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Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen
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Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen
eBook308 Seiten4 Stunden

Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen

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Über dieses E-Book

Ein schonungsloser und ehrlicher Roman über eine Frau, die trotz Widrigkeiten ihren Weg geht: Herrmann-Neiße, der aufgrund eines Unfalls kleinwüchsig blieb, stattet seine Protagonistin Paula Bernert mit denselben körperlichen Beeinträchtigungen aus, jedoch wurde Paulas Behinderung durch Schläge ihrer Mutter verursacht. Sie wird hier aber nicht (nur) als Opfer dargestellt, sondern auch als eine durchaus berechnende Frau, die es sehr wohl versteht, die Dinge zu ihrem Vorteil zu nutzen und dabei vor nichts zurückschreckt...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum24. Aug. 2020
ISBN9788726614602
Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen

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    Buchvorschau

    Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen - Max Herrmann-Neisse

    Max Herrmann-Neiße

    Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen

    Saga

    Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 1918, 2020 Max Herrmann-Neiße und SAGA Egmont

    All rights reserved

    ISBN: 9788726614602

    1. Ebook-Auflage, 2020

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

    SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

    – a part of Egmont www.egmont.com

    I

    Dies ist eine Geschichte, die man überall vorlesen kann und soll. Nicht, weil sie gut anzuhören ist und besondre künstlerische Vorzüge besitzt. Sondern weil ihr Inhalt von allgemeinem Interesse sein müßte.

    Stellen Sie sich eine Gasse in einer schlesischen Provinzstadt ums Jahr 1900 vor! Die ärmlichste Gasse, die in so einer behaglichen Mittelstadt möglich war, wo es noch kein Verhungern gab, höchstens die peinliche Verschlagenheit Minderbemittelter, die darauf angewiesen blieb, die offizielle Mildtätigkeit zu umschmeicheln. Schließlich bekam jeder etwas ab. Der Fonds, der für derartige Zwecke zur Verfügung stand, reichte für alle aus. Aber es ging nicht nach der Bedürftigkeit, sondern nach der Würdigkeit.

    Man sah in solchen Gegenden viel Bucklige, die den Rücken vom verkrümmenden Dienern nicht mehr grade bekamen. Das Schlimmste war, daß sich solche Figuren noch bemitleideten. Da war die Bernert-Paula eine andere Person!

    Sie wohnte bei dem alten Krankenhause, das inzwischen geräumt und zu einer Volksküche umgewandelt worden war. Paula Bernert war eine sogenannte Fleckel-Schneiderin: aus abgelegten Resten, Fetzen, Stoffabfällen nähte sie, je nachdem, etwas Verwendbares zusammen. Das eine Mal einen Bettvorleger, das andre Mal ein Tischdeckchen, vielleicht sogar etwas Lustiges für ein Kostümfest. Nicht für einen offiziellen Maskenball, versteht sich, wo die Frau Amtsrichter und die Frau Medizinalrat sich wochenlang vorher überlegten, womit sie Aufsehen erregen könnten, und dann doch immer wieder als Tirolerin und Spanierin kamen. Sondern für die Maurerfête oder das Regiments-Jubiläum der Maschinengewehrabteilung, und die Lubschick-Liesl machte dann wirklich Furore als leibhaftiger Zement oder die Frau vom Sergeanten Pachnicka als Mitrailleuse.

    Die Bernert nahm an diesen Festen natürlich nicht teil, beneidete aber auch ihre Kunden nicht: sie kannte andere, bessere, jedenfalls für sie ersprießlichere Vergnügungen.

    Sie lebte mit ihrer Mutter seit Menschengedenken in diesem Parterre-Zimmer, das früher ein Viktualien-Laden gewesen und dann, nach Vermauerung der Straßentür, zu einem dunklen und unerfreulichen Wohnloch verwandelt worden war. Aber Paula fühlte sich da wohl, denn sie kannte nichts Besseres von Kindheit an, und sie schätzte die Möglichkeit, sofort, ohne Treppensteigen, im Hausflur und auf der Gasse zu sein. Ihre Mutter war Aushilfsschneiderin und gastierte rundum bei den Familien der Stadt je eine Woche oder länger zur Ausbessrung der Garderobe, gegen ein geringes Entgelt und bei freier Verpflegung, so daß Paula an jedem Wochentag fast bis zum Abend ganz für sich allein war. Ihren Vater hatte sie nie gekannt: die Mutter wußte nicht oder wollte nicht mehr wissen, wer von den feinen Herren ihrer Putzmädchenzeit sich da verewigt hatte. Auch andere Verwandten, Tanten oder Onkel, gab es nicht: Mutter war in jungen Jahren Waise geworden, aus dem Heimatdorfe nach der Stadt gezogen und für ihre Sippe ein für allemal verschollen.

