Ein Haus an der Schwale
Von Ulrich Grode
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Über dieses E-Book
Wo hören sie auf?
Alles wandelt sich nur. Nichts vergeht.
Schlaglichter auf eine Familie in einer kleinen Stadt an der Schwale zwischen Weihnachten 2017 und Ostern 2019. Vier Generationen. Lebensgeschichten voller Brüche und Risse, Nähe und Ferne.
Ulrich Grode
Ulrich Grode wurde 1948 in Brunsbüttel geboren, studierte später in Kiel, war von 1975 bis 2012 Lehrer an der Immanuel-Kant-Schule in Neumünster für Deutsch, Geschichte, WiPo und eine Arbeitsgemeinschaft Kreatives Schreiben, leitet seit 2013 an der Volkshochschule Gesprächskreise für Politik und Literatur und erzählt Geschichten.
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Buchvorschau
Ein Haus an der Schwale - Ulrich Grode
13
1
Das Land versank.
Er sah durch die hohen Erkerfenster in den grau verhangenen Garten, der mit allerlei Tannengrün und Buchenbraun zur Schwale hin abfiel, die mit hohem Wasser hinter einem schmutzig grün-weißen Pavillon verschwand. Schon irgendwann im Sommer hatte ihn Novembermelancholie erfasst, hatte sich nicht schönreden lassen auf stillen, nassen Wegen mit herbstlichem Laub und sanft fallenden Blättern, die ihn in Kindertagen stets erwartungsfroh an Schneeflocken hatten denken lassen. Zu dunkel die Wolken, die Tag für Tag über Wasserfelder mit Inseln von verfaulendem Mais zogen, zu aufgeweicht die Wege, zu oft war er durchnässt nach Hause gekommen.
Die Welt in Wasserfarben. Deckweiß war einmal.
An manchen Tagen scheute er sich, den Wasserhahn aufzudrehen.
Staunend beobachtete er die quirlige Betriebsamkeit der Vögel. Wie sie in der Vogeltränke badeten, untertauchten, sich schüttelten! Die Spatzen im halben Dutzend, die Amseln allein. Wie sie auf den Stangen des Futtersilos saßen, drehten, pickten! So leicht, lebendig, spielerisch. Er wusste, dass es nur die halbe Wahrheit war. Fern, auf den hohen Birken, saßen die Krähen. Aasfresser. Sie konnten warten. Irgendwann war auch diese muntere Schar hier vor ihm alt und müde, lahm und leer.
Beatrice kam herein, fand zwischen all den Büchern und Zeitungen auf dem niedrigen Tisch noch Platz für die Becher mit dem dampfenden Tee, setzte sich ihm gegenüber in einen der großen Lesesessel mit bereitliegenden Decken und Kissen und lächelte ihn an: »Es dauert nicht mehr lange, dann sind die Kinder da. Wenn du nichts dagegen hast, bringen wir uns wie jedes Jahr mit Gert Westphal in Stimmung: Weihnachten bei den Buddenbrooks.«
Er nickte. Wie gut sie aussah. Kurzes, graues Haar, gepflegte, glatte Haut, schlank, sportlich. Die drei Kinder und die vielen Jahre an der Uni und in der Politik sah man ihr nicht an. Immer zupackend, optimistisch. Wie jetzt auch. Sie hatte ein Gefühl für Sprachen und Menschen und konnte aus dem Stehgreif einen Standpunkt vertreten, den man jederzeit als Leitartikel in der ZEIT hätte veröffentlichen können. Bald würde sie mit einer Delegation nach China reisen, und er stellte sich vor, wie sie neben der EU-Außenbeauftragten Modigliani oder Mogherini – nie würde er sich den Namen merken können – Xi Jinping gegenübersaß, der ihr mit versteinertem Lächeln Komplimente zu ihrem tiefroten Rollkragenpullover machte mit dem Hinweis auf die Farbe des Sozialismus, das habe er verstanden, das wisse er zu schätzen, und wie sie ihm nach ein paar höflichen Floskeln auf Chinesisch ein festes »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!« entgegenhielt, woraufhin er – verunsichert – »Marx?«, sie »Schiller!« hinzufügte. Und er, Basilius, hätte das zu gern in der TAGESSCHAU erlebt, wie sie dann vom Weltreich Spanien im 16. Jahrhundert erzählte, dem Reich, in dem die Sonne nicht unterging, von den verzweifelten Bemühungen Karls, Philipps, mit Unterdrückung und Gewalt dieses Reich in die Neuzeit hinüberzuretten, und wie kläglich sie gescheitert waren!
Basilius bewunderte sie, obwohl oder weil, das hätte er gar nicht so genau sagen können, er sie auch manches Mal für etwas weltfremd hielt: Das war dieses Lehrerhafte an ihr. Die Welt als Schule. Als gäbe es Gewissheiten, die man lernen, abfragen und dann jederzeit und überall voraussetzen könne.
Als sei es unmöglich, noch einmal hinter Schiller zurückzufallen.
Vielleicht war das der tiefere Grund, warum sie es nicht in die große Politik geschafft hatte. Worüber er letztlich froh war, denn: Was machte es mit einem Ehepartner, seine Frau überwiegend in der TAGESSCHAU zu sehen? In Zeitungen?
