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Eine Mondscheinaffäre
Eine Mondscheinaffäre
Eine Mondscheinaffäre
eBook232 Seiten3 Stunden

Eine Mondscheinaffäre

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Über dieses E-Book

Die Geschichte einer Frau, die noch einmal ein Glück erlebt, das zunächst jedoch kein Glück zu sein scheint, und sie war eigentlich auch gar nicht auf der Suche nach dem Glück. Eine keienswegs normale und alltägliche Geschichte und eine keineswegs normale und alltägliche Frau begegnet uns dort als Hauptdarstellerin. Almuth Link wählt eine einfache und dennoch so zauerhafte Sprache, die es einem kaum erlaubt, das Buch wegzulegen, hat man sich erst einmal in die Geschichte vertieft. Das Buch macht von Seite zu Seite einfach neugieriger. Die Geschichte versetzt den Leser in eine andere Welt, eine Welt, in der man sich schon während des Lesens von Seite zu Seite selbst den weiteren Verlauf und dann natürlich auch das eventuelle Ende (Hppy-End?) herbeisehnt und selbst sozusagen den Verlauf und das Ergebnis beeinflussen möchte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. März 2015
ISBN9783955421397
Eine Mondscheinaffäre

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    koennte mich ueverhaupt nicht mit der Hauptperson identifizieren udn sie stoss mich total ab. konnte das buch nicht zu Ende lesen.

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Eine Mondscheinaffäre - Almuth Link

Almuth Link

Eine Mondscheinaffäre

Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag

© 2002 Frankfurter Societäts-Duckerei GmbH

Satz: Societäts-Druck, Frankfurt

Schutzumschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt

Schutzumschlagabbildung: Bildagentur Mauritius

E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt

ISBN 978-3-95542-139-7

Kapitel 1

D

ie Schaufensterpuppe, die Karla am meisten zu schaffen machte, war ein Mann; dunkle Kunsthaare, Bürstenschnitt, schmales Gesicht, Hornbrille, Lippenbärtchen, verhaltenes Lächeln mit einem Anflug von Spott. Er konnte nur sitzen, der Typ, und das mit übereinandergeschlagenen Beinen und lässig verschränkten Armen. Hätte sie ihm eine Badehose oder Boxershorts anziehen müssen, sie hätte sich nicht beklagt. Aber im Dezember, kurz vor Weihnachten, musste auch der zäheste Stubenhocker einen Skianzug tragen, er gehörte zum Wintergeschäft.

Nervös gab sie dem sperrigen Bein, das sich so salopp über das andere spreizte, einen Tritt. Doch da rührte sich gar nichts. Geduld war angesagt, Geduld und Sympathie, beides notfalls künstlich, aber unbedingte Voraussetzung für eine gute Schaufensterdekoration.

Er hieß Rhoderich, seinen beiden Kollegen hießen Roland und Rolf. So hatte es die Herstellerfirma bestimmt, offenbar gab es für jeden „Wurf" die gleichen Anfangsbuchstaben – und so war es geblieben.

Rolf wurde von den Verkäufern gelegentlich auch „der Windschnittige" genannt, weil er, flach vornüber gebeugt, auf einem Motorrad saß und meist enganliegende Kleidung trug. Auch er war – was das Anziehen betraf – für Karla ein schwieriger Fall.

Nun aber zu Roland, der einfach nur so dastand, aufrecht, einen Fuß etwas nach außen gedreht, ohne Allüren, ohne Angeberpose. Er lächelte freundlich, keine Spur von Anzüglichkeit, hatte dunkelblondes weiches Haar, halblang, in der Mitte gescheitelt, manchmal zu einem Schopf zusammengebunden. Mühelos ließ er sich ankleiden, herumrücken, abstellen, in Lücken einsetzen, kurz, er war ein willenloser Mann, was Karla zum Nachdenken veranlasste; mit ihm kam sie nicht nur am besten zurecht, sondern er flößte ihr sogar Vertrauen ein.

