvogels, der jetzt munter vor der breiten Fensterfront im Wohnzimmer sein Liedchen trällerte und dem Paul zu Weihnachten einen größeren Käfig und einen Kameraden versprochen hatte. Dazu sollte es jedoch nicht kommen, weil zuvor Nachbars Katze eines schönen Nachmittags durch die offene Terrassentür schlich und sich an Zwitschi heranpirschte. Zu dessen Glück warf sie allerdings nur den Käfig vom Beistelltisch, dessen Klappe aufsprang und dem Vogel das Leben und die Freiheit schenkten. Er flog ein bisschen wild durchs Zimmer, ehe er die offene Tür fand. Er hob sich in die Lüfte, fröhlich jubilierend und zirpend und schwenkte nach Südosten ab. Alle Suchaktionen blieben erfolglos und Paul beschloss, dies sei ihr letztes Haustier gewesen.

    Dass sie sich an dieser Schule nicht wohlfühlen würde, wusste Helene in dem Moment, als ihre neue Lehrerin aus dem Klassenzimmer trat, um sie zu begrüßen. Ihr Name war Übele, Fräulein Übele – wobei sie auf das Fräulein besonderen Wert legte – und sehr bald schon sollte sich herausstellen, dass sie so war, wie sie hieß: Streng, kalt und mit großer Vorliebe für jegliche Art von Drill. Sie trug immer graue oder schwarze Röcke und dazu weiße Blusen, bis oben hin streng zugeknöpft, oft mit einem marineblauen Halstuch. Zudem benötigte sie eine Brille, deren dicke Gläser ihre Augen dahinter sehr klein und schmal wirken ließen. Ihr Haar, dessen Farbe an die eines Straßenköters erinnerte, weder braun noch blond, sammelte sich, glatt nach hinten gekämmt, in einem Haarnetz.

    Ihr Blick glitt prüfend über die neue Schülerin hinweg, die sie im Gegenzug misstrauisch beäugte und sich halb hinter ihrer Mutter versteckte.

    „Sie ist ein sehr sensibles Kind, begann Agnes und versuchte, ihre Tochter hinter sich hervorzuzerren, was ihr nur teilweise gelang. „Sie ist in Lübeck auf eine reine Mädchenschule gegangen, wo sehr viel Wert auf eine gute Erziehung gelegt wurde. Wie sie mit Jungs zurechtkommt, kann ich Ihnen deshalb nicht sagen.

    Andere Kinder liefen den Flur hinab, an ihnen vorbei, zu ihren Klassenzimmern. Sie lachten und redeten und ein paar betrachteten Helene neugierig. Ein Junge streckte ihr die Zunge heraus und sie schnitt daraufhin eine böse Grimasse. Sie konnten sie alle gern haben! Sie wollte nicht auf diese Schule und sie hatte nicht vor, hier länger zu bleiben! Abhauen würde sie, zurück nach Lübeck, zu Oma Leonore!

    „Machen Sie sich keine Sorgen, hörte sie Fräulein Übeles energische Stimme, die an den Tonfall eines Feldmarschalls erinnerte. „Ich bin bisher noch mit all meinen Schülern zurechtgekommen. Sie müssen nur zuerst Disziplin lernen, das ist die Grundvoraussetzung für ein gutes Leben!

    Sie beugte sich ein wenig nach vorn und ihre winzigen, grünen Augen hinter den Brillengläsern fixierten das Mädchen unbarmherzig.

    „Wir werden uns mit Sicherheit gut verstehen, nicht wahr, Helene?"

    Ihr Name klang aus dem Mund der Lehrerin beinahe wie eine Drohung und ihr fiel auf diese Frage nichts Besseres ein, als hilflos die Schultern zu heben.

    „Wenn du im Unterricht gefragt wirst, stehst du auf, trittst einen Schritt neben die Bank und fängst erst dann an zu sprechen. Zum Melden nehmen wir nur den Zeigefinger der rechten Hand, kein Lineal, keinen Stift und wir schnippsen auch nicht, rufen nicht in die Klasse und reden nur, wenn wir dazu aufgefordert werden! Verstanden?"

