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Minkwal, Masken und Moneten: Signe Berglund wird kaltgestellt
Minkwal, Masken und Moneten: Signe Berglund wird kaltgestellt
Minkwal, Masken und Moneten: Signe Berglund wird kaltgestellt
eBook292 Seiten3 Stunden

Minkwal, Masken und Moneten: Signe Berglund wird kaltgestellt

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Über dieses E-Book

Zwei Geschichten an zwei ganz unterschiedlichen Orten, die doch zusammenhängen.
Während die erste und einzige schwarze Kriminalommissarin der Reichspolizei in Kalmar mit ihrer Freundin für ein Sabattical in Nuuk auf Grönland weilt, wird sie zufällig in einen Waffenschmuggel hineingezogen, entführt und in einen Kühlraum gesperrt. Und während ihr Körper immer weiter auskühlt, irrlichtert ihr Unterbewusstsein durch Stationen ihres Lebens. Später wird sie, sehr zum Missfallen ihrer Freundin und der grönländischen Polizei, selbst Ermittlungen aufnehmen.
Parallel zu dem arktischen Geschehen, werden in Südschweden mehrfach kleine Dorfsupermärkte überfallen. Immer wieder stürmen drei Personen mit sündhaft teuren und täuschend echten Latexmasken von lebenden oder verstorbenen Prominenten in die Läden, bringen die spärlichen Bareinnahmen an sich, schießen in die Decke und verschwinden wieder. Und natürlich wird auch Robert Ekkheim, ein guter Freund Signes, Zeuge eines Überfalls …
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Nov. 2022
ISBN9783347602045
Minkwal, Masken und Moneten: Signe Berglund wird kaltgestellt
Autor

Ulf Spiecker

Ulf Spiecker, Jahrgang 61, ist gelernter Landschaftsgärtner und studierter Stadtplaner. Er hat unter anderem aber auch in den Schulferien als Maurer gejobbt, neben der Lehre an Autos geschraubt, im Urlaub Ziegen gemolken, während des Studiums mit Verkehrsdaten jongliert, Kindererziehung mit der Herstellung von Gra­ved Lachs verknüpft und ehrenamtlich viel Zeit in Schul­bibliotheken verbracht. Ulf Spiecker lebt und arbeitet in Hamburg – und seit 1994 immer wieder gerne auch in Schweden - wenn nicht gerade eine verdammte Pandemie dazwischen kommt.

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    Buchvorschau

    Minkwal, Masken und Moneten - Ulf Spiecker

    I

    Ein heftiger Stoß in den Rücken ließ die erste und einzige schwarze Kommissarin der schwedischen Reichspolizei in den dunklen Raum hineinstolpern. Nach wenigen ungelenken Schritten prallte sie unsanft gegen etwas Kaltes und wurde dann durch eine träg pendelnde Bewegung umgerissen. Erst fiel sie auf die Knie, dann hinter ihr eine schwere Tür ins Schloss.

    Signe Berglund machte sich gar nicht erst die Mühe, an die Tür zu hämmern und so etwas wie »Lasst mich hier raus!« zu rufen. Die würden sie ganz sicher nicht heraus lassen. Sie konnte froh sein, dass sie noch lebte – auch wenn sie der entscheidenden Frage, wie lange noch, lieber nicht genauer nachgehen wollte. Grundlos hatte man ihr ja wohl bestimmt nicht ihren schönen warmen Parka abgenommen.

    Ihr Kopf schmerzte, aber sie hatte ja auch ordentlich eins übergezogen bekommen. Vorsichtig betastete sie die kapitale Beule. »Dann bin ich hier ja doch richtig, so was soll man ja kühlen!«, dachte sie trocken. Dann begann sie im schummrigen Licht der kleinen Notbeleuchtung ihr Gefängnis zu untersuchen. Der vollständig geflieste Raum besaß keine Fenster, war geschätzt acht Meter lang und fünf Meter breit. Die Deckenhöhe vermutete sie bei gut vier Metern. An ihr waren mehrere Reihen mit Schienen befestigt, von denen große Haken herabhingen. Nicht nur der Geruch ließ keinen Zweifel daran, dass dieser Raum der Lagerung von Meerestieren diente: An einem der schweren Haken hing leicht schaukelnd ein großer

    Fisch herab. »Wahrscheinlich hat der mich eben umgehauen!«, mutmaßte Signe Berglund und sah das tote Tier feindselig an. Auch wenn sein Kopf nicht gefehlt hätte, wäre sie mangels maritimer Kenntnisse nicht in der Lage gewesen, ihn näher zu bestimmen. Über der Tür, von wo aus auch die einzige Lichtquelle ihr funzeliges Licht verbreitete, summte leise ein von einem stabilen Metallkäfig geschützter Kompressor – vermutlich der, der für die verdammte Kälte hier verantwortlich war. Neben der Tür war ein weiterer kleiner Drahtkäfig. Der schützte ein Thermometer. Es zeigte -2ºC.