Die Kunststoffmänner im Nachbarfenster hießen Jochen, Jan und Jens. Zu ihnen wie auch zu den künstlichen Damen hatte sie kaum eine persönliche Beziehung. Sie zog sie an und aus, drapierte und steckte an ihnen herum, zauberte aus den Gewändern für schwergewichtige Personen gertenschlanke Kleider, indem sie die Fülle der Stoffe auf dem Rücken versteckte.

Es machte ihr Spaß, das Dekorieren, vor allem jetzt in der Adventszeit. Sie verlor sich fast in Tannenzweigen und Papierblumen, Glitzerbändern, bunten Glühbirnen und Engelshaar, durfte sich austoben, bis endlich die Schaufenster vor weihnachtlicher Atmosphäre fast barsten, natürlich zur vollen Zufriedenheit des Geschäftsführers.

Karla setzte sich hinter Rolfs Motorrad auf einen kleinen Schemel und angelte in ihrer Hosentasche nach den Zigaretten. Die Passanten draußen, die über die Louisenstraße durch den dunklen Spätnachmittag huschten, konnten sie nicht sehen. Sie tat drei tiefe Züge und drückte die Zigarette am Motorrad wieder aus, denn das Rauchen war hier streng verboten. Ein langer Tag ging für sie zu Ende, ein anstrengender Tag; aber es gefiel ihr, dieses neue Leben als Dekorateurin des Kaufhauses Hertie in Bad Homburg.

Zweiundvierzig Jahre war sie alt, Karla Stern, gelernte Buchhändlerin, rotblond, hilfsbereit, verträglich und zu dick. So sah sie sich selbst. Andere fanden sie wohlproportioniert, intelligent, sympathisch und obendrein gut aussehend. Daran jedoch konnte sie sich noch nicht gewöhnen. Denn bis vor kurzem hatte sie sich ausschließlich um ihre beiden großen Kinder gekümmert, Till und Anja, und diese fanden ihre Mutter einfach nur – ja nun, wie denn schon? Sie war halt ihre Mutter. Und eines Tages, als sie mittags vom Einkaufen nach Hause gekommen war, die Kinder nicht vorgefunden hatte, dafür aber deren unabgeräumten Frühstückstisch, da war in ihr binnen weniger Minuten der Entschluss gereift, auf Stellungssuche zu gehen.

Da die Unterhaltszahlungen ihres geschiedenen Mannes recht dürftig ausfielen, würde ihnen auch die zusätzliche Finanzspritze gut tun.

Und nun plötzlich in der „Taunuszeitung" das Stellenangebot für die Bücherabteilung bei Hertie! Sie hatte es entdeckt, sofort angerufen und noch für denselben Nachmittag einen Termin beim Personalchef bekommen. Für das telefonische Protestgeschrei von Till und Anja blieb gar keine Zeit. Was sollte sie anziehen? Eine Nur-Hausfrau ist billig. Sie trägt Jeans und Pullover, im Sommer aus Baumwolle, im Winter aus Wolle. Dazu gibt es ein teures Kleid für die feinen Anlässe, die meist nur in der Fantasie stattfinden. Aus diesem Grunde halten sich solche teuren Kleider ewig, wirken immer neu, adrett und unmodern.

Auch die Handtasche hätte längst einer Auswechslung bedurft; ein schwarzer Ledersack, bananen- und unförmig, dem jeder ansah, dass er auch schon als Einkaufstasche für schwerere Lasten missbraucht worden war.

