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Anne und die Horde
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Anne und die Horde
eBook530 Seiten6 Stunden

Anne und die Horde

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Über dieses E-Book

Was suchen Erdnüsse in der Küchenschublade und wer stiehlt glänzende Sachen?
Anne ist gerade erst mit ihren Eltern und ihrem Bruder umgezogen, da geschehen merkwürdige Dinge in der neuen Wohnung und als dann auch noch ihr geliebter Kompass verschwindet, ist das Maß voll. Als sie sich nachts auf die Lauer legt, um den Dieb auf frischer Tat zu ertappen, traut sie ihren Augen nicht. Was ist das für ein Wesen, das sie da gefangen hat? Soll das tatsächlich ein Heinzelmann sein? Doch damit nicht genug, in der Buchhandlung um die Ecke geht es nicht mit rechten Dingen zu. Am Eingang hängt ein Frauenkopf aus Stein, von dem Anne sich beobachtet fühlt, im hinteren Teil des Ladens sitzt ein seltener Papagei auf einem roten Sofa, den niemand außer ihr sieht und Mama benimmt sich wie verhext, wenn sie mit dem Buchhändler spricht. Da ihre Eltern ihr nicht zuhören und Bruder Swontje ein Quälgeist ist, bleibt Anne nichts anderes übrig als alleine Nachforschungen anzustellen. Dabei kommt sie hinter große Geheimnisse, schon bald ist nichts mehr so, wie es zu sein scheint - Hexen, Zauberer und Dämonen sind keine Märchengestalten. Anne gerät in ein Abenteuer, das nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer ganzen Familie ändern wird.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. Dez. 2015
ISBN9783738051940
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    Buchvorschau

    Anne und die Horde - Ines Langel

    Ein haariges Ding unter dem Bett

    Anne-Lindje Kolbe lebte mit Mama Hanna, Papa Björn und ihrem älterem Bruder Swontje in der Umbertusstrasse in einer Neubausiedlung vor Köln. Sie lebten noch nicht lange dort. Erst vor zwei Wochen waren sie aus der lärmenden Stadtmitte hierher gezogen. Papa wollte für seine Kinder mehr Platz zum Spielen und Toben, vor allem aber mehr Natur. Mama wohnte ohnehin nicht gerne in der Stadt. Sie war ein richtiges Landei, wie Papa sagte. Was nicht wirklich stimmte. Denn Mamas Herkunftsort, Königswinter, war gar nicht so ländlich. Annes großer Bruder musste in diesem Jahr die Schule wechseln. Er kam in die fünfte Klasse eines Gymnasiums. Für ihn würde ohnehin alles neu sein. Doch Anne ärgerte sich über den Umzug. Sie würde alle ihre Freunde nach den großen Sommerferien nicht mehr wiedersehen können. Sie war neun Jahre alt, und nach den Ferien sollte sie in die dritte Klasse kommen. Sie musste in eine neue Schule mit neuen Lehrern und fremden Kindern. Anne hasste die neue Schule und sie hasste die neue Wohnung, ja sogar die Ferien waren ihr verhasst. Sie kannte ja niemanden hier. Papa hatte ihr versprochen, sie hin und wieder zu Linda, ihrer allerbesten Freundin zu fahren. Doch bisher hatte er sein Versprechen nicht gehalten.

    „Du siehst doch, was hier zu tun ist", entschuldigte er sich. „Der Umzug macht sich nicht von alleine, und ich muss bald wieder arbeiten gehen.

    "Natürlich sah Anne, dass noch nicht alle Kisten ausgepackt waren, dennoch wollte sie zu Linda. Seufzend saß sie auf ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Wenn sie aus ihrem alten Fester gesehen hatte, waren da immer viele Menschen gewesen. Sie hatte direkt auf den belebten Neumarkt schauen können. Hier war die Aussicht richtig langweilig. Eine Wiese, ein Klettergerüst, ein bisschen Sand und im Hintergrund ein paar Bäume. Kein Mensch weit und breit, geschweige denn ein Kind. Anne hauchte an die Scheibe, bis diese beschlug, dann zeichnete sie ein trauriges kleines Mädchen in den Dunst, das allerdings gleich wieder verschwand. Sie hatte noch fünf Wochen Ferien. Was sollte sie bloß mit der vielen Zeit anfangen? Anne seufzte wieder tief. Da ging die Zimmertüre auf. Mama stand im Türrahmen.

    „Was machst du denn da? Wolltest du nicht endlich die Kartons auspacken?"

    Anne schüttelte den Kopf. „Nein, das wollte ich nicht. Nicht hier."

    „Ach Anne-Maus, sagte die Mutter und betrat das Zimmer. „Ich verspreche dir, dass du hier ganz schnell neue Freundinnen finden wirst. Und hast du nicht ein schönes großes Zimmer?

    Anne zuckte mit den Schultern. Es stimmte, dieses Zimmer war doppelt so groß wie ihr altes. Ihr Vater hatte es in Himmelblau gestrichen, ihrer Lieblingsfarbe. Mama hatte zusätzlich eine Wand mit bunten Blumen bemalt. Sie hatte auch neue Möbel bekommen. Anne hatte sie selber ausgesucht. Es war ein schönes Zimmer, doch es war nicht ihr Zimmer. Anne sah ihre Mutter an, freilich nicht mehr ganz so grimmig. Diese lächelte.