    Das Mädchen nickte stumm, eingeschüchtert, während ihre Mutter der Lehrerin kurz die Hand reichte. „Ich glaube, ich gehe dann..."

    „Es freut mich sehr, dass Sie Ihre Tochter unserer Schule anvertrauen, merkte Fräulein Übele noch an. „Ich versichere Ihnen, dass wir ausschließlich daran interessiert sind, die Werte unseres Vaterlands, unseres Volks und unseres Führers zu vermitteln. Heil Hitler!

    Agnes starrte die Frau, deren Alter sie auf höchstens Mitte zwanzig schätzte, irritiert an. „Ja...äh...vielen Dank...bis heute Nachmittag, Helene."

    Sie wandte sich ruckartig ab. In ihr lebte noch immer die Frauenrechtlerin und vor allem jemand, der sich für Politik und Menschenrechte interessierte. Sie war nicht in der Partei, im Gegenteil. Sie lehnte Adolf Hitler und seine Parolen und das Geschrei, mit denen er sie in der Öffentlichkeit vertrat, entschieden ab. All dieses zur Schau stellen von Macht war ihr schlicht zuwider und es gelang ihr nur sehr schwer, sich im Zaum zu halten, wenn es darum ging, ihre Meinung über den Führer an den Mann zu bringen. Jedesmal bat Paul seine Frau dann inständig, sich doch zusammenzunehmen, damit es „keinen Ärger gebe". Agnes verabscheute diese Ängstlichkeit ihres Mannes beinahe ebenso wie Hitlers Geschrei und es kam ihr nie in den Sinn, dass es am Ende wahrhaftig gefährlich sein könnte, wenn sie immer lautstark gegen ihn wetterte.

    Sie hatte schon gleich nach der Machtergreifung „Mein Kampf gelesen – eigentlich nur aus Neugier und um mehr über diesen Mann zu erfahren. Sie nannte das Werk „eine Aneinanderreihung von schwülstigen Sätzen eines vergeisterten Psychopathen.

    Ebenso wie ihr Bruder, der sich in einer Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten engagierte, glaubte sie daran, dass dieser Führer ihnen kein Glück bringen würde. Deshalb mied sie es unter allen Umständen, den Hitler-Gruß auszuführen und sie hatte auch ihrer Tochter klargemacht, dies wann immer möglich ebenfalls zu vermeiden. Sie seien kein Mitglied in der Partei und deshalb sei das einzige, was sie grüßten, der gute Tag.

    Im Klassenzimmer warteten zweiundzwanzig Kinder auf ihre Lehrerin und die neue Mitschülerin. Bis auf 8 Schüler bestand die Klasse nur aus Mädchen und Helene fühlte, wie die Blicke der anderen sie zu durchbohren schienen. Es war nie leicht, als Neue in eine eingeschworene Gemeinschaft einzudringen. Kinder konnten gemein sein und rücksichtslos, ja, verletzender noch als manchmal Erwachsene unter sich. Helene konnte ein Lied davon singen. In jedem Schuljahr waren die Klassen auf der Mädchenschule in Lübeck anders aufgeteilt worden und es gab Schülerinnen, mit denen man sich eben besser verstand und welche, die man nicht so gerne mochte. Mit den meisten kam Helene nicht klar, was wohl in erster Linie mit ihrer Schüchternheit zusammenhing. Wenigstens hatte es immer ein, zwei Mädchen gegeben, die ebenfalls an den Rand der Gemeinschaft gedrängt wurden und an die sie sich halten konnte. Doch jetzt geschah es zum ersten Mal, dass sie in eine komplett neue Schule wechselte, wo sie absolut niemanden kannte und völlig auf sich alleine gestellt war.

