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Fairytale gone Bad 2: Der Flug der Krähen
Fairytale gone Bad 2: Der Flug der Krähen
Fairytale gone Bad 2: Der Flug der Krähen
eBook250 Seiten3 Stunden

Fairytale gone Bad 2: Der Flug der Krähen

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Über dieses E-Book

Mit sieben älteren Brüdern sind die Aussichten der jungen Theresa auf gesellschaftlichen Aufstieg verschwindend gering. Doch sich mit einem Leben voller Mühe und ohne Selbstbestimmung abzufinden, kommt für sie absolut nicht infrage! Entweder wird Theresa eines Tages feine Kleider tragen und mehr als eine kleine Kammer zur Verfügung haben, oder den Ausweg nutzen, den ein Sprung in den Fluss ihr bietet.
Als sie Mächte entdeckt, die so gefährlich wie verboten sind, glaubt sie einen Weg gefunden zu haben, ihre Brüder loszuwerden und ihre Wünsche zu erfüllen.
Doch alles hat einen Preis und für ein Leben im Reichtum ist dies möglicherweise der Wahnsinn …
Bekannte Märchen auf eine ganz neue Art nacherzählt - nichts für kleine Kinder! Die Gebrüder Grimm würden im Grab rotieren ...

In der Reihe FAIRYTALE GONE BAD erscheinen:
1: Die Nacht der Blumen - von Michaela Harich
2: Der Flug der Krähen - von Stephanie Kempin
3: Das Zeitalter der Kröte - von Faye Hell
4: Die Schwefelbraut - von M. H. Steinmetz
SpracheDeutsch
HerausgeberAmrûn Verlag
Erscheinungsdatum18. Okt. 2019
ISBN9783958693869
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    Buchvorschau

    Fairytale gone Bad 2 - Stephanie Kempin

    v1/19

    Prolog

    Das kleine Mädchen hob einen Stein und warf ihn nach der Krähe. Es verfehlte den schwarzen Vogel, der den Kopf zur Seite neigte und es aus den unergründlichen, tiefdunklen Augen wissend anzuschauen schien. Viel zu wissend für ein Tier. Unsicher verzog das kleine Mädchen das Gesicht. Sollte es nach der Mutter rufen, die mit der Köchin das Abendessen besprach? Die Kinderhand tastete durch das kurze Gras, das von der Sommersonne schon recht mitgenommen war. Doch es fand keinen weiteren Stein, den es nach dem Vogel hätte werfen können. Als würde die Krähe das genau wissen, machte sie einen fast schon spielerischen Hüpfer zur Seite und schüttelte ihr Gefieder. Der Vogel schien sich sicher zu fühlen und das ärgerte das kleine Mädchen. Denn sie fühlte sich, eben weil dieser Vogel dort durch das Gras hüpfte und stolzierte, nicht sicher. Auch wenn das Kind die Empfindungen noch nicht benennen konnte, die sich jagten, verursachten sie einen Aufruhr in seinem Inneren. Später sollte das kleine Mädchen lernen, dass es Wut empfand, Hilflosigkeit und Neid. Doch in diesem Moment, auf der Decke im Garten seiner Eltern, mit diesem ungebetenen Gast, hatte es keine Namen für all das.

    Die Krähe hüpfte wieder ein Stück näher und zumindest das Gefühl, dass sich jetzt einstellte, konnte das Mädchen benennen: Angst. Angst vor diesem schwarzen Vogel, der sich einen Dreck darum scherte, dass es ihn hier nicht haben wollte.

    »Geh weg!«, wollte es die Krähe anbrüllen, doch es kam nur als leise Bitte heraus, statt als Furcht einflößender Befehl.

    Der schwarze Vogel musterte das Kind, als würde er wissen, was durch den kleinen Kopf ging.

    Weil das Unbehagen des kleinen Mädchens ins Unermessliche stieg, warf das Kind schließlich den einzigen Gegenstand, dessen es noch habhaft werden konnte: Den Rest des Brotkantens, auf dem es herumgekaut hatte. Die Mutter hatte ihm das Brot gegeben, damit es bis zum Mittagessen keinen Hunger bekommen würde. Ganz frisch gebackenes Brot.