    „Na siehst du. Komm, ich helfe dir, die Kisten auszupacken."

    Anne seufzte erneut und setzte sich vor die erste Kiste auf den Boden. Alle ihre Spielsachen hatten in zwei große Umzugskartons gepasst. Doch die Bücher und die Brettspiele waren in vier weiteren Kisten untergebracht. Es würde eine Ewigkeit dauern, bis alles ausgepackt war. Anne starrte die Kiste vor sich an.

    Bis alles in den Regalen ist, ist Weihnachten vorbei, dachte sie.

    Mama hatte schon begonnen, Bücher in das Regal zu stellen. Lustlos klaubte Anne die ersten Sachen aus der Kiste und setzte sie in ihr schönes weißes Regal. Stofftier um Stofftier, Buch um Buch, Spiel um Spiel landeten an ihren neuen Plätzen. Das Zimmer füllte sich. Ganz unten in dem Karton befand sich die Tasche mit den Schlittschuhen. Anne hob sie heraus, überlegte und beschloss, sie unter das Bett zu schieben. Sie legte sich bäuchlings auf den Boden. Es befanden sich schon Dinge unter dem Bett. Zwei Kisten mit ihren Drei Fragezeichen–CDs, sowie eine weitere mit Asterix-Comics, die Swontje nicht mehr haben wollte. Dazu kam der Lego-Zirkus, samt Zubehör. Anne musste erst einige Dinge zur Seite schieben, um ihre Schlittschuhe zu verstauen. Als sie gerade den Zirkus nach rechts schob, sah sie ein behaartes Ding.

    Ein Affe mit blauen Augen?

    Das Wesen riss die Augen auf, und Anne schrie. Sie schrie, was ihre Lungenflügel hergaben. Panisch schob sie sich unterm Bett hervor. Beim Aufspringen stieß sie sich den Kopf an der Bettkante. Mama war gleich bei ihr. Sie hielt ihre schreiende Tochter mit beiden Händen fest.

    „Anne, Anne, Süße, was ist denn? Anne, hör doch auf zu schreien. Was hast du denn?

    „Es hat Haare", kreischte Anne.

    Da ging die Tür auf, und Papa kam herein. Hinter ihm blieb Swontje neugierig im Türrahmen stehen.

    „Was ist denn los?", fragte Papa.

    Mama zeigte auf das Bett. „Da unten sitzt eine behaarte Spinne."

    „Unterm Bett?", fragte Papa und bückte sich bereits.

    Anne schüttelte den Kopf. „Keine Spinne, entfuhr es ihr, „ein Affe oder so.

    Swontje feixte. Anne warf ihm einen wütenden Blick zu.

    „Klar, sagte ihr großer Bruder, „unter deinem Bett wohnt ein Affe.

    Mama streichelte Anne und drückte sie an sich. Papa war unter dem Bett verschwunden. Nur seine Beine ragten noch heraus.

    „Ich sehe nichts, rief er. „Weder Spinne noch Affe.

    Kopfschüttelnd kam er wieder zum Vorschein.

    „Nee, nichts", versicherte er.

    „Vielleicht hat sie sich irgendwohin verkrochen, meinte Mama. „Sieh doch noch mal genauer nach.

    Achselzuckend verschwand Papa erneut unter dem Bett.

    „Wenn das ein Affe ist, bin ich ein Elefant", witzelte Swontje.

    Mama warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

    „Hast du nicht noch was in deinem Zimmer zu tun?", fragte sie ihn.

    Swontje verdrehte die Augen, trat aber von der Tür zurück. Papa war wieder aufgetaucht.

    „Ich finde keine Spinne, wirklich nicht."

    „Na schön, sagte Mama. „Wir haben ja auch keine Angst, nicht wahr Anne?

    Anne nickte, und zumindest für sie stimmte es. Anne hatte noch nie Angst vor Tieren gehabt, ganz im Gegenteil. Sie wollte Tierforscherin werden und sah sich schon durch afrikanische Savannen und Regenwälder streifen. Mama hingegen tat nur so, als hätte sie keine Angst. In Wahrheit lief sie schon vor Marienkäfern davon.

    Papa entstaubte seine Hose, sah sich in Annes Zimmer um und nickte.

    „Langsam wird es wohnlich, meinte er. „Na kommt, ich helfe euch schnell mit dem Rest, und dann kochen wir was Leckeres. Ich kriege langsam Hunger.

    Die Eltern machten sich an die Arbeit. Sie überlegten, was es zu essen geben könnte. Die haarige Spinne war bereits vergessen. Anne starrte ihr Bett an.

    Das war keine Spinne und auch kein Affe.

    Dessen war sie sicher. Allerdings hatte sie keine Ahnung, was es sonst gewesen sein könnte. Hier ging etwas vor, und Anne musste herausfinden, was es war.

    Erdnüsse in der Küchenschublade

    Als Mama und Papa am nächsten Tag zum Einkaufen gingen, durfte Anne zu Hause bleiben. Sie durfte nicht oft und auch nie lange alleine bleiben. Doch Papa meinte, dass man auch mal eine Ausnahme machen konnte. Anne vermutete, dass sie nach all dem Ärger mit dem ungewollten Umzug versöhnlich gestimmt werden sollte. Ihr Bruder Swontje fuhr immer mit zum Einkaufen. Wie ein nörglerisches Kleinkind versuchte er die Eltern zu überreden, ihm allerlei Unfug zu kaufen. Anne war zu groß, um sich so albern zu benehmen. Ihr Bruder hingegen war immer nur auf seinen Vorteil bedacht. Als die Drei im Aufbruch waren, hatte Swontje ihr schnell noch die Zunge raus gestreckt. Aber sie hatte sich nicht provozieren lassen.