In einem Haus zu leben, das ständig überwacht wurde?
Weniger regnen würde es auch nicht.
Seitdem er seine Praxis geschlossen hatte, war er viel draußen, in den Parks und auf einsamen Wegen, schlenderte durch Kunsthallen und Galerien, hörte Musik, ging ins Theater, las und verfolgte das Politische nur mit mäßiger Aufmerksamkeit, gerade so viel, wie es ihm für das verträgliche Miteinander mit Beatrice notwendig zu sein schien.
Sie hatte die CD eingelegt, und er hörte – zum wievielten Mal eigentlich? – diese volle, warme Stimme, bei der er irgendeinen Nikolaus vor sich sah mit Drauß vom Walde komm ich her … Hier jedoch hieß es:
Am herrlichsten aber war dennoch der Weihnachtsabend zu Hause, denn der Konsul hielt darauf, dass das heilige Christfest mit Weihe, Glanz und Stimmung begangen ward. Wenn man in tiefer Feierlichkeit im Landschaftszimmer versammelt war, während die Dienstboten und allerlei alte und arme Leute, denen der Konsul die blauroten Hände drückte, sich in der Säulenhalle drängten …
Welch beschämendes Schauspiel, dachte Basilius, und niemand da, der geschrien hätte, stattdessen:
… erscholl dort draußen vierstimmiger Gesang, den die Chorknaben der Marienkirche vollführten, und man bekam Herzklopfen, so festlich war es. Dann, während schon durch die Spalten der hohen, weißen Flügeltür der Tannenduft drang, verlas die Konsulin aus der alten Familienbibel mit den ungeheuerlichen Buchstaben langsam das Weihnachtskapitel, und war draußen noch ein Gesang verklungen, so stimmte man »O Tannebaum« an, während man sich in feierlichem Umzuge durch die Säulenhalle in den Saal begab, den weiten Saal mit den Statuen an der Tapete, wo der mit weißen Lilien geschmückte Baum flimmernd, leuchtend und duftend zur Decke ragte und die Geschenktafel von den Fenstern bis zur Tür reichte. Aber draußen, auf dem hartgefrorenen Schnee der Straßen …
Unwillkürlich sah er durch das hohe Erkerfenster in den vor Nässe triefenden Garten.
… musizierten die italienischen Drehorgelmänner, und vom Marktplatz scholl der Trubel des Weihnachtsmarktes herüber. Außer der kleinen Clara beteiligten sich auch die Kinder an dem späten Abendessen in der Säulenhalle, bei dem es Karpfen und gefüllten Puter in übergewaltigen Mengen gab …
Beatrice hatte die letzten Worte mitgesprochen, drehte die Lautstärke herunter und sagte: »Und dann ist mindestens den Kleinen schlecht, und Doktor Grabow verschreibt strenge Diät, ein wenig Taube, ein wenig Franzbrot. Übrigens, ich habe genug Magentropfen gekauft.«
Sie folgte seinem trüben Blick nach draußen: »Viel Regen in letzter Zeit. Da meint es jemand gut mit den Fischen. Aber: Vögel, die verkünden Land. Und unsere brauchen noch Futter. Sieh dir die Feldsperlinge an, immer hurtig, immer zusammen. Da, die Kohl- und Blaumeisen! Gestern hab ich sogar eine Tannenmeise gesehen. Sie bewegt sich wie ein Zaunkönig. Selten hatten wir so viele Vögel im Garten. Manchmal zwitschern sie schon Frühling. Auch einen Stieglitz hab ich gesichtet. Ich glaube, zwischen Hauswand und Markise wird ein Nest gebaut.« Sie zögerte und zeigte auf die dicken Wolken: »Da könnte auch ganz viel Schnee in der Luft sein. Ach, wär das schön, wenn es morgen schneien würde.«
»Schnee? Bei diesen Temperaturen?« Er lachte kurz auf: »Da müsste der Gefrierpunkt des Wassers sich kurzfristig auf zehn Grad plus verändern. Winter, wie wir ihn kennen …«, und er nahm eine Weihnachtskarte vom Tisch mit einer raureifgeschmückten Fluss- und Waldlandschaft, »den gibt es nur noch auf solchen Fotos und in der Schule.«
»Und in alten Romanen«, fügte sie hinzu.
»Weißt du«, er schmunzelte, »Westphal, Lübeck und die Buddenbrooks, das passt. Aber Anders Stüwe mit Busch, Morgenstern und Ringelnatz war mir im Grunde lieber. Erinnerst du dich?
Den Unterschied bei Mann und Frau sieht man durchs Schlüsselloch genau.
Herrlich, wie er das vortrug! Wie man alles, alles vor sich sah! Selig die Zeiten vor der Geburt des Fernsehens und Internets. Als es noch eine Kindheit gab, in der man die Welt der Erwachsenen mühsam entdecken, erobern musste. Und Stüwes verschmitztes, schalkhaftes Lächeln umfasste das Wissen um die unendliche Vielfalt des Menschlich, Allzumenschlichen. Er und Westphal, beides Könner, keine Frage. Und wenn es einen Himmel gibt, lesen sie jetzt da oben abwechselnd vor. Engelscharen