    »Geh weg!«, wiederholte das Kind und warf das Brot nach der Krähe. Der Vogel wich ihm aus, sprang dann so schnell darauf zu, dass das Mädchen erschrak. Vor Schreck begann es nun doch zu weinen.

    Die Krähe nahm das Brot in den Schnabel und flog davon. Als ihr Schatten auf das Mädchen fiel, duckte es sich unwillkürlich.

    Ein weiterer Schatten fiel über die Kleine, dieses Mal der Schatten eines Menschen. In der Hoffnung, es wäre die Mutter, wandte das Kind den Kopf. Doch es war nicht die Mutter, sondern die Großmutter, milden Tadel im Blick. Die ältere Frau ging neben dem kleinen Mädchen in die Hocke.

    »Wann wirst du es lernen, Thea? Wann wirst du lernen, dass eine Krähe nicht immer eine Krähe ist?«

    Kapitel eins

    Stille war ein seltenes Gut im Haus der Familie Krämer. Bei insgesamt acht Kindern, von denen sich immer mindestens zwei stritten, herrschte stets ein gewisser Pegel an Lachen, Gezänk – kurz, irgendeine Form von Lärm. Mit dem Lärm wuchs Thea auf und kannte es nicht anders, doch er störte sie, als sie alt genug war, um Rechnen und Schreiben zu lernen. Von ihren Brüdern waren nur zwei richtig an dem interessiert, was ihnen der Lehrer Schmidt in ein paar unregelmäßigen Stunden in der Woche beibrachte. Und die Jüngsten waren noch zu klein. Thea war das einzige Mädchen und diejenige, die sich am sorgfältigsten den Schulsachen widmete. Ihre Brüder waren größtenteils davon überzeugt, dass sie alles, was sie wirklich wissen mussten, schon bei der Arbeit lernten. Denn schließlich würden sie alle ihrem Vater und ihrem Onkel zur Hand gehen, wenn sie alt genug waren. Friedrich und Heinrich, die beiden Ältesten, hatten schon damit begonnen. Friedrich sollte in der Weberei zur rechten Hand von Vater werden und Heinrich half in der Schneiderei von Onkel Gottlieb. Dort würde er wahrscheinlich nicht bleiben, weil ihr Onkel selbst Söhne hatte, aber es war ein Anfang. Alle ihre Brüder würden schließlich irgendwo in die Lehre gehen. Das war schon lange festgelegt. Nur Thea hatte noch keine Ahnung, was sie tun sollte, wenn sie älter war.

    Wobei das nicht so ganz stimmte. Sie hatte sehr viele Vorstellungen, was sie tun wollte. Zunächst einmal wollte sie verstehen. Tagtäglich sah sie die verschiedensten Gerätschaften da draußen: Kutschen, die mit Dampf fuhren statt mit Pferden. Kleinere Lastenwägelchen, die die Lieferjungen nur noch lenken, aber nicht mehr ziehen mussten, weil auch hier eine dampfbetriebene Mechanik drinsteckte. Je älter Thea wurde, desto mehr solcher Sachen sah man auf den Straßen. Einer der Puppenspieler auf dem Markt hatte sogar einen Drachen, der sich bewegte und Dampf aus den Nüstern stieß. Und an einem Marktstand verkaufte eine junge Frau kleine Geräte, die ihr Vater baute. Spielereien, doch sie bewegten sich, fächerten ihre Flügel auf und wieder zusammen, sprachen davon, dass die Welt voll war mit Sachen, die es zu entdecken gab.