    Anne hatte noch zu viel zu erledigen. Vor allem musste sie auf die Jagd gehen. Wäre doch gelacht, wenn die große Abenteuerin und Zoologin Anne-Lindje Kolbe das haarige Ding nicht zu fassen bekäme. Kaum war sie allein, zog sie ihre Ausrüstung an. Omas altes Nudelsieb war aus Blech. Mama benutzte es nicht, doch weil es schön bemalt war, hing es als Zierde an der Küchenwand. Anne nahm es vom Haken und setzte es sich auf den Kopf. Sie fixierte es mit Paketschnur unter ihrem Kinn. Es war immer gut, einen Helm zu tragen. Um Bauch und Rücken band sie sich zwei kleine Sofakissen. Darüber trug sie Mamas Wildlederweste. Handschuhe fand sie in der Schuhkiste. Dort fingerte sie auch Papas Arbeitsschuhe heraus. Die hatten vorne eine Stahlkappe. Sie passten natürlich nicht, doch ausgestopft mit Zeitung rutschen sie nicht mehr von den Füßen. An den Beinen trug Anne die Knieschoner, die fürs Schlittschuhlaufen gedacht waren. Fertig. Nun brauchte sie nur noch eine Waffe und den Kompass. Im Wandschrank fand sie den Staubsauger. Sie zog die Rohre auseinander und nahm das mittlere mit. Eine gute Schlagwaffe. In ihrem Zimmer zog sie die Nachttischschublade auf und entnahm der kleinen Kiste, die sie dort aufbewahrte, den Kompass. Sie liebte den Kompass, er war ihr größter Schatz, etwas, das sie niemals verlieren durfte, wenn sie auch sonst alles verlor. Sie hatte ihn im letzten Spanienurlaub im Schaufenster gesehen und gewusst, dass sie ihn haben musste. Es war nicht einfach nur ein Kompass. Auf der Rückseite befand sich auch eine ausklappbare Lupe.

    „Was willst du denn damit?", hatte Papa sie vor dem Laden gefragt.

    „Ich brauche ihn für meine Safari, hatte Anne gemeint. „Jeder Zoologe hat einen Kompass. Ach bitte, Papa! Bitte!

    Ihr Vater hatte gelächelt und ihr tatsächlich den Kompass geschenkt. Seitdem war kein Tag vergangen, an dem Anne nicht mit dem Kompass unterwegs war. Nur in die Schule nahm sie ihn nie mit. Sie hatte zu viel Angst, er könnte ihr geklaut werden.

    Anne begann mit der Suche natürlich in ihrem eigenen Zimmer, denn hier war das haarige Ding zuerst aufgetaucht. Akribisch suchte sie jeden Winkel ab, blickte überall drunter und sah auch in den Schränken nach. Doch sie wurde nicht fündig. Das einzige, was sie fand, waren Wollmäuse.

    Als sie sich sicher war, dass sich nichts und niemand in ihrem Zimmer versteckten, verließ sie es, zog die Türe zu und versiegelte es mit gelbem Allzweckklebeband. Hier war sie fertig. Sie ging als nächstes in Swontjes Zimmer. Sie hasste Swontjes Zimmer, doch wenn sie gründlich sein wollte, musste sie auch hier suchen. Ihr Bruder war zwölf, fast dreizehn, doch sein Zimmer sah aus, wie das eines Erwachsenen. Alles hatte seinen festen Platz, nichts lag auf dem Boden, es hing keine Wäsche über dem Stuhl. Die Bücher standen nach Größe sortiert auf den Regalbrettern und seine Starwars-Sammelfiguren waren immer abgestaubt. Anne verzog angewidert das Gesicht. Wie konnte man nur so ordentlich sein? Ihr Zimmer war dagegen ein Schlachtfeld. Mama neckte sie deswegen oft, gerade dann, wenn Anne etwas suchte.

    „Wenn du mehr Ordnung hieltest, müsstest du nicht so viel suchen. Ordnung ist das halbe Leben, Anne."

    Es lief ihr eiskalt den Rücken runter bei dem Gedanken, dass dies stimmen könnte. Wenn Ordnung das halbe Leben war, dann machte die andere Hälfte auch schon keinen Spaß mehr. Papa hatte ihr am Tag des Einzugs ein Türschild geschenkt.

    „Annes Räuberhöhle. Bitte anklopfen", stand darauf.

    Anne hatte es gar nicht lustig gefunden, vor allem weil ihr Bruder ein Schild mit der Aufschrift „Swontjes Studierzimmer. Bitte Ruhe." bekommen hatte.

    Studierzimmer, dass ich nicht lache!

    Swontje verbrachte doppelt so viel Zeit mit Rollenspielen am PC, als mit seinen Hausaufgaben.

    „Warum darf Swontje einen Computer im Zimmer haben und ich nicht?", hatte sie bei Papa gejammert.

    „Weil Swonje ihn ab jetzt für die Schule braucht. Wenn du in die 5. Klasse kommst, bekommst du auch einen Computer für dein Zimmer, versprochen."