So ausgerüstet machte sich Karla auf den Weg – sie hatte es von ihrer Elisabethenstraße aus nicht weit – nachdem sie sich gegen die Aufregung zwei harte Schnäpse einverleibt hatte. Und nun saß sie in Herrn Schenks geschmackvoll eingerichtetem Büro vor einem Glastisch und hörte sich an, was der sympathische junge Mann ihr zu sagen hatte. Ihre Konzentration allerdings ließ zu wünschen übrig. Nervös registrierte sie die cremefarbene Raufasertapete, einen sehr schönen Stich vom Bad Homburger Schloss, die sandfarbenen Sessel, den Teppichboden … Erst als er sie nach ihrem Alter fragte, um es zu notieren, wurde ihr so richtig klar, wo sie sich befand und in welcher Angelegenheit. Im nächsten Augenblick hatte sie das Gefühl, vor Hitze platzen zu müssen, der Schweiß brach ihr aus, sie riss sich verzweifelt das Seidentuch vom Hals. Was, um alles in der Welt, hatte sie sich bei dieser Unternehmung nur gedacht? Herr Schenk würde innerlich den Kopf schütteln. Es gab Dreißigjährige, Zwanzigjährige, Kinderlose, Ungebundene, wieso also sollte er ausgerechnet sie nehmen?

Wichtig schien ihr jetzt nur noch, schnell hier herauszukommen, aufrecht zu gehen und einen weiteren Schweißausbruch zu vermeiden. „Ich weiß, ich bin zu alt für den Job", nuschelte sie und angelte nach der Bananenförmigen.

Herr Schenk zog irritiert die Augenbrauen hoch. „Aber wer wird denn so schnell die Flinte ins Korn werfen, junge Frau – habe ich Sie vielleicht abgewiesen? Er beugte sich ein wenig über den Glastisch vor und lächelte sie freundlich an. Der Duft seines Rasierwassers wehte ihr um die Nase, ein angenehmer, herber Duft. „Jetzt trinken Sie mit mir eine Tasse Kaffee und wir sprechen über den Arbeitsvertrag, okay? Er ging zur Tür und bat seine Schreibkraft um zwei Tassen Kaffee, möglichst stark. „Ich selbst kann ihn auch gebrauchen, lachte er, „heute ist wieder der Teufel los, die Vorweihnachtszeit, verstehen Sie?

Sie glaubte, auf Wolken zu schweben. Deshalb ging sie auch endlich ganz unverkrampft auf ihn ein. „Weihnachten und der Teufel? „Ach, der hat doch überall seine Hand im Spiel – oder sagen wir, weil Weihnachten ist, sein Händchen …

Als sie sich nach einer halben Stunde nun wirklich verabschiedete, durchwärmt von einem köstlichen Kirschlikör zum Abschluss, war sie Verkäuferin geworden von Büchern, aber auch von anderen Dingen, denn in einem so großen Betrieb müsse man flexibel sein, notfalls auch mal aushelfen können, wenn ein Dekorateur ausfiele zum Beispiel.

„Das würde mir sogar Spaß machen, hatte sie rasch erklärt und es auch so gemeint. Fester Händedruck, „wer sagt’s denn! Noch ganz benommen tapste sie hinaus, vorbei an der jungen Frau, der sie glücklich mitteilte, sie gehöre jetzt auch hierher. „Einen schönen Tag noch! rief diese ihr nach, „hier kann man echt gut leben!

Sie hatte Arbeit.

Ein Riesenschritt war getan. Alles andere würde sich jetzt auf irgendeine Weise fügen.

Weil der Nachmittag so gut angefangen hatte, wollte sie ihn auf keinen Fall verkommen lassen. Heute war sie noch Kundin in ihrem zukünftigen Revier und demnach Königin. Also überließ sie sich den Rolltreppen, zunächst hoch zur Spielwarenabteilung im dritten Stock. Weil sie sich darauf am meisten gefreut hatte, kam sie als erste dran und verbandelte sich sogleich mit den Erinnerungen an frühere Zeiten, als die Kinder ihr einen Wunschzettel für das Christkind diktiert hatten. Die Kinder klein und süß, die Mutter verliebt in ihrer jungen Ehe – Karla hatte mit zwanzig, mitten in ihrer Ausbildung, geheiratet – das Leben eine schier unermesslich große Strecke Zukunft, teils überblickbar, teils geheimnisvoll vernebelt, in jedem Fall aber eine von der Natur großzügig angelegte Absicherung gegen die Ängste vor dem Alter. Damals ließ man sich auch nicht durch chronischen Geldmangel bedrücken. Man kaufte eben keine elektrische Eisenbahn für Till, sondern nur eine kleine aus Holz, und für Anja den Puppenwagen aus Korbgeflecht, weil der es auch tat.