    Wenn die Mutter zur Arbeit ging, hatte sie die kleine Paula in der Wohnung eingeschlossen. So war einst das Malheur geschehen. Ein Hausierer hatte angeklopft und vor der versperrten Tür die Litanei seines Warenkataloges heruntergebetet. Es klang wie die seltsam gemurmelte Beschwörung einer Zauberformel. Das Kind drinnen verging vor Angst, alle Märchenschrecknisse von Menschenfressern und bösen Geistern fielen ihm ein, und die Furcht verlieh ihm die außergewöhnliche Kraft, sich hochzurecken und den schweren Riegel vorzuschieben. Als die Mutter zurückkehrte, war die Tür nicht aufzubekommen. Die Frau konnte sich das gar nicht erklären, stemmte sich dagegen, hämmerte mit den Fäusten ans Holz, rief nach Paula. Das Kind drinnen ahnte, daß es etwas Unrechtes getan hätte, und schwieg hartnäckig. Da bekam es die Mutter mit der Angst zu tun. Ihr Gezeter lockte die Nachbarn herbei. Ein Haufen Weiber und Halbwüchsiger schnatterte bald um sie herum mit allerlei schlimmen Befürchtungen und törichten Ratschlägen. Schließlich öffnete ein Schlosser die versperrte Wohnung. Alles löste sich in Wohlgefallen auf. In angeregter Heiterkeit über den kuriosen Zwischenfall verlief sich die Schar der Hausgenossen.

    Die alte Bernert raste. Lächerlich gemacht worden war sie vor den Nachbarn und hatte die unnütze Ausgabe an den Schlosser zu bezahlen. Sie riß das Kind an den Haaren und gab ihm ein paar Ohrfeigen. Das war zuerst nur ihre Art, die ausgestandene Angst loszuwerden und sich für sie zu entschädigen. Als das Mädchen aber auf alle Fragen nach einem Grund für das Türversperren weiter schwieg, witterte die Mutter eine ganz verstockte Bosheit, die gleich im Anfang gründlich ausgetrieben werden müßte, und schlug hemmungslos auf das Kind ein. Ein Hieb traf so unglücklich, daß Paula zu Boden stürzte. Von da an hatte sie ihren Körperschaden und die völlige Fremdheit dieser Frau gegenüber, die sich ihre Mutter nannte. Es war kein Haß, sondern eine große, unüberbrückbare Gleichgültigkeit. Und frühzeitig entdeckte das Mädchen das Glück der Vereinsamung und lebte neben der Mutter, als sei sie garnicht vorhanden, sein eigenes Leben.

    Die andern Kinder der Gasse ließen die verkrüppelte Kleine in Ruh. Die meisten von ihnen hatten ihre leichteren oder schwereren Betriebsunfälle hinter sich: der Schmied, der Quartalssäufer, pflegte seine beiden Knaben als Fangball zu benutzen, wenn er nachts im Rausch heimkam; natürlich krochen sie nun mit verbogenen Gliedmaßen herum. Der Sohn des Flickschusters war überfahren worden und humpelte mit einem Holzbein. Der Tochter des Zeitungsausträgers Kramer war durch eine Brandwunde die linke Gesichtshälfte entstellt. Und für ästhetische Bewertung hatte man in diesem Lebensbezirk sowieso weder Zeit noch Sinn.