    Anne fand das ungerecht, konnte aber nichts dagegen machen. Sie würde noch ein paar Jahre den Gemeinschaftscomputer im Wohnzimmer benutzen müssen.

    Swontjes Zimmer war schnell durchsucht. Es gab keine Winkel, in denen man sich hätte verstecken können. Anne versiegelte es mit Klebeband, und zog weiter in das Elternschlafzimmer. Dieses Zimmer war für Anne das schönste der ganzen Wohnung. Selbst wenn die Eltern nicht da waren verströmte es eine Aura von Sicherheit und Geborgenheit. Hier nahm Anne sich besonders viel Zeit. Sie schaute in jede Kiste, in jeden Schrank und auch unter das große Bett. Sie fand nichts Außergewöhnliches, nur ein paar alte Fotos. Mama und Papa bei ihrer Hochzeit. Sie nahm die Bilder an sich. Sie würde sie später in Ruhe mit Mama ansehen. Im Wohnzimmer gab es mehr Verstecke, doch auch hier fand sie kein haariges Ding. Der Flur war ein langer Schlauch, hier konnte sich niemand verstecken. In der Küche durchsuchte sie gründlich den Wandschrank. Als sie dort auch nichts fand, wollte sie schon aufgegeben. Nur aus Trotz lugte sie noch in die Küchenschränke. Sie zog jede Schublade auf. Als sie die letzte Schublade aufzog, hielt sie überrascht inne. Auf dem Schubladenboden lagen drei Erdnüsse. Was hatten die da zu suchen? Anne öffnete die Tür zum Vorratsschrank und überblickte das Angebot. Keine Erdnüsse. Sie hatten noch nie Erdnüsse gehabt. Keiner hier im Haus mochte Erdnüsse. Anne legte den Kopf schief und sah sich die Nüsse genauer an. Nichts Ungewöhnliches war zu entdecken, doch sie gehörten eindeutig nicht hierher. Anne nahm die drei Nüsse an sich. Sie würde sie behalten. Sie wusste zwar noch nicht, ob die Nüsse mit dem haarigen Ding in Verbindung standen, doch sie würde es herausfinden. Gerade, als sie in ihr Zimmer gehen wollte, hörte sie den Schlüssel in der Tür. Die Einkäufer waren zurückgekommen.

    „Anne-Maus, wir haben dir was mitgebracht", rief Mama fröhlich und stand auch schon voll beladen in der Küche. Ihr Blick fiel auf Anne in voller Kampfmontur. Einen Moment war sie wie erstarrt, dann lachte sie laut los.

    „Björn!, rief sie ihrem Mann zu. „Komm mal gucken und bring den Fotoapparat mit!

    Noch bevor Papa die Küche betrat, erschien Swontjes Kopf im Türrahmen. Er lachte verächtlich.

    „Mann, was soll denn das sein. Der Nudelroboter?"

    „Haha, sehr komisch!", sagte Anne und verschränkte die Arme vor der Brust.

    „Swontje, bitte, sagte Mama. „Das ist doch süß.

    Mama küsste Anne auf die Wange. Papa kam mit dem Fotoapparat. Er strahlte als er Anne sah.

    „Oh, Anne. Warst du auf Safari?, fragte er. „Das müssen wir festhalten. Stell dich doch mal ans Fenster.

    Anne wollte nicht, doch ihre Eltern waren so glücklich, dass sie nicht anders konnte. Sie stellte sich vors Fenster, und sie lächelte breit, obwohl sie vorne eine Zahnlücke hatte.

    Frau mit Hut

    Papa hatte das Foto von Anne auf Safari ausgedruckt und in die Küche gehängt. Für ihn war alles ein großer Spaß. Natürlich glaubte auch Mama nicht, dass ein behaartes Tier Erdnüsse in die Küchenschublade gelegt hatte. Sie sah verwundert auf die Nüsse und meinte:

    „Ich wusste gar nicht, dass du so gerne Erdnüsse isst."

    „Tue ich ja auch gar nicht. Ich habe sie doch gefunden."

    „Eigenartig, es isst doch auch sonst niemand Erdnüsse von uns."

    Triumphierend hielt Anne die Nüsse unter Mamas Nase. Das war der Beweis.

    „Siehst du, ich sage ja, dass hier jemand umgeht."

    „Und Nüsse verteilt?", fragte Mama.

    Der skeptische Blick sagte Anne, dass sie verloren hatte. Hier würde ihr niemand glauben.

    „Es gibt bestimmt eine andere Erklärung, als eine riesige haarige Spinne, die in unsere Küchenzeile kriecht und…"

    „Keine Spinne, rief Anne genervt. Nervös drehte sie die nierenförmigen Dinger in ihrer Hand hin und her. „Ich habe dir doch gesagt, dass es sich um ein haariges…

    „Ach Anne, meinte Mama und bekam den „Blick. So schaute sie immer nur, wenn sie meinte verstanden zu haben, was das eigentliche Problem war.

    „Dir ist sehr langweilig hier nicht wahr?"

    Anne verdrehte die Augen. „Nein, ich…"

    Mama hatte den Kopf schief gelegt und Annes Schulter gestreichelt. Anne wäre am liebsten davongelaufen.

    „Ich verstehe das. Wir sind gerade erst hergezogen, und du hast noch keine Freunde. Die Schule geht erst in fünf Wochen wieder los. Du bist schon ein bisschen einsam, nicht wahr? Ich verspreche dir, dass ich mir was einfallen lasse."