    Thea war ein neugieriges Kind. Sie wollte nicht nur zusehen, sie wollte wissen, wie all das funktionierte. Wenn sie fleißig lernte und schnell groß wurde, dann würde sie den Dingen auf den Grund gehen können, oder nicht? Vielleicht würde sie sogar selbst etwas Neues erfinden oder sie könnte wenigstens in ein eigenes Haus ziehen und tun und lassen, was sie wollte. Tatendrang köchelte in ihr, der Wille, auf Entdeckungsreise zu gehen und eine Ahnung von … mehr. Sie würde dieses Mehr genau erforschen, wenn sie endlich groß war und ihr Leben richtig angefangen hatte.

    Vor der Tür zu ihrem kleinen Zimmer, in das gerade so ihr Bett und eine Truhe passten, stritten sich die beiden Jüngsten, Gustav und August, um irgendetwas. Eine Weile versuchte Thea, es zu ignorieren, doch sie konnte kaum einen Buchstaben auf die Tafel bringen, solange sich die beiden dort draußen ankeiften.

    Schließlich streckte sie also den Kopf zur Tür hinaus und drohte ihnen, es ihrer Mutter zu sagen, wenn sie keine Ruhe gaben. Gustav nannte sie eine Petze. Thea wurde böse und schimpfte ihn einen faulen Hund, weil er nichts lernen wollte. Das war vielleicht nicht ganz in Ordnung, er war erst fünf. Aber er sagte bei jeder Gelegenheit, dass er nicht mit in die Schule gehen würde, wenn er dann schließlich musste. Er versuchte, sie an den Haaren zu ziehen, passte einen Moment nicht auf den kleinen Kreisel auf, den er in der Hand hielt. Thea nutzte die Gelegenheit, tauchte unter seinem ausgestreckten Arm durch, nahm ihm das Spielzeug ab und rannte davon.

    Nur, wohin? Das Hausmädchen würde ihr nicht helfen, die Köchin auch nicht. Ihr fiel nur ein Ort ein, an dem sie sicher wäre, also lief sie schneller. Ihre Brüder brüllten ihr hinterher, sie sollte stehen bleiben und sie wäre nicht nur eine Petze, sondern auch ein feiges Huhn obendrein.

    Die Tür zum Salon schien Thea wie ein rettendes Leuchtfeuer. Noch einmal sammelte sie ihre Kräfte, beschleunigte ihre Schritte. Inständig wünschte sie sich, die Tür wäre bereits offen, sonst würde sie kostbare Sekunden verlieren und ihre Brüder würden sie einholen. Als hätte die Tür ihre stumme Bitte gehört, schwang sie auf.

    Gustav und August erreichten sie in dem Moment, als sie über die Schwelle sprang, und so stolperten sie zu dritt in den Raum. Der Salon war das Glanzstück des Hauses, mit stets ordentlich polierten Möbeln, den besten Teppichen, die sie hatten und Vorhängen aus dicken, verzierten Stoffen. Der Ort, an dem man Gäste empfing.

    »Was soll das?«, rief ihre Mutter und stand von ihrem Stuhl auf. Ihr schmales Gesicht hatte einen strengen Ausdruck angenommen, während sie ihre Kinder durchdringend musterte.

    Thea sah, dass sie nicht alleine war. Auf dem Tisch standen zwei Tassen und in einem weiteren Stuhl saß noch eine zweite Person. Als Thea die Großmutter erkannte, zog sie den Kopf ein, versuchte, sich möglichst klein zu machen. Am liebsten wäre sie durch die Ritzen im Fußboden verschwunden. Der Blick der älteren Frau ruhte forschend auf ihr und Thea umklammerte den Kreisel fester.

    Ihre Brüder antworteten auf die Frage ihrer Mutter, jeder versuchte, den anderen zu übertönen.

    »Dann geht ihr jetzt eben alle in eure Zimmer. Und beschäftigt euch leise«, lautete der Beschluss.

    Thea konnte damit gut leben, doch die beiden Jungen gaben Widerworte.

    »Ich will nichts mehr hören!«, beharrte die Mutter, doch dann machte Gustav den Fehler, seinen nächsten Satz mit »Aber …« zu beginnen.

    »Schluss jetzt!«, rief die Mutter und hob eine Hand. Auch wenn die Drohung ihren Brüdern gegolten hatte, zuckte Thea zusammen.