    Überdies kam Paula nur mit wenigen und desto seltsameren Kindern ihres Alters zusammen. Denn am späten Abend erst pflegte die Mutter heimzukehren und nach überstandner Mahlzeit und Tellerwäscherei die Tochter endlich für eine halbe Stunde auf die Gasse zu lassen. Dort trieben sich dann nur noch allerlei vernachlässigte, verwahrloste, elternlose Geschöpfe herum oder solche, die sich mit ihrem auffälligen Gebresten erst bei völliger Dunkelheit ins Freie wagten. Diese Kinder hatten weder die sinnlose Fröhlichkeit der normalen, noch den verspielten Ernst, der die einträgliche Wichtigtuerei der Großen so grotesk nachahmt. Sie lachten über wirklich Lächerliches und schätzten Respektables demgemäß ein. Wurde der Klor-Karle, weil er betrunken ist und vor allem weil kein Pfennig mehr aus seinen Taschen fällt, auch wenn man ihn auf den Kopf stellt, aus dem Kaffeeschank herausgeworfen, liegt er dann im Rinnstein und bellt ohnmächtige Flüche gegen die geschlossenen Fensterläden, so verzieht sich keine Miene zu schadenfrohem Grinsen. Aber drückt sich der Stadtrat Meisel, der bekannte Meisel, der den Brunnen im Cecilienpark stiftete, die Speisung für arme Wöchnerinnen und die Instrumente für die chirurgische Abteilung des Städtischen Krankenhauses, an der Mauer entlang und will unauffällig in der Nummer 24 verschwinden, so fangen die Bälger höhnisch zu brüllen an, ohne daß sie recht wissen, welcher Art Vergnügen oder Geschäft Herr Meisel dort nachgeht. Oder der Olbrichkutscher war eines Abends unerwartet zeitig von der Bierausfahrerei auf die Dörfer zurückgekehrt und hatte sein Weib bei Unerwünschtem erwischt, nun trug er sie wie ein Paket die Treppe herunter und vertobakte ihr den nackten Hintern, indes schreckensbleich der Primaner Hanke über den Hof flüchtete. Ohne Schadenfreude und Entrüstung fand die Schar der Satansrangen dies alles in Ordnung. Die Armenpflegerin, Frau Brauereidirektor Schick, pflegte zu sagen, die Kinder dieser Gasse sähen in ihrem Leben leider Gottes nicht viel Gescheites. Fest steht, daß sie das Gesehene recht originell aufzunehmen verstanden. Und Paula Bernert bezog von hier die Anfangsgründe ihrer Weltanschauung.