    Mama hatte Wort gehalten und sich etwas einfallen lassen. Zum einen hatte sie ihrer Tochter eine Dauerkarte fürs nahe Schwimmbad gekauft. Anne sollte so oft hin- gehen, wie sie wollte.

    „Bestimmt wirst du dort schnell ein paar Freundinnen finden."

    Anne hatte dazu nichts gesagt. Mama meinte es ja gut.

    Zum anderen hatte Mama beschlossen, dass Anne neue Bücher brauchte. Aus diesem Grund waren sie gerade auf dem Weg zu einer Buchhandlung, die Mama beim letzten Einkauf entdeckt hatte. Eigentlich freute Anne sich auf die neuen Bücher, dummerweise wusste sie aber auch, dass Literatur nichts an dem Problem ändern würde. Zwar hatte Anne ihrer Mutter nichts mehr erzählt, doch sie hatte weitere Erdnusshaufen gefunden. Einer hatte im Badezimmer gelegen, an der Stelle, wo Mama ihren Schmuck hinlegte, wenn sie ihn vorm Schlafengehen auszog. Die Erdnüsse waren aufgetaucht und Mamas Ohrringe verschwunden. Seit Tagen suchte sie danach. Papa hatte selbst den Siphon aufschrauben müssen. Es hätte ja sein können, dass die Ohrringe ins Waschbecken gefallen waren und nun im Abfluss steckten. Natürlich hatte Papa nichts außer Schmutz und Haaren gefunden. Anne hatte die Nüsse an sich genommen, noch bevor ein anderer sie gesehen hatte. Nachher hätte Mama noch gedacht, dass sie hinter der ganzen Sache steckte. Erwachsene kamen oft auf komische Ideen. Sie hatte die Nüsse zu den anderen in ein altes Goldfischglas geworfen, das unter ihrem Bett stand. Einen weiteren Haufen hatte sie im Flurschränkchen entdeckt. Sie hatte keine Ahnung, ob, und wenn ja, etwas fehlte, denn hier wurde alles Mögliche gesammelt. Auch diese Nüsse waren im Glas gelandet. Lustig war, dass Swontjes Schlüssel verschwunden war. Die Ordnung in Person konnte ihn einfach nicht finden. Allerdings hatte Anne keine Nüsse gefunden, weshalb es sein konnte, dass Swontje den Schlüssel tatsächlich nur verloren hatte. So oder so, es war bewiesen:

    Irgendjemand geht bei uns im Haus um und sammelt glänzende Dinge.

    Der steinerne Kopf

    „Anne, du schläfst ja fast ein beim Gehen."

    Mamas Worte rissen Anne aus ihren Gedanken. Sie sah auf. Ihre Mutter stand im Eingang zu einem kleinen Laden. Die Türe hielt sie lässig mit einem Fuß geöffnet.

    „Komm schon, wir sind da."

    Mit diesen Worten verschwand sie im Laden. Anne sah sich um. Mama hatte sie zu einem alten Steingebäude mitgenommen. Das Haus besaß einen olivfarbenen Anstrich. Neben der dunklen Holztüre war in einer Nische ein Frauenkopf aus Stein aufgestellt worden. Der Kopf wirkte sehr lebensecht, erschreckend lebensecht. Die Frau trug einen weißen Hut, von dem drei schwarze Federn abstanden. Ihr Gesicht war blass rosa, der Mund sehr rot. Er bildete ein stummes „Oh". Sie hatte eine feine kleine Nase. Die Augen waren braun. Sie sahen aus wie Mandeln. Die Augenbrauen waren nach oben gezogen. Zusammen mit dem Mund gaben sie dem Gesicht einen Ausdruck von Überraschung. Unterhalb des langen Halses kam ein Teil der Schultern zum Vorschein. Die Frau hatte etwas Blaues an.

    Vielleicht ein Kleid?

    Anne schauderte. Ein ungutes Gefühl schnürte ihr die Kehle zu. Sie wusste, dass es Unsinn war, doch sie traute sich nicht, an diesem Kopf vorbeizugehen. Vorsichtig ging sie einen Schritt weiter auf die Türe zu. Sie ließ den Kopf nicht aus dem Blick. Als sie näher kam, konnte sie kleine Falten um den Mund und auf der Stirn erkennen. Anne schluckte, machte aber noch einen Schritt.

    Sind das Wimpern?

    „Anne, was trödelst du denn schon wieder?"

    Mama hatte von innen die Tür geöffnet, um zu sehen, wo ihre Tochter blieb. Anne zuckte zusammen. Erschrocken sah sie ihre Mutter an. Wortlos zeigte sie auf den Frauenkopf. Mama sah in die gewiesene Richtung und lächelte.

    „Ja, sehr schön, nicht wahr? ", sagte sie und warf einen kurzen Blick auf das Bildnis.

    Anne schüttelte den Kopf, doch Mama bemerkte es nicht. Sie griff nach der Hand ihrer Tochter und zog sie hinter sich her in den Laden. Anne warf im Vorbeigehen einen letzten Blick auf den Frauenkopf. Sie hätte schwören können, dass die Mandelaugen sie ansahen.