    »Raus!«, zischte ihre Mutter leise. »Und wenn ich nachher nach euch sehe und finde Unordnung und Lärm vor, dann setzt es was.«

    Wie Verurteilte schlichen die beiden Jungen davon. Thea fiel zurück, als sich die Tür hinter ihnen schloss, schon alleine, um nicht der Wut ihrer Brüder ausgesetzt zu sein. In Hörweite ihrer Mutter würden sie es nicht noch einmal wagen, Lärm zu machen, aber dennoch sollte sie aufpassen. Vor allem, wenn auch noch ihre Großmutter da war. Manchmal, wenn ihre Eltern glaubten, dass die Kinder nicht zuhörten, sprachen sie von Dingen, die die Großmutter angeblich konnte, von Mächten, mit denen sie mutmaßlich im Bunde war. Möglichst lautlos setzte Thea nun ihre Füße auf den Boden, um ja nicht aufzufallen.

    So hörte sie, wie die Großmutter im Salon sagte: »Ist das deine Erziehung, Margarethe? Du drohst ihnen mit Schlägen?«

    »Die Kinder müssen Respekt lernen. Wer erzieht denn schon seine Brut ohne Disziplin?«

    »Wenn deine Kinder zusammenzucken, sobald du die Hand hebst, nennst du das Respekt? Wenn man Kinder schlägt, Disziplin?«

    »Natürlich.« In der Stimme der Mutter klang ein gewisser Stolz mit.

    Als die Großmutter wieder sprach, klang sie enttäuscht. »Das ist kein Respekt, was du ihnen beibringst. Das, was du in ihren Augen sehen würdest, wenn du nicht zu blind wärst, ist Angst. Das, was du ihnen in diesem Moment beibringst, ist, dass andere Menschen …«

    »Ich bin ihre Mutter, nicht irgendjemand!«

    »Fall mir nicht ins Wort! Ja, du bist ihre Mutter und das macht es noch schlimmer. Was sie da lernen, mit jeder Ohrfeige, und ich bin mir sicher, das wäre heute nicht die erste und nicht die letzte gewesen, ist Folgendes: Jemand anderes hat das Recht, ihnen Schmerzen zuzufügen, wenn sie nicht tun, was derjenige von ihnen will.«

    »Sie müssen auf mich hören! Was glaubst du, was andere Kinder zu Hause für Ungehorsam bekommen! Du hast sie erlebt, dass einem bei der Bande die Hand einmal ausrutscht, kann man mir nicht verübeln.«

    »Die Hand ausrutscht? So nennst du das? Das heißt, du kannst dich nicht beherrschen. Du erwartest von Kindern, von Kindern, bei allen guten Geistern, dass sie sich benehmen, und hast dich doch selbst nicht im Griff. Von wem sollen sie es denn lernen, wenn ihr Vorbild über keine Selbstbeherrschung verfügt?«

    »Hör auf, diese unseligen Geister in meinem Haus zu erwähnen, Mutter. Es sind deine Geister und meine Kinder, kümmer du dich um das eine und überlass mir das andere.«

    Im Raum waren Schritte zu hören und Thea erwachte aus ihrer Starre und huschte, so schnell und lautlos sie konnte, in ihr Zimmer zurück. Was hatte denn die Großmutter mit Geistern zu schaffen? Das durfte man doch nicht! Es war nicht die erste Andeutung dieser Art und dass ihre Mutter hin und wieder solche Dinge sagte, war der Grund, warum Thea sich von ihrer Großmutter fernhielt. Geister machten ihr Angst. Sie wollte nicht an so etwas denken.

    Während sie weiter an ihrer Tafel saß, freute sie sich darauf, irgendwann ihr eigenes Zuhause zu haben. Ohne Brüder, die sich stritten und sie ärgerten.

    Sie schaute auf, als es klopfte. Zum Glück war es Richard und nicht ihre Mutter, die noch mehr Predigten zu halten hatte.