    II

    Eines Morgens wurde Paula von ihrer Mutter besonders adrett hergerichtet und dann zur Schule gebracht. Die alte Bernert, die rechtzeitig an ihre Arbeitsstelle zu kommen trachtete, überließ das Kind, nach einigen Ermahnungen zu Folgsamkeit und artigem Betragen, bald sich selber. Paula war froh, daß sie endlich allein war. Sie fühlte sich erhaben über all den Muttersöhnchen und -töchterchen, die immer noch von ihren Gluckhennen behütet bänglich der Dinge harrten, die da kommen sollten. Manche heulten sogar und manche versuchten, auszureißen. Schließlich erschien ein bebrillter Mann, der zu einigen Erwachsenen viel zu demütig tat, doch allmählich die Elternschaft herauskomplimentierte, und nun war jedes Kind auf sich selbst und das, was es aus sich zu machen verstand, angewiesen. Daß ein paar Kinder schöne bunte Tüten mit Naschwerk geschenkt bekamen, das machte die Empfänger vor Paulas unerbittlicher Meinung nur minderwertig: daß sie sich nicht schämten, in so plumper Weise bevorzugt zu werden! Neben Paula saß ein schiefschultriger Junge, rothaarig, sommersprossig, mit hängender Unterlippe und zu großen Ohren, in lasterhaft saubrem Matrosenanzug. Er hatte eine besonders leckre Tüte erhalten und bot nun mit schüchterner, linkischer Höflichkeit seiner Banknachbarin daraus an. Paula ekelte sich vor ihm. Sie empfand es als eine besondre Unverschämtheit, daß der gepflegte Krüppel sich ihr gleichzusetzen wagte, riß ihm die ganze Tüte aus der Hand, warf sie auf den Boden und trampelte drauf herum. Der Knabe, der sowieso leicht zum Weinen zu bringen war, schluchzte hysterisch drauf los, verzweifelte an der Welt (und wurde später Lyriker, indem er, gleich Paula, nur auf andre Weise, aus seiner Körpernot eine Spezialität machte). Der Lehrer Timpel aber, wie die meisten Lehrer unfähig, den Sonderfall so oder so zu verstehen, hielt Paula eine lange Strafpredigt mit der kategorischen Moralvorschrift, daß man niemals einem andren sein Besitztum neiden oder gar entwenden dürfe. Dann fragte er sie nach ihren Eltern und schüttelte über den betrüblichen Bescheid bedeutsam den Kopf. Von da ab galt sie ihm als ein verwildertes, schwererziehbares Kind, mit dem bei Besichtigungen kein Staat zu machen wäre und mit dem es immer nur Verdrießlichkeit geben würde. Auch bei den andern Schulkindern hatte sie sich mit diesem Skandal schlecht eingeführt. Sie verübelten es ihr sehr, daß sie die köstlichen Süßigkeiten mit ihren schmutzigen Schuhen unbrauchbar gemacht hatte und versahen sich von ihrer gehässigen Mißgunst auch für die Zukunft nichts Gutes. Geselligkeit lag ihr ohnehin nicht. Da sie meist allein gewesen war und es abends in ihrer Gasse gewissermaßen mit Ausnahmefällen zu tun gehabt hatte, war sie den Umgang mit dieser Bande normaler Rangen nicht gewohnt. Gemeinsame Spiele, wie sie in der Schulpause gepflogen wurden, langweilten sie; es kam ihr läppisch vor, immer wieder mit stupider Begeisterung zu deklamieren: »Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann? Ich nicht!« oder »Es schlägt eins, er kommt nicht, es schlägt zwei, er kommt nicht . . .«, Spielregeln sklavisch zu befolgen und eine simple Annahme ernsthaft für längere Zeit zu ästimieren. So klar war sie sich natürlich über diese Dinge nicht, aber gefühlsmäßig widerstrebte sie ihnen. Früher hätte man gesagt: das Kind Paula Bernert ist eine rebellische Natur. Heut heißt es: ein unkollektives Geschöpf – auf alle Fälle ist so ein Wesen jeder Art Masse unangenehm, weil für ihre Zwecke nicht zu gebrauchen. Die Masse merkt das auch sofort: hier ist ein Stück, das will nicht so, wie wir wollen müssen. Dann ist jedes Mittel gegen das unbotmäßige Mitglied recht, und Kinder sind ja noch weniger wählerisch und fein als die Hammel einer parolefrommen Erwachsenen-Herde. Paula trieb es auch wirklich verwerflich, fing mitten im Spiel an, mit ihrer Nachbarin zu plauschen, oder, wenn sie ihrem Partner den Ball zurückwerfen sollte, sah sie einen Vogel auf der Hofmauer sitzen, der reizte sie so, daß sie den Ball in diese Richtung feuern mußte – ja, auch sie war ein Aas, aber ein sehr eigenwilliges, individualistisches! Kinder wählen noch hemmungsloser als Erwachsene die billigste Art, einen Gegner lächerlich zu machen und zu verunglimpfen. Paulas Mitschüler also, gepflegt und wohlgewachsen, hielten sich an das körperliche und gesellschaftliche Manko der Bernerttochter, schimpften sie »Puckelpaula« und wurden in Bosheit schöpferisch mit dem Spruch: »Die Bernert ist ein Tausendsassa, sie hat einen Puckel und keinen Papa!« Paula wurde dadurch in ihrer Menschenablehnung bestärkt, die der Vorfall mit der Mutter gefestigt hatte. Sie war fast froh, daß die Ereignisse ihrer ersten Vermutung so sehr recht gaben, und zog sich wieder ohne Groll in sich selbst zurück.

    Nun fing sie zu lesen an. Nicht nur das von der Schule Gewünschte und Genehmigte. Sie mißtraute diesem Institut in jeder Beziehung. An jedem Sonnabend bekam man ein Buch aus der Schülerbibliothek, das eine Woche später gut erhalten, ohne Tinten- und Fettflecke an den nächsten im Alphabet weitergegeben werden sollte. Paula sah sich die Titel an: »Edelinde«, »Deutsche Jugend«, »Aus Tagen der Not«, »Das kleine Dummerle«, malte der Heldenjungfrau auf der farbigen Einlage einen Tintenschnurrbart, machte in die Seiten 66 bis 70 große Eselsohren und lieferte den Schmöker ungelesen ab. Dafür wußte sie sich unabhängige Lektüre zu verschaffen.