    Als die Klassenlehrerin das Zimmer betrat, sprangen alle Kinder von ihren Plätzen auf, rissen den rechten Arm nach vorn und brüllten aus Leibeskräften: „Heil Hitler, Fräulein Übele!"

    Es dauerte einen Moment, ehe Helene begriff, dass sie dabei zu einer Porträtaufnahme des Führers blickten, die neben der Tafel an der Wand hing. Dann wurde sie auch schon von ihrer Lehrerin nach vorn geschoben, um sie den anderen kurz vorzustellen. Viel gab es nicht über sie zu berichten und Helene atmete bereits erleichtert auf, in der Annahme, es fürs Erste überstanden zu haben.

    „Klaus!" Fräulein Übele gab einem Jungen mit sehr auffälligen, dunkelroten Haaren in der ersten Reihe ein Zeichen, sich zu erheben. Er schnellte in die Höhe, um sich neben seiner Bank in militärisch straffer Haltung aufzubauen, das Kinn gerade, den Blick stur nach vorn zur Tafel gerichtet.

    „Das ist unser Klassensprecher, erläuterte Fräulein Übele. „Er wird dich in der Pause durch die Schule führen und dir alles zeigen.

    Höflich nickte Helene ihm zu, wie sie es von ihren Eltern gelernt hatte. „Guten Tag", flüsterte sie, kaum hörbar, doch Fräulein Übeles Ohren funktionierten hervorragend.

    „Wie hast du ihn eben gegrüßt?!"

    Der unerwartete Aufschrei ließ Helene zusammenzucken.

    „Guten Tag", wiederholte sie nach einem langen Augenblick. Sie konnte nichts Falsches daran erkennen.

    „Gütiger Himmel! Haben sie dir Zuhause noch nicht mal einen korrekten Gruß beigebracht?!"

    Im nächsten Moment spürte das Mädchen, wie sie von ihrer Lehrerin herumgerissen wurde. Ihr rechter Arm erhielt mit einem schmerzhaften Ruck eine gerade Ausrichtung nach vorne-oben.

    „Der korrekte Wortlaut lautet ‚Heil Hitler‘! Der Arm und die Finger bleiben dabei gestreckt! Und wir grüßen am Morgen immer das Porträt unseres Führers! Da! Dort links! Denn der Führer ist das Wohl und der Segen des Deutschen Volkes! Merk’ dir das!"

    Auf das stumme, verschüchterte Nicken hin gab Fräulein Übele ihrer neuen Schülerin einen ungeduldigen Wink. Das konnte ja nichts werden, wenn diese Göre nicht einmal richtig zu grüßen vermochte! Und wie schlaff sie ihre Schultern hängen ließ! Das würde noch eine Menge Arbeit geben!

    „Da, in der letzten Reihe, ist noch eine Bank frei. Weil wir eine ungerade Zahl von Schülern sind, wirst du sie für dich alleine haben."

    Ihren endgültig geplatzten Einstand gab Helene damit, dass sie auf dem Weg nach hinten über das gestellte Bein eines der Jungen stolperte und der Länge nach auf den Gang zwischen den Bänken aufschlug. Begleitet vom schallenden Gelächter der Klasse rappelte sie sich wieder hoch und beeilte sich, ihren hochroten Kopf in der zugewiesenen, letzten Reihe zu verstecken. Erst als Fräulein Übele schon längst mit dem Unterricht begonnen hatte, wagte sie es, vorsichtig um sich zu schauen. Rechts von ihr, in derselben Bankreihe über dem Gang, saßen zwei Mädchen. Sie kritzelten eifrig auf ihren Schiefertafeln und schienen sehr konzentriert. Zu ihrer linken Seite saßen auch zwei Mädchen. Die allerdings wirkten eher, als würde der Volkskundestoff sie gehörig langweilen. Das Mädchen, das zu Helenes Seite hockte, besaß wunderschönes, blondes Haar, das sie zu zwei dicken Zöpfen geflochten trug und ihr beinahe bis auf die Hüften hinabreichte. Ihre ungewöhnlich aufrechte Haltung fiel augenblicklich auf und ihre großen, hellblauen Augen erinnerten an einen geschliffenen Diamanten.