Heute war sie nur noch Betrachterin, nicht mehr unmittelbar beteiligt an dieser kleinen, verspielten Welt. Vielleicht würde es ja irgendwann einmal Enkelkinder geben …

Eine ältere Verkäuferin geht auf sie zu und schenkt ihr einen blauen Luftballon. „Nicht grübeln, gute Frau, sagt sie freundlich „so ein Luftballon fliegt auch für Sie in den Himmel, wenn Sie es nur wollen, denn wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. „Vielleicht will ich es gar nicht, vielleicht rückt einem der Himmel ohnehin schon zu nah auf den Pelz, wenn man älter ist! „Dachte ich’s mir doch – sie grübelt. Haben Sie Kinder? „Zwei erwachsene, ja, Bub und Mädchen."

Die Frau macht einen zweiten Ballon los, rosafarben, und überreicht ihn ihr. „Für die beiden jungen Leute, ein Weihnachtsgruß des Hauses!" Fast hätte Karla erwidert: Ich gehöre ja jetzt selber zu diesem Haus. Aber sie verschluckt es, um die nette Kollegin nicht zu irritieren.

Langsam wurde sie hungrig. In der zweiten Etage, im Restaurant Café hätte sie warmen Apfelstrudel essen können, mit Vanille-Eis. Es sollte aber ein richtiges Abendessen werden, heute, an ihrem Glückstag. Und da gab es das Restaurant in der Nähe, „Yuen’s China-Restaurant. Langsam schwebte sie die Rolltreppen wieder hinunter. Der Anblick von oben in die glitzernde und kreiselnde Weihnachtsdekoration der nächstunteren Etage ließ sie beinahe schwindelig werden. Dazu die Chöre aus den Lautsprechern, schleifenreich gesungen und vom metallischen Vibrieren der Synthesizer untermalt, ach, es gefiel ihr das alles und sie wollte sich nicht durch Nörgelwörter wie „Konsumterror oder „Sentimentalität die gute Laune verderben lassen. Leise summte sie die Lieder mit, und als ihr unten, am Fuß der Treppe, der Nikolaus des Hauses ein Lebkuchenherz um den Hals hängte mit der Aufschrift „I love you, gab sie ihm einen Kuss auf die weißwattierte Wange, „frohe Weihnachten! Ganz unheilig hielt er ihr sofort auch die andere hin und blickte sie mit blauen Augen schmachtend an. „Das sind ja feine Sitten hier, lachte sie und gab ihm den verlangten Zweitkuss.

„Auch ein Nikolaus ist schließlich nur ein Mann", hörte sie ihn in seinen Bart murmeln, ehe er sich galant zum Abschied verbeugte. Draußen schlug ihr nebligfeuchte Kälte entgegen. Doch in ihrem gesteppten Mantel fühlte sie sich unangreifbar.

Es war einer jener Tage im November, die ihr Dämmerlicht erst gar nicht aufgeben, um nachmittags schon wieder in tiefe Dunkelheit zu versinken. Ein Tag für Leute, die sich gern in gemütliche warme Ecken verkriechen und einen Grog trinken. Sie gehörte zu ihnen. Natürlich musste es nicht unbedingt Grog sein. Der heiße Jasmintee, den sie sich eine Viertelstunde später vom chinesischen Kellner servieren ließ, tat es mindestens ebenso.