    Ihre Mutter schneiderte damals grade beim Veterinär Pickert. Dieser Pickert, der eine besondere Erzählung verdiente, war der Freund des berühmten Schriftstellers, der zufällig in der gleichen Stadt wohnte. Berühmte Männer haben meist subalterne Freunde, weil die ihr geistiges Überlegenheitsgefühl nicht in Frage stellen und ihnen am wenigsten widersprechen. Pikkert war auch mit der Elendsgasse verbunden: er hatte sich mit der minderjährigen Tochter des Straßenkehrers Budich soweit eingelassen, daß er sie heiraten mußte – nachher dichtete er sich freilich die erzwungene Mesalliance in ein absichtliches Abenteuer um. Wenn die alte Bernert nun bei Pickerts schneiderte, verfiel die Frau Veterinär bald in den Jargon der Gasse. Paula wurde, sobald sie frei war, dahin mitgenommen, um die Anfangsgründe der Schneiderei zu erlernen, mit kleinen Handreichungen auszuhelfen und zu einer Gratis-Vesper zu gelangen. Sie fühlte sich auch ganz wie zu Hause, hörte sie von den beiden Weibern den ihr geläufigen Gassentratsch. In den Regalen lockte Herrn Pickerts Bibliothek, die vorwiegend aus den abgelegten Rezensionsexemplaren des berühmten Schriftstellers bestand, und Paula nahm aufs Gratewohl bei passender Gelegenheit irgendein Buch zu heimlicher Lektüre mit nach Haus. Da tat sich ihr eine andre Welt auf; aber wo die wohl gelegen sein mochte, wurde ihr nicht klar. Ein Mensch männlichen Geschlechts warb um ein Wesen weiblichen Geschlechts, das war eine schwierige Sache; manchem freilich glückte es, er heiratete, und dann begaben sich Possen von seltsamer Pikanterie. Oder Damen führten ohne Heirat ein teils verachtetes, teils beneidetes Lasterleben, dessen jähes Ende mit Schrecken ebenso unbegreiflich blieb wie, was vorher daran so vergnüglich gewesen war.

    Paula sah sich in ihrer Gasse um und fand, daß auch diese Dinge in Wirklichkeit handfester und eindeutiger geschahen. An den Bretterverschlag der Geflügelhändlerin hatten unnütze Hände gewisse primitive Inschriften und Zeichnungen angebracht. Mittags klebten im Hofe zwei Hunde aneinander, man grinste, machte seine Bemerkungen dazu, bis die alte Gallus mit einem Kübel Wasser kam. Vor dem Kaffeeschank standen Soldaten, schnalzten mit der Zunge und formten mit den Fingern eine nicht mißzuverstehende Geste nach den Mädeln, die im Fenster lagen, und abends drückte sich in den Torwegen allerlei Gepaartes, das keine andre Gelegenheit hatte, japsend aneinander. Und von den Kindern schliefen die meisten mit Eltern, Geschwistern, Kostgängern in ein und derselben Stube und konnten sehr aufgeklärt erbauliche Einzelheiten berichten. Paula war in dem Alter, es verständnisinnig zu genießen.

    III

    Bald nahm sie auch praktisch daran teil. In diesem Stadtbezirk war man beizeiten mit von der Partie, schloß Unansehnlichkeit gottlob nicht vom allgemeinen Vergnügen aus. Paulas Bereitschaft drückte sich unwillkürlich in einem Blick aus, den man unverschämt zu schimpfen pflegt. Der erste, der ihn verstand, war der Militärmusiker Kusche, der im ersten Stock desselben Hauses bei der Witwe Finger logierte. Ihn reizte junges Gemüse, der kleine Körperfehler in dem Teil oberhalb des Gürtels kam dagegen nicht in Betracht. Man begegnete sich auf der dunklen Treppe, sie ließ sich in den Winkel drücken und erlaubte den Händen alles mögliche. Und einmal war seine Wirtin ausgegangen, er drängte Paula in sein Zimmer – nachher mußte sie sich gestehen, daß sie keinen Spaß dran gehabt hatte. Aber vielleicht lag es an dem ungeeigneten Partner.