    Helene fand, dass dieses Mädchen schön aussah, soweit sie schon begriff, dass es mehr und weniger ästhetische Menschen auf dieser Welt gab. Auf einmal bemerkte ihre Mitschülerin, dass sie von der Neuen unablässig angestarrt wurde und sie erwiderte ihren Blick für einen Moment. Langsam hoben sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln und sie nickte ihr kurz zu, kaum merklich, jedoch nicht abweisend.

    Die ersten vier Wochen stellten die Hölle auf Erden für Helene dar und jeden Morgen weigerte sie sich mit viel Gejammer und Tränen, aber ohne Erfolg, jemals wieder zur Schule zu gehen. Solange, bis selbst ihr Vater anfing darüber nachzudenken, ob es nicht wirklich besser wäre, sich nach einer anderen Bildungsstätte umzuschauen. Als Alternative kam jedoch nur ein privates Internat in Frage, weil sich dieses als einzige Institution unweit ihres Hauses befand, während sämtliche anderen Schulen nur mit der Straßenbahn oder dem Zug erreichbar waren. Die Internatskosten überstiegen jedoch bei weitem ihr monatliches Budget. So blieb Helene nichts anderes übrig, als weiterhin nachts in ihrem Bett Stoßgebete zum Himmel zu schicken, in der Hoffnung, eines Tages erhört zu werden. Sie träumte schlecht und konnte nicht einschlafen, weil ihr die Erlebnisse des Schultages im Kopf herumspukten: Die Hänseleien, die mentalen Angriffe auf ihre Person und das Gefühl des Ausgeschlossen- und Unbeliebtseins.

    Agnes redete stundenlang auf sie ein, dass sie es sich nicht so sehr zu Herzen nehmen dürfte, wenn die anderen dumme Bemerkungen und Späße auf ihre Kosten vom Stapel ließen – das sei am Anfang immer so, wenn man in eine neue Schule käme. Das würde aufhören mit der Zeit. Sie sollte es nur einfach ignorieren.

    Doch jeder Tag wartete mit neuen, unangenehmen Überraschungen für das Mädchen auf, meist in Form von Kränkungen ihrer Mitschüler. Vielleicht, wenn sie sich einmal zur Wehr gesetzt hätte, dann wäre damit Schluss gewesen, doch dazu war Helene viel zu schüchtern, ängstlich und gut erzogen. So versuchte sie, die Sticheleien bestmöglich zu ignorieren oder einfach so zu tun, als könnten sie ihr nichts anhaben – was natürlich nicht stimmte. Ihr sensibles, zartes Gemüt geriet allein schon bei der Vorstellung in Panik, am anderen Morgen wieder die Straße hinablaufen zu müssen und sich Fräulein Übele mitsamt ihrer Klasse zu stellen. Am schlimmsten waren die Sonntage. Helene hasste Sonntage, denn das bedeutete, dass sie einen ganzen Tag lang nur darüber grübeln konnte, was die neue Woche wohl Schreckliches für sie bereithielt. Da halfen auch die Ausflüge mit ihren Eltern zu uralten Schlössern und Ruderpartien auf irgendwelchen Flüssen nichts. Am besten schaffte sie es noch, nicht daran zu denken, wenn sie ein Buch las. Lesen – das war ihre Lieblingsbeschäftigung: Geschichten von tapferen Helden und Prinzen, Rittern und mutigen Kriegern, von wilden Indianern bei Karl May – den sie heimlich aus dem Schrank ihres Vaters mopste, denn Agnes hielt Winnetou und Old Shatterhand für „Schundlektüre" – und glühenden Liebhabern in den Groschenheften, die im Nähkästchen ihrer Mutter versteckt lagen. Helene verschlang alles und wenn sie erst einmal in ihrer Fantasiewelt entschwunden war, konnte sie auch für eine Weile vergessen, dass ihre eigene Realität ganz anders aussah, dass sie eigentlich vollkommen unerträglich für sie war und dass sie alles dafür gegeben hätte, einfach für immer im Wilden Westen oder zwischen spanischen Toreros zu verschwinden oder sich auf einem Schloss mit kaltherzigen Gräfinnen herumzuärgern. Alles schien besser als diese Schule und die dazugehörigen Kinder.