Sie saß an einem der Fenstertische ganz für sich allein. Einige Tische waren noch leer zu dieser Zeit. In die gedämpften Gespräche hier und da mischte sich leise, unaufdringliche Musik, auch sie chinesisch. Mit ihren hastig dahinperlenden Tonketten, die keine erkennbaren Melodien ergaben, wirkte sie verwirrend wie eine fremde Sprache.

Ohne Begleitung in einem Lokal. Karla konnte sich nicht entsinnen, jemals allein ausgegangen zu sein. Aber es machte sie nicht traurig, nicht heute. Der neue Job, nach vielen Jahren Hausfrauendasein, gab Anlass genug, sich der blauen Stunde eines warmen Lokals anzuvertrauen, aus dem Fenster zu schauen und die Lichter der Autos, auf der Promenade vom Nebel eingetrübt und schnell wieder verschluckt, vorüberziehen zu lassen. Mehr und mehr gingen die Nebeltropfen in wässrige Schneeflocken über, die sich aus ihrer dunklen Umgebung lösten und wie hauchdünn gewebte Gardinen zu Boden sanken.

Langsam nistete sich der Abend ein, im Lokal wurde es lebendig. Die Gäste, die eintraten, klopften ihre nassen Schuhe ab, rieben sich die Hände. Sie hatten frostige Wangen, und ihre Haare glitzerten weiß.

Karla bestellte eine Frühlingsrolle und ein zweites Kännchen Jasmintee. Beides wurde ihr drei Minuten später gebracht; beim Yuen musste man nie lange warten. Der junge Mann am Nebentisch, der so eifrig auf seine Freundin einredete, erinnerte sie an Till. Hübsch und lebhaft, sehr groß, dunkelhaarig, von sich selbst und der Richtigkeit seiner Argumente überzeugt, dabei aber gutmütig und unbedingt zuverlässig. Till, Bundeswehrsoldat noch für ein paar Monate, ein lieber Kerl, der nach der Scheidung seiner Eltern die Rolle des Familienvaters angenommen und sich dabei eine leichte Überheblichkeit angewöhnt hatte. Seine augenblickliche Freundin? Karla war nie auf dem Laufenden, der stetige Wechsel vollzog sich zu schnell. Er kam selten nach Hause und sehr unregelmäßig. Aber wenn, dann sollte sie da sein, seine Wäsche in Empfang nehmen, seine Berichte anhören, Griesbrei kochen. Die ungewohnte Berufstätigkeit seiner Mutter würde ihm ganz sicher nicht gefallen.

Anja, neunzehn, zwei Jahre jünger als ihr Bruder, studierte Psychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Auch sie würde es zu Hause nun nicht mehr so gemütlich finden und auch am Samstag lieber in ihrem kleinen Dachzimmer in der Eckenheimer Landstraße bleiben.

Zu Weihnachten aber wollten sie beide kommen, den Baum kaufen, den Ständer montieren und für schöne Musik sorgen. Karla freute sich darauf, auch auf den traditionellen Anruf von Wolfgang, ihrem geschiedenen Mann. Elf Jahre waren schon darüber hin gegangen. Nach einer angemessenen Zeit der Funkstille hatte es wieder eine leise Annäherung gegeben, und jetzt sprach man gelegentlich miteinander, vertraut nur, wenn es um die Kinder ging; sonst eher kameradschaftlich und mit der Spur von Ironie, die gern zum Zuge kommt, wenn zwei Menschen sich gegenseitig zu genau kennen. Säße Wolfgang jetzt hier bei ihr im Lokal, so würde er sich für süßsauren Fisch entscheiden – der ist gut fürs Gehirn, verstehst du – würde lustlos in ihm herumstochern, einen starken Kaffee dazu bestellen und sich dann ausschließlich Karlas Frühlingsrolle widmen. Er gehörte zu den Leuten, die einen flackernden Atem bekommen, wenn sie sich für etwas entscheiden müssen, in Schweiß ausbrechen, wenn sie sich endlich entschieden haben, das Ganze in Windeseile als Fehlentscheidung erklären und sich erleichtert dem zuwenden, wofür sich die anderen entschieden haben. Till und Anja wussten ein Lied von gemeinsamen Lokalbesuchen zu singen. Zuerst hielten sie ihre Teller fest, wenn der Vater wieder „diesen schweifenden Blick" bekam und tauschen wollte. Später dann, mit wachsendem Selbstbewusstsein, machten sie ihn bereits während der Bestellung darauf aufmerksam, dass er doch bitte vorher bedenken möchte, worauf er Appetit habe.