    »Schau mal, Thea, ich kann die Münze endlich verschwinden lassen!«, freute er sich.

    »Kannst du? Zeig!«

    Seit ihr nächstjüngerer Bruder zum ersten Mal einen Zauberer gesehen hatte, war er besessen von Tricks und Spielereien. Er hatte eine halbe Ewigkeit geübt, eine Münze verschwinden und wieder auftauchen zu lassen, und als er Thea nun das Geldstück hinhielt, flüsterte sie nur noch. »Du sollst doch nicht mit Geld spielen!«

    »Es ist meins! Und ich passe ja gut darauf auf. Sieh her!« Er schloss die Hand, drehte sie einmal hin und her, öffnete sie wieder. Die Münze war fort.

    Thea hielt den Atem an.

    Abermals bewegte ihr Bruder die Hände, öffnete sie beide – und hatte die Münze nun in der anderen Hand.

    »Wie machst du das!« Noch einmal griff Thea nach dem Geldstück, befühlte es, um sicherzugehen, dass es echt war. Es war echt. Sie gab es ihrem breit grinsenden Bruder zurück.

    »Großes Zauberergeheimnis«, flüsterte Richard. »Wenn ich groß bin, werde ich der größte Zauberer aller Zeiten und reise durch die ganze Welt.« Seine Augen leuchteten dabei so hell auf, dass Thea sich von seiner Vorfreude anstecken ließ. Es musste so viele Dinge zu entdecken geben dort draußen, dessen war sie sich mehr denn je bewusst.

    Diese Gedanken an die Zukunft und daran, was sie alles tun könnte, waren Theas innerer Kompass, während sie älter wurde. Der Streit um den Kreisel war Wochen her, Monate, schließlich mehr als zwei Jahre. Eine ganze Ewigkeit.

    Lange genug, dass die Anzahl der seltsamen Maschinen größer wurde. An schlechten Tagen tröstete Thea sich damit, sie heimlich durchs Fenster zu beobachten. Schlechte Tage waren solche, an denen es einmal mehr Streit mit ihren Brüdern gab. Und solche, an denen sie nicht auf den Markt zu den Puppenspielern gehen durfte, weil sie zu Hause helfen musste. Inzwischen flogen einige dieser Gerätschaften sogar. Nicht weit und nicht furchtbar hoch, aber es war dennoch beeindruckend.

    Doch selbst, wenn sie nirgends sonst hingehen durfte, durfte sie wenigstens zum Unterricht. Sie mochte die Schule, die kaum mehr als ein großes Zimmer in dem Haus am Ende der Straße war, in dem der Lehrer Schmidt auch wohnte. Im Anschluss an ihre Schulstunden rückten all die verschwommenen Träume für einen Moment näher: Wenn Thea zusehen durfte, wie ihr Lehrer die kleine Dampfmaschine über sein Pult fahren ließ oder wie er den Globus drehte und kleine bunte Metallstücke auf die Länder setzte, von denen er erzählte. Sie hielten dort wie von Zauberhand. Er nannte sie Magnete. Er wusste ohnehin viel über neue Erfindungen und war sich sicher, dass ganz bald noch viele dazukommen würden. Eines Tages hatte er einen neuen Globus und wirkte regelrecht aufgekratzt. Direkt aus der Werkstatt der Leonhards sei der, berichtete er Thea. Das Mädchen ließ sich von seiner Aufregung anstecken und machte große Augen, als der Globus etwas tat, was sie noch nie gesehen hatte: Die Kugel war nicht an einem Stück, sondern bestand aus einer Gitterkonstruktion. Die Länder waren kleine Metallplatten und wenn man auf ein paar Knöpfe drückte – Thea hielt den Atem an. Die Länder drehten sich tatsächlich in ihren Befestigungen um die eigene Achse! Die Oberseiten zeigten nun in den Globus hinein. Und wenn die Unterseiten nach oben zeigten, dann waren da winzige Gebäude. Und mehr noch: Berge und Flüsse waren nicht nur eingezeichnet, sondern erhoben und senkten sich auch aus der Oberfläche.