    Rasmus Merymend

    Vom Inneren des Buchladens war Anne beeindruckt und eingeschüchtert zugleich. Ihre Überraschung hätte nicht größer sein können. Das olivfarbene Haus hatte von außen nicht vermuten lassen, dass sein Inneres so groß war. Doch das musste es auch sein, denn jeder Zentimeter Platz war mit Büchern gefüllt. An den Wänden standen Regale bis unter die Decke. An die obersten Reihen kam man nur mit einer großen Leiter. Anne wurde es schon beim Hinaufsehen schwindelig. Schnell wandte sie den Blick ab. Im Raum verteilt standen kleine Schränkchen, die ebenfalls mit Büchern gefüllt und auf denen sie gestapelt waren. Unter der Decke hingen Körbe. Anne konnte nicht hineinsehen, doch sie nahm an, dass auch dort Bücher verstaut waren. Der große Raum wirkte völlig überladen und ungeordnet. Wie sollte man sich hier nur zurechtfinden?

    Gegenüber der Eingangstür befand sich eine dunkle alte Theke. Sie reichte Anne bis an die Brust. Dahinter saß ein mürrisch dreinblickender Mann. Er war sehr dünn und groß, hatte eine Glatze und eine schnabelartige Nase. Es war schwer zu sagen, wie alt er sein mochte. Anne schätze, dass er älter war als Mama und Papa, doch sein Gesicht wirkte glatt und rosig. Zu Annes Erstaunen trug der Mann einen schwarzen Anzug und eine Fliege.

    Vielleicht will er noch in die Oper, dachte Anne

    Mama ging schnurstracks auf den Mann zu. Sie lächelte zurückhaltend und fragte dann.

    „Arbeiten Sie hier?"

    Der Mann sah sie an, als hätte sie die dümmste Frage der Welt gestellt.

    „Wieso fragen Sie mich das?", erwiderte er. Seine Stimme war hoch und näselnd.

    Mama schien verdutzt. „Nun ja, Sie sitzen hinter der Theke."

    Der Mann stand auf und nickte. Er sagte nichts, zeigte stattdessen mit seinen langen Fingern auf die Theke, als wolle er auf etwas aufmerksam machen. Mama folgte verwirrt seiner Geste. Sie dachte angestrengt darüber nach, was ihr der Fremde zeigen wollte.

    „Ganz schön staubig", sagte Anne, die sich ebenfalls die Theke angesehen hatte.

    Mama wurde rot. „Anne!, sagte sie schnellt und dann, „Kinder, Sie wissen ja…

    Der Mann nickte. Seine Augen richteten sich auf Anne. Sie sahen aus wie zwei Kohlenstücke.

    „Oh ja", sagte er, „Kinder sind ganz wundervolle Geschöpfe.

    Mama nickte und lächelte. Anne wusste es besser. Dieser Mann hatte zwar gesagt, Kinder seien wundervoll, doch gemeint hatte er etwas ganz anderes.

    Ruckartig wand sich der Mann Mama zu. „Zu Ihrer Frage, Gnädigste."

    Mama blinzelte und wurde schon wieder rot.

    „Ich arbeite hier nicht nur, ich bin der Besitzer dieses fantastischen Buchladens. Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Merymend. Rasmus Merymend."

    Daraufhin nahm er Mamas Finger und hauchte einen leichten Kuss auf ihren Handrücken. Zum dritten Mal lief Mama rot an. Nun sah sie aus wie eine reife Kirsche. Anne verzog angewidert das Gesicht. Dieser Merymend war ihr unsympathisch. Doch Mama schien von ihm sehr angetan zu sein.

    „Oh, sagte Mama verlegen, „Sie haben wirklich einen schönen Laden.

    „Nicht wahr", bestätigte Merymend und entblößte beim Lächeln eine Reihe krummer, spitzer Zähne.

    „Ich war nur so verwundert."

    „Verwundert Gnädigste, warum?"

    „Nun, Sie sind so gut gekleidet, als wären sie auf einem Ball."

    „Das ist das mindeste, was ich meinen werten Kunden schuldig bin – und diesem Interieur."

    Ausladend wies Merymend mit der rechten Hand durch seinen Laden. Anne folgte der Bewegung. Dabei sah sie, dass der große Raum, in dem sie stand, noch nicht alles war. Rechts von der Eingangstüre, verborgen hinter Regalen, war ein Durchgang.

    „Ich merke schon, Sie sind ein Mann der alten Schule", sagte Mama und kicherte.

    Herr Merymend nickte bloß und zeigte erneut sein Haifischlächeln.

    Anne entfernte sich ein paar Schritte von den beiden Erwachsenen. Sie tat, als sähe sie sich interessiert um, während sie sich langsam auf den Durchgang zu bewegte.

    „Merymend, hörte sie ihre Mutter sagen. „Was für ein außergewöhnlicher Name.

    „Nun, meine Familie ist schon sehr alt. Ich kann meine Vorfahren bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Sehen sie hier. Er wies auf die Wand hinter seiner Theke. „Dies hier ist mein Stammbaum.

    „Sehr beeindruckend", sagte Mama.