    Kapitel 2

    Etwa sechs Wochen nach Beginn des neuen Schuljahrs kauerte Helene wie in jeder Pause wieder einmal allein auf einer der Bänke im Schulhof und knabberte lustlos an ihrer Butterstulle. Sie schlug dann immer die Beine übereinander und klappte ihren Oberkörper ein wenig nach vorn. Das sah zwar nicht schön aus, aber es gab ihr das Gefühl, ein wenig kleiner und unsichtbarer für die anderen zu sein.

    Sie zählte die Minuten, bis die Pause zu Ende sein würde – wie jeden Tag, das hatte sie sich angewöhnt, auch heute. Alles verlief wie immer. Sie kauerte dort, mümmelte mit verschlossener, finsterer Miene an dem Brot und träumte ein bisschen von Oma Leonore in Lübeck, solange, bis ein Ball geflogen kam und sie hart und unvorbereitet am Kopf traf. Helene stieß einen leisen Schrei aus und drehte sich um. Sie wollte zumindest sehen, wer die Frechheit besaß, Bälle nach ihr zu werfen, auch wenn sie nicht wagen würde, sich gegen den Täter zu wehren. Als Schuldigen konnte sie Wilhelm identifizieren, einen Jungen aus ihrer Klasse, sowie mehrere ihrer Mitschülerinnen und ein paar Mädchen aus der Parallelklasse.

    „Na, du Schwachkopf? Hast jetzt endgültig einen Dachschaden?"

    „Das geht ja gar nicht!, rief Ursula. „Die ist so blöd – blöder geht’s gar nicht! Und viel zu hässlich für unsere Klasse!

    In diesem Moment löste sich ein Mädchen aus einer Gruppe, die bisher nicht weit entfernt zusammengestanden hatten. Es trug ein Buch in der Hand und spazierte selbstbewusst an den anderen vorbei.

    „Das passt!, schrie Wilhelm ihr wütend hinterher, als er sie erkannte. „Gleich zwei blöde Ziegen auf einer Bank!

    „Die Neue hat so dunkle Haare! Hoffentlich ist sie nicht mit Juden verwandt!", rief eines der anderen Mädchen und entriss Wilhelm den Ball, um weiterzuspielen.

    „Ach! Haltet doch euer dummes Schandmaul!", entgegnete die Schülerin, die sich nun zu Helene gesellt hatte.

    Wilhelm wirbelte herum und spuckte vor ihr aus. „Sei du mal ganz still! Mein Vater sagt, du hast Italienerblut in dir! Ganz was Verkommenes bist du!"

    „Stimmt ja gar nicht! Mein Vater ist sogar in der Partei!"

    „Pah! Wer’s glaubt!"

    Das Mädchen mit den langen, blonden Haaren blieb vor der Bank stehen und streckte Helene das Buch entgegen. „Hier vom Übel...ich meine, von Fräulein Übele. Mathematik, das fehlt dir doch noch."

    „Oh!, machte Helene und nahm es nach kurzem Zögern entgegen. „Danke.

    „Schon gut. Sie hat es mir aufgetragen."

    „Hmm."