Er lernte es nie. Also opferte sich Karla, was zur Folge hatte, dass sie nur selten in den Genuss eines selbst ausgewählten Menüs kam. Erst als sich seine Entscheidungsschwäche auf das Auswahlverfahren zwischen zwei Frauen auswirkte, machte Karla kurzen Prozess und trat zurück.

Sie lächelte und trank noch den Rest ihres duftenden, süßen Jasmintees. Dann blies sie die Kerze aus und winkte einer der netten Yuen-Töchter, um zu zahlen.

Der nächste Weg von hier zu ihrer Wohnung führte eigentlich über die Promenade, ein schöner Weg am Kurpark entlang. Da sie aber noch ein Mal an Hertie vorbeigehen wollte, einfach nur so, steuerte sie die Louisenstraße an.

Gleichmütig lächelten die Schaufensterpuppen vor sich hin, wunderschön eingekleidet, von unsichtbaren Lichtern angestrahlt. „Guten Abend, Kumpels, flüsterte Karla, „wir dienen ein- und demselben Chef, jedenfalls ab morgen früh! Sie nickte ihnen zu, noch unbekannterweise, und zog sich den Schal fester um den Hals. Sie lief über den Kurhausplatz, bog rechts in den Schwedenpfad ein, links dann in ihre geliebte Elisabethenstraße, wo sich ihre Wohnung befand; im dritten Stock, immer noch da, wo sie nach der Scheidung mit den Kindern eingezogen war.

Sechs Parteien fasste das helle Mietshaus.

Dass Frau Kohlenberger von nebenan, seit zehn Jahren dem Klavierspiel und der C-Dur-Sonate von Mozart zugetan, im ersten Satz dieser Sonate stets eine Triole zu viel spielte, wahrscheinlich infolge des Umblätterns, konnte Karla mittlerweile mit Güte belächeln; freilich mit einer Art von Güte, die mehr dem Verstand als dem Herzen zuzuordnen war. Ebenso verhielt es sich mit dem Lächeln. Der freundliche Junggeselle unter ihr ließ sich jeden Morgen um punkt sechs Uhr ein heißes Bad einlaufen. Das Wasserplätschern war sozusagen ihr verlässlicher Wecker. Gegenüber wohnte eine schwerhörige alte Dame, die ihren Fernseher zum Lebensgefährten gemacht hatte, immer hörbar präsent. Dadurch liefen für Karla, wenn sie selbst fernsah, zwei Programme nebeneinander her, die sie jedoch allmählich zu sortieren verstand.

Tortur Nummer eins aber blieb die überflüssige Triole. Mit geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen wartete sie darauf wie auf das Zuschnappen einer Falle. Und sie schnappte zu, es war ein physikalisches Gesetz!

Trotzdem hing sie an ihrer Wohnung, an ihren Mitbewohnern, an dem gemütlichen alten Treppenhaus, den hohen Fenstern, an dem Ausblick auf die gegenüberliegende Häuserzeile, an den Glocken der Erlöserkirche, der Marienkirche, der Gedächtniskirche … Seit zehn Jahren lebte sie hier in ihrer hübsch eingerichteten

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