    Den Rest nahm Anne nicht mehr wahr, sie hatte den Durchgang erreicht und blickte in den anderen Raum. Zuerst war sie enttäuscht, sah er doch auf den ersten Blick genauso aus wie der, in dem Mama sich gerade mit der Adlernase unterhielt. Doch bei näherem Hinsehen sah sie im hinteren Teil, dort wo es keine Fenster gab, ein Glimmen, schwach nur, aber deutlich sichtbar. Neugierig geworden, ging sie darauf zu, bis ihr ein Bücherregal den Weg versperrte. Als sie dahinter blickte, sah sie zu ihrer Verblüffung einen großen Vogel, der auf einem kleinen roten Sofa saß. Der Vogel war grün und das Sofa gerade groß genug, dass der Piepmatz darauf Platz fand. Verdutzt blieb Anne stehen. Auch der Vogel schien überrascht zu sein. Das Glimmen, das Anne zwischen den unteren Etagen des Bücherregals wahrgenommen hatte, kam von keiner elektrischen Lichtquelle, sondern von Zeichen, die auf den Boden gemalt worden waren. Kreisrund um das Sofa herum waren sie angeordnet. Anne hatte noch nie in ihrem Leben so etwas gesehen. Sie ging näher an den Kreis heran und hockte sich hin. Vorsichtig berührte sie eines der Zeichen mit ihrem rechten Zeigefinger. Schlagartig ging ein gleißendes Licht von dem Kreis aus. Anne erschrak. Sie riss ihre Hand fort und robbte zurück, bis sie mit dem Rücken an das Bücherregal stieß. Das Licht war erloschen, Anne konnte nichts sehen. Vor ihren Augen tanzten bunte Lichtpunkte.

    Was war das?

    Mit dem Handballen rieb sie die Augen. Als sie ihre Umgebung wieder betrachten konnte, sah sie, dass sich nichts verändert hatte. Nur der Vogel war von seinem roten Sofa gesprungen und stand nun direkt vor den Zeichen. Er sah Anne in die Augen. Dem Mädchen lief es kalt den Rücken runter. Der Vogel schabte mit seinen großen Krallen auf dem Boden. Anne beobachtete die Bewegung, dann nickte der Vogel ihr zu. Verständnislos runzelte sie die Stirn. Sogleich fing der Vogel wieder an zu schaben. Anne rückte ein bisschen näher heran. Der Vogel nickte. Langsam streckte sie die Hand nach dem Tier aus. Der Vogel beobachtete sie stumm. Als sie kurz davor war, das Gefieder zu berühren, zog sie erschrocken die Hand zurück. Anne hätte nicht sagen können warum, doch eine Eingebung sagte ihr, dass sie das Tier auf keinen Fall berühren durfte. Der Vogel schlug aufgebracht mit seinen Flügeln. Anne rannte davon, zurück in den anderen Raum zu Mama, die immer noch seelenruhig mit Herrn Merymend redete. Das Thema Familienstammbaum hatten die beiden abgehakt. Inzwischen war der große Mann dazu übergegangen, Bücher vor Mama aufzutürmen. Anne nahm ihre Mutter bei der Hand. Ihr Herz klopfte und sie wollte so schnell wie möglich hier weg. Mama wandte sich ihr zu.

    „Und Maus? Hast du was Schönes gefunden?"

    Anne schüttelte den Kopf. Merymend warf ihr einen prüfenden Blick zu.

    „Sieh mal", Mama zeigte ihrer Tochter ein Buch.

    MOMO war auf dem Einband zu lesen.

    „Möchtest du das mitnehmen? Herr Merymend sagt, dass es hervorragend wäre."

    Anne sah sich das Buch genauer an. Mama erzählte gerade, was sie vom Ladeninhaber über das Buch gehört hatte. Anne musste zugeben, dass die Geschichte sehr spannend klang.

    „Ja, gerne", sagte sie deshalb.

    Mama war zufrieden, und Herr Merymend nahm das Buch mit einem Kopfnicken entgegen, bevor er es in eine Papiertüte packte.

    „Du wirst es nicht bereuen, Kleines", sagte Herr Merymend mit einem Lächeln, das Anne unheimlich vorkam.

    „Bestimmt nicht, sagte Mama, bevor Anne antworten konnte. „Wir nehmen erstmal das eine und kommen dann bei Bedarf wieder her. Ich bin schon lange nicht mehr so freundlich beraten worden.

    „Aber, aber, Gnädigste, sagte Merymend und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist doch selbstverständlich.

    „Nein, nein", meinte Mama, „nicht jeder gibt sich so viel Mühe.

    Einer Eingebung folgend rief Anne zwischen die Lobhudelei: „Haben Sie ein Buch über Vögel?"

    „Vögel?", fragten Mama und Merymend gleichzeitig.

    Anne nickte. „Ja, Papageien."

    Merymend zuckte kurz zusammen, doch Mama sah ihre Tochter nur fragend an.

    „Wegen meiner Forschung", meinte Anne und Mama lachte.

    „Forschung?", fragte Merymend argwöhnisch.

    „Ja", antwortete Mama, „Anne wird Forscherin wenn sie groß ist, da muss sie sich jetzt schon bilden.

    Merymend nickte. „Ich habe da allerlei." Sogleich verschwand er in der Regalschlucht. Nach einigen Augenblicken kam er mit drei kleinen und einem großen Buch zurück.

    „Sind in dem großen Bilder?", fragte Anne.

    „Man soll ein Buch nicht nach seinen Bildern beurteilen", sagte Merymend und sah Anne geringschätzig an.

    „Ich möchte aber auch sehen, worüber ich lese."

    Mama nickte. „Ja, wir nehmen das Buch mit den Bildern."