    Die beiden Mädchen schauten sich fest in die Augen, als wollten sie prüfen, wer von ihnen beiden die Stärkere war. Helene schaute als erste weg. Der Name der anderen war Rikarda, das wusste sie, doch sie hatte bereits mitbekommen, dass sie von den Klassenkameraden lediglich mit Riki angesprochen wurde. Obwohl auch sie den Rang einer Außenseiterin innehatte – wohl wegen ihrer Abstammung – wurde sie längst nicht so offen und verbal angegriffen wie Helene. Das mochte an ihrer schwer erklärbaren, unnahbaren Ausstrahlung liegen, vielleicht auch an ihrer Schönheit, die ihr eine Art von Sonderstatus verlieh.

    Dass Rikarda kein bisschen italienisches Blut in sich trug, erfuhr Helene erst viel später. Im Augenblick interessierte sie das auch gar nicht. Abgesehen davon versprach die Vorstellung, dass Rikardas Vorfahren vielleicht einst verschleppt worden waren, einen Hauch von Abenteuer und Exotik, die ihr selbst ja auch nicht unbekannt waren. Oft erzählte Agnes von ihrer Mutter, die Ungarin gewesen war und was für eine großartige, starke Persönlichkeit sie gewesen sei.

    Für Helenes Fantasie stellte Rikis Familiengeschichte ohnehin mehr als nur einen spannenden und außergewöhnlichen Nährboden dar: Ihre Mutter war einst eine vielversprechende, junge Theaterschauspielerin und Operettensängerin gewesen, bis sie ihren ersten Mann kennengelernt und ihn geheiratet hatte. Mit Anfang Zwanzig hatte sie einem Jungen das Leben geschenkt und drei Jahre später ihre Tochter zur Welt gebracht. Die Ehe stand jedoch unter keinem guten Stern, trotz des innigen Verhältnisses zu ihrer Schwiegermutter. Schon bald nach der Geburt von Riki hatte sie sich von ihrem Mann getrennt, um einen jungen Arzt zu heiraten, dessen Vater einst aus Italien ins Deutsche Königreich übergesiedelt war. Sie verlor das Sorgerecht für ihren Sohn, der fortan beim Vater lebte, behielt jedoch ihre kleine Tochter, die nach ihrer Wiedervermählung den Namen Orsini übertragen bekam, ein eindeutiges Indiz ihrer Herkunft wie es auf den ersten Blick schien und doch viel komplizierter.

    Riki selbst störte sich herzlich wenig an diesem Handicap, das ihr Name für sie bisweilen bedeutete. Ihre Mutter hatte es damals als das Beste empfunden, damit sie richtig zur Familie gehörte und damit Punkt. Sie hasste es auch, sich ständig erklären zu müssen, wenn es um ihren Stiefvater ging und darum, dass ihre Mutter keine „ehrbare" Frau mehr sei, weil sie sich hatte scheiden lassen. Ansonsten gab es wenig, was Riki wirklich gegen den Strich ging. Sie schien mit ihrem Platz als akzeptierte Einzelgängerin innerhalb der Klasse gut zurechtzukommen und da sie ohnehin keinen sonderlich großen Ehrgeiz besaß – den sollte sie erst später entwickeln – war es ihr auch gleich, wenn Fräulein Übele sie immer wieder vor die Klasse treten und an der Tafel vorrechnen ließ, obwohl sie grundsätzlich alles falsch machte. Sie konnte Fräulein Übele nicht ausstehen und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Vielleicht lag es daran, dass Riki es vortrefflich verstand, die Lehrerin um eine passende Antwort verlegen zu machen. Wenn ihr etwas nicht passte, schwieg sie einfach und schaute das Übel aus ihren schönen, stahlblauen Augen so lange an, bis diese vor Zorn wieder einmal ihren Zeigestock auf dem Pult zerschlug. Riki konnte ihre Lehrerin allein mit ihrem selbstbewussten Auftreten um die Fassung bringen und sie nahm jede Möglichkeit wahr, dies für sich auszunutzen.

    Das genaue Gegenteil dazu war Helene. Sie fühlte sich unbeholfen und hilflos ohne Freundinnen, denen sie folgen und hinter denen sie sich im Ernstfall

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