    »Das sind die Hauptstädte«, erklärte ihr Lehrer und deutete auf die Gebäude. »Und siehst du? Sie haben sich die Mühe gemacht und das Gelände nachempfunden.«

    Thea machte große Augen. Sie wollte unbedingt wissen, wie so etwas möglich war. Angestrengt spähte sie zwischen die Gitter, lugte in die Konstruktion hinein, bis sie ihre Nasenspitze zwischen Europa und Afrika versenkte.

    »Wie geht das? Das ist doch keine Magie, oder?«

    »Oh nein, Gott bewahre. Sprich nicht von Magie, nicht in einem kleinen Ort wie diesem. Siehst du, es sind kleine Zahnräder und Antriebswellen.«

    Thea hörte ehrfürchtig zu, saugte jedes Wort in sich auf. Trotzdem musste sie noch einmal nach der Magie fragen. Warum man auf keinen Fall darüber sprechen durfte.

    »Theresa, das ist gefährlich. Trotz all unserer Wissenschaft ist noch viel alter Aberglaube in den Köpfen der Leute. Ein falsches Wort, und man behält dich und deine Familie im Auge. Und dann noch eine falsche Tat und man klagt euch an und dann …«

    Thea lief es kalt über den Rücken. »Und dann?« Sie wagte es kaum, zu flüstern, doch sie musste es wissen.

    Ihr Lehrer seufzte. »Menschen, die der Hexerei angeklagt werden … leben nicht mehr lange, Thea.«

    Noch ein kalter Schauer – dieses Mal hatte er länger gedauert. Sprich nicht von Magie … Nein, sie würde nicht mehr darüber sprechen.

    »Lass uns mal sehen, ob du etwas behalten hast. Also, wie nennt man diesen Teil der Maschine?«, lenkte ihr Lehrer sie wieder ab.

    Die Schule war so viel besser als die Unruhe zu Hause, schon alleine, weil ihre Brüder im Unterricht nicht herumlärmen durften. Und wenn Thea mit ihrem Lehrer alleine war, waren da ohnehin keine Geschwister, die sich anschrien oder herumzappelten. Bei ihnen daheim war es immer laut und obwohl Thea damit aufgewachsen war, mochte sie das nicht. Es störte ihre Konzentration und außerdem bekam ihre Mutter schlechte Laune davon. Wenn diese schlechte Laune hatte, schimpfte sie wiederum mehr und jedes falsche Wort war gefährlich. Solange sich Thea erinnern konnte, sagte ihre Mutter regelmäßig, wenn sie für jedes Mal, dass eins ihrer acht Kinder Lärm machte, einen Taler bekäme, wären sie endlich reich. Ihr Vater mochte diesen Satz nicht, aber Thea konnte nicht umhin, der Idee, Lärm gegen Geld einzutauschen, etwas abzugewinnen. Dann wäre er wenigstens zu etwas gut.

    So konnte Thea sich nur in ihrer Kammer die Ohren zuhalten. Wenigstens hatte sie ihr eigenes Zimmer, auch wenn es sehr winzig war, aber ihre Brüder mussten sich jeweils zu zweit eines teilen. In dieser Hinsicht half es ihr, ein Mädchen zu sein.

    Es half ihr jedoch gar nicht, wenn es darum ging, im Haushalt zu helfen. Sie musste zusammen mit ihrer Mutter und dem Hausmädchen nähen, putzen und was sonst noch anfiel. Man sah es an den Händen, wenn man viel arbeiten musste. Manchmal dachte Thea darüber nach, dass die Hände ihrer Mutter und ihre eigenen ebenso die Spuren von Arbeit zeigten, wie die ihres Vaters und ihrer Brüder. Es mochte andere Arbeit sein, aber so groß waren die Unterschiede am Ende gar nicht.

    Nur, dass ihr Vater und ihre Brüder sich die Hände auch schmutzig machen durften. Je älter Thea wurde, desto strenger wurde ihre Mutter in dieser Hinsicht.

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