    Merymend legte die kleinen Bücher beiseite und packte das große in eine neue Papiertüre. Er reichte sie Anne. Überrascht von dem Gewicht, hätte sie die Tüte fast fallen gelassen.

    „Schwere Lektüre", sagte Merymend.

    Er sah Anne so durchdringend an, dass sie den Blick senkte.

    „Nicht für meine Anne, sagte da Mama. „Wenn sie an etwas interessiert ist, zeigt sie richtigen Entdeckergeist.

    „Gewiss, Gnädigste, sagte Merymed, „die eigenen Kinder sind immer die besten.

    Mama kicherte, streichelte Anne über den Kopf und bezahlte. Dann reichte sie dem Buchhändler die Hand.

    „Vielen Dank, Herr Merymend. Wir werden Ihnen berichten, wie das Buch war, dass sie so wärmstens empfohlen haben."

    Nur widerwillig ergriff Merymend die dargebotene Hand.

    „Ich danke Ihnen, Teuerste. Bitte beehren Sie mich recht bald wieder, und bringen Sie diesen Fratz da mit."

    Damit warf er einen letzen Blick auf Anne, einen Blick der sagte: „Bleib bloß weg von hier, du Kröte ".

    Anne schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Mama winkte noch mal Herrn Merymend zu, dann ging sie zur Tür. Ihre Tochter lief schnell hinterher. Sie wollte auf keinen Fall allein an diesem Ort bleiben, nicht eine Sekunde. Als die Türe hinter ihnen krachend ins Schloss fiel, atmete Anne erleichtert auf.

    Der Kakapo

    Als Mama am Abend mit Papa über den wundervollen Buchladen und den interessanten Herr Merymend redete, fragte sich Anne, ob sie mit Mama im selben Laden gewesen war. Sie hatte überhaupt nichts Wundervolles entdecken können. Der Laden war unordentlich und ziemlich schäbig, kein Vergleich zu der großen, von Licht durchfluteten, Buchhandlung, zu der sie vor dem Umzug immer gegangen waren. Herrn Merymend konnte man durchaus als interessant bezeichnen, allerdings beschrieb Mama ihn so, als gäbe es weit und breit keinen zuvorkommenendern, höflicheren, gebildeteren, besser aussehenden Mann als ihn. Anne fragte sich ernsthaft, ob ihre Mutter den Verstand verloren hatte. Sonst ließ sie sich nicht so schnell beeindrucken. Sie war keine dumme Frau, sie hatte Psychologie studiert und kannte sich aus mit den Menschen. Es war schwer, ihr etwas vorzumachen. Ausgerechnet auf diesen Merymend musste sie hereingefallen. Darüber würde Anne noch nachdenken müssen. Aber erst mal hatte sie genug zu tun mit den Rätseln, die sich plötzlich vor ihr auftaten wie ein schwarzes Loch: Das haarige Ding unter ihrem Bett, die Erdnüsse, die steinerne Frau mit Hut, der unheimliche Laden, der Vogel, der Kreis, das Licht… Und dann natürlich dieser undurchschaubare Herr Merymend, für den Mama so schwärmte. Konnte es sein, dass es in diesem Durcheinander von Dingen eine Ordnung gab, womöglich einen Zusammenhang?

    Nach dem Abendessen hatte Anne sich gleich in ihr Zimmer zurückgezogen.

    „Willst du denn nicht mitspielen?", hatte Papa gefragt, der gerade ein Brettspiel aus der Küchenbank gezogen hatte.

    Anne hatte nur den Kopf geschüttelt. Mama war gleich zu ihr gekommen, um ihr die Stirn zu fühlen.

    „Wirst du krank?"

    Anne hatte mit den Schultern gezuckt und Mama hatte sie gestreichelt.

    „Geh ruhig ins Bett, Anne-Maus. Ich bringe dir gleich noch eine heiße Milch mit Honig. Das hilft bestimmt."

    Anne lag bäuchlings auf ihrem Bett, schlurfte die warme Milch und blätterte in dem Papageienbuch. Es gab viele schöne Papageien. Die Bilder luden zum Träumen ein. Wäre es nicht wundervoll, diese herrlichen Tiere mit eigenen Augen zu sehen?

    Irgendwann werde ich sie sehen. Wenn ich erst mal Zoologin bin, werde ich alle Tiere der Welt sehen.

    Anne lächelte bei diesem Gedanken. Anders als andere Kinder mochte sie nicht in den Zoo gehen. Die eingesperrten Tiere machten sie traurig. Anne liebte Dokumentarfilme. „Serengeti lebt!" hatte sie schon oft gesehen. Papa hatte ihr die DVD zu ihrem letzten Geburtstag gekauft. Seitdem war der Film eine Art Sonntagsritual geworden. In aller Frühe stand Anne auf, machte sich einen Toast, setzte sich dann 60 Minuten auf das Sofa, und genoss die Tiere in der freien Wildbahn, wenn auch nur gefilmte. Solche Tiere wollte sie beobachten und erforschen, wenn sie groß war. Sie konnte sich keinen schöneren Beruf vorstellen als diesen.

    Gedankenverloren blätterte sie eine Seite nach der anderen um. Sie glaubte schon nicht mehr daran, den Vogel aus der Buchhandlung zu entdecken, als sie an der folgenden Überschrift hängen blieb:

    Der Kakapo – gefährdeter Bewohner Neuseelands

    Aufgeregt betrachtete Anne das Bild. Das hier war genau der Vogel, den

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