    Eine Art Respektsperson war in der Gasse der Herr Schuhmachermeister Hanke. Er hatte dort ein geräumiges Haus billig erworben, im Parterre sein Warenlager verstaut, im ersten Stock sich und seine Familie einquartiert – der Laden befand sich am belebteren Marktplatz. Natürlich machte man sich mit dem Gassenvolk nicht gemein, ging ins Geschäft, kam aus dem Geschäft, ohne viel nach rechts und links zu sehen, schloß das Haustor auf, riegelte es ab, war in seinen eigenen vier Wänden, dem saubren Heim des Handwerkers, der es zu etwas gebracht hatte. Da gab es einen Sohn, der nur Josef heißen konnte, aufgezogen in der Zucht und Ordnung eines christkatholischen Hauses, dennoch etwas aus der Art geschlagen, unbefangen, ohne Arg. Seine Eltern hatten vorher in Mährengasse gewohnt, dem eng benachbarten Dorfe, das allmählich zum Rang einer Vorstadt aufgerückt war. Als man jetzt hierher umzog, orientierte Josef, vierzehnjährig, sich in dem neuen Milieu – die alten Hankes hatten mit der Räumerei zu tun und achteten ausnahmsweise einmal nicht so streng auf ihn. Selbstverständlich umstand ein Kreis Neugieriger den Umzug, begutachtete, bewunderte oder bespöttelte die einzelnen Möbelstücke – das war hier ebenso gut ein Ereignis wie das Gegenteil, wenn eine Familie, die den Mietzins nicht zahlen konnte, auf die Straße gesetzt wurde. Mit ländlicher Verlegenheit lehnte der stramme Junge dabei an der Mauer des Hauses. Da erspähte ihn die Bernert-Paula, erfaßte instinktiv seine dämliche Besonderheit, Hilflosigkeit, Unverbrauchtheit, schob sich neben ihn, redete ihn an. War die erste, die ihn in dieser neuen Welt menschlich begrüßte und also auf dem ungewohnten Boden heimisch machte, veranstaltete mit ihm und der übrigen Jungmannschaft der Gasse Pfänderspiele, in deren Verlauf es ihr gelang, den wirklich keuschen Josef mehrfach zu verfänglichen Küssen zu veranlassen, tat, als ob sie fiele, griff ihm hierhin und dorthin. Er, an derlei nicht gewohnt, kicherte, quiekte, zappelte vor Lust, hätte vielleicht auch etwas gewagt, da kam sein Vater, der Umzug war beendet, der Sohn wurde ins Haus gerufen und folgte sofort, ohne sich von seinen Spielgefährten zu verabschieden. Die fingen nun an, auf ihn zu schimpfen, aber zu ihrer Verwunderung nahm Paula ihn in Schutz. Ihr gefiel Josefs Unterwürfigkeit und sie versprach sich das Beste von ihr.

    Haukes versuchten dafür zu sorgen, daß ihr Sohn der Gassenjugend fernblieb. Sein Stundenplan war geregelt und überwacht, Schularbeiten, Aushelfen im Geschäft, Spaziergang im Stadtpark mit der Mutter. Desto brennender reizte ihn die verbotene Welt, und natürlich fanden sich Schleichwege, zu ihr zu gelangen. Eines Nachmittags sollte er mit seinem kleinen Bruder, dem vierjährigen Gustel, zum Kinderspielplatz der Flußpromenade gehen. Darüber war er sowieso empört, weil dieser Auftrag ihm unter seiner Schülerwürde schien und mehr als peinlich dünkte. Und während seine Mutter glaubte, er sei durch das verantwortungsvolle Aufsichtsamt genügend gebunden, nahm es ihn von vornherein gegen seinen Schutzbefohlenen ein. Gustel wurde ziemlich hart angefaßt, auf einen Sandhaufen geprellt: »Hier bäckst du Kuchen und rührst dich nicht vom Flecke, bis ich dich abhole!« und fort war Josef.

    Mit Paula traf er sich auf dem Wagenplatz, wo die Geschäftsleute, die über keinen geräumigen Hof oder keinen Schuppen verfügten, ihre Fahrzeuge mietweise aufstellen durften. War man geschickt, gelang es einem, unbemerkt in den Planwagen der Hübnerbrauerei zu kriechen, und war man erst einmal drinnen, so hatte alles keine Schrecken und Bedenken mehr. Josef genoß die süße Sünde, froh, ihr nicht ins Auge schaun zu müssen, und Paula war es lieb, daß er im Dunkel der Wagenhöhle nicht durch ihren Körpermakel irritiert werden konnte.

    Plötzlich ist draußen Tumult, Geschrei, Durcheinander und deutlich der Ruf »Josef« vernehmbar. Paula hört es zuerst, säubert sich von Wagenstaub und Stroh, schlüpft hinaus, während Josef noch in seliger Benommenheit liegt und sich aus Rückerinnerung und Gewissensbissen ein wollüstiges Gespinst macht. Draußen erfährt sie aus dem Lamento des Gassenklatsches, daß der Hanke-Gustel in die Neiße gefallen und ertrunken sei. Sie rast den kurzen Weg zur Promenade hinüber, schon fährt der Aufseher der Badeanstalt im Kahn und sucht mit einer Stange nach dem Leichnam. Am Ufer rennt die Frau Hanke, die sonst immer so aufreizend adrett aussieht und so unnahbar tut, zerrupft und schlampig, wie ein irres Huhn, auf und ab und wendet sich in klagendem und anklagendem Gejammer an die Volksmenge, die neugierig und wenig gerührt herumlungert. Manche nehmen sogar gegen die Schuhmacherfrau Partei: »Hätte der Geizkragen sich doch ein Kindermädchen gehalten!, hätte die Gnädige sich doch selber um ihren Jüngsten gekümmert!« Und auf einmal kommt das Gerücht auf, auch der andre Sohn, Josef, wäre ertrunken, als er sein Brüderchen zu retten versuchte.

    Paula muß grinsen, sie rennt zum Wagen zurück und versucht, ihrem Liebhaber in sachlicher Form das Vorgefallene beizubringen. Da brüllt er häßlich auf, schlägt ihr ins Gesicht, stürmt hinaus.

    Sie kamen nie mehr wieder zusammen. Josef jagte nach Haus, war auf bitterste Vorwürfe, Schläge, Verstoßung gefaßt, wollte das Ärgste auf sich nehmen, seine Schuld zu sühnen. Man empfing ihn als verloren geglaubten Sohn, alles ging unter in dem Glück, daß dieses Kind ihnen doch noch geblieben war, er wurde selbst noch getröstet und gehätschelt, und als er das begriff, machte er seinem katholischen Gotte zum Danke ein Gelöbnis und sagte für immer der teuflischen Paula ab, dem Gassenluder, das ihn zum Mörder gemacht hätte. Später studierte er Theologie, kniete sich mit dem ganzen Fanatismus, den keinerlei Anfechtung mehr ablenkte, in sein Fach, wurde ein berühmter Kanzelredner, schließlich eine Leuchte des rechten Flügels der Zentrumspartei, ein unerbittlicher Befürworter strengster Sittengesetze. Er ahnte nicht, daß die unbeträchtliche Fleckel-Schneiderin Paula Bernert in der schlesischen Provinzstadt seine rigorosen Reichstagsreden mit hemmungslosem Triumph las und sieghaft zynisch dabei trällerte: »Frau Wirtin hat auch ’nen Kaplan . . .«

    Denn auch sie hatte sich inzwischen stilgemäß weiterentwikkelt. In der Schule war sie für den jeweiligen Lehrer das räudige Schaf geblieben; ihren perversen Reiz und das verständnisinnig zwinkernde Werben sah so ein Amtstrottel nicht, und hätte er etwas davon bemerkt, wäre eine ebenso hochnotpeinliche wie plumpe, völlig ahnungslose und überflüssige Affaire mit abgestempelter Entrüstung und Protokollierung daraus geworden.

    Aber mit der andern Jugend kam Paula nach und nach ganz gut aus. Zuerst natürlich mit den Knaben, denen sie sich mit allerlei kleinen Diensten unentbehrlich machte. Auch rief sie in ihnen, ohne daß sie diese Neigung sich hätten genau erklären können, eine seltsame Erregung hervor, die als prickelnd verboten empfunden wurde. Und da Paula wegen ihres Gebrechens für den rohen Blick nichts Mädchenschönes hatte, bei jeder jungenhaften Ruppigkeit ungeniert mittat, garnicht zimperlich war, vor nichts zurückschreckte, was schmuddlig machte, Kleider zerriß, Hände und Gesicht verschmierte, galt sie bald als gleichberechtigter Kumpan der Flegelrotte, und keiner der Jungens, der Paula bei Spiel und Lausbüberei nahe war, konnte je in die peinliche Lage geraten, mit dem Schmähruf »Mädelhengst! Mädelhengst!« als verweichlicht bemakelt zu werden. Freilich machte Paula sich anfangs dadurch bei den Mädchen mißliebig, aber bald wußte sie sich auch deren Wohlwollen

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