    »Immerhin«, dachte Signe Berglund. »Besser als -20ºC! Aber leider ändert das nichts Grundsätzliches, ich habe wohl nur ein bisschen mehr Zeit …« Sie überlegte, was am klügsten sei, entweder herumzugehen und sich zu bewegen, den Kreislauf in Schwung zu halten, dafür aber viel Energie zu verbrauchen oder sich zusammenzukauern, um der Kälte möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Sie entschied sich für Letzteres, lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und rutschte in die Knie. Sie umschlang ihre Beine und vergrub ihren Kopf zwischen den Armen, sodass sie die eisige Luft nicht direkt einatmete. Sie begann mit sich zu hadern, alleine zum Fischmarkt vorgegangen und so verdammt neugierig gewesen zu sein. »Sehr viel schlimmer hätte es in der Boutique auch nicht kommen können!«, dachte sie sarkastisch. Dann fiel ihr Ella ein und sie machte sich Sorgen. Und dann kam die Panik. Sie kam nicht angeschlichen, sie sprang sie mit aller Macht an. Signe versuchte, an nichts zu denken, schon gar nicht dieses sie jetzt immer aufs Neue wellenartig überrollende Gefühl der Heidenangst zuzulassen. Auch die Kälte wurde irgendwann zunehmend spürbarer. Sie zitterte am ganzen Körper. »Jetzt hätte ich gerne doch noch ein großes Stück von dieser höllischen Delikatesse!«, dachte sie.

    Signe Berglund merkte, wie sie langsam träger und die Panik immer größer wurde. Sie zwang sich an Schönes zu denken, bemühte Erinnerungen an ein behütetes Früher, an ihre Kindheit – und glitt in ein barmherziges Zwischenbewusstsein. Es war, als würde sie sich in ihrer Vergangenheit selbst beobachten.

    Das kleine Mädchen hockte auf einem flachen Felsen, hielt mit seinen dünnen schwarzen Ärmchen seine Knie umschlungen und starrte gebannt vor sich ins Wasser. Es war von dem, was es sah, so abgelenkt, dass es nicht hörte, wie es immer ungeduldiger gerufen wurde. »Warum antwortest du denn nicht?«, fragte eine Frau in einem leichten Sommerkleid, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah das Mädchen ein bisschen vorwurfsvoll an. Das Mädchen drehte den Kopf und sah hoch. Die Frau wusste nicht, ob das Mädchen sein Gesicht verzog, weil es von der Sonne geblendet wurde oder ob es lächelte. Dann deutete das Mädchen in das flache Wasser. »Da!« sagte es verzückt und zeigte auf die vielen winzigen Flusskrebse, die sich fast noch durchsichtig im sonnendurchfluteten Wasser tummelten.

    Die Frau ging neben dem Mädchen in die Knie, legte ihm den Arm um die schmalen Schultern und schaute mit dem Mädchen zusammen ins Wasser. Leise erklärte sie dem Kind, was sie da sahen, und sie erzählte auch vom Kräftskiva, dem Krebsfest im August. »Erinnerst du dich noch daran, wie wir letztes Jahr mit unseren Freunden und den ganzen anderen

    Kindern gefeiert haben? Und wie du ganz alleine die Krebse ausgepult und dann gegessen hast? Diese hier werden auch mal so groß und vielleicht essen wir dann nächstes Jahr sogar welche von diesen hier.« Empört sah das Mädchen die Frau an.

    Signe Berglunds gesamter Körper fühlte sich an, als würde er mit unzähligen Nadelstichen malträtiert. Ihre Arme und Beine waren taub, Finger und Zehen schmerzten. Sie zitterte wie Espenlaub und ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie drohte wegzudämmern. Aber das war ihr zunehmend gleichgültig. Mit größter Anstrengung gelang es ihr dennoch, sich erneut auf wohlige Kindheitserinnerungen zu fokussieren. Immer neue Sequenzen aus ihrem Leben gingen ihr durch den Kopf und überlagerten für einen Moment ihre schier aussichtslose Situation. Wieder war es, als ob sie von fern ihrer eigenen Geschichte zusah.

    Das kleine Mädchen wollte nicht mitkommen. Es wollte spielen. Mit seinen Pferden. Am liebsten am See, wo man zwischen den Felsen mit Kieseln und kleinen Stöcken so tolle Häuser für die Pferde bauen konnte. Der Mann beugte sich zu dem Mädchen hinunter. »Aber du kannst doch nicht ganz alleine hierbleiben!«, sagte er und sah es an. »Weißt du was? Du kannst ja zu den Spielsachen gehen, während wir nach einer Lampe suchen!«, schlug er vor. »Genau«, ließ sich jetzt die Frau ebenfalls vernehmen, »du darfst dir dann ausnahmsweise auch was aussuchen!« Das kleine Mädchen legte den Kopf schief und überlegte. »Und wir könnten danach auch noch ein Eis essen gehen!«, legte der Mann nach. Das Kind lächelte erwartungsvoll, ergriff die Hände seiner Eltern und hüpfte zwischen ihnen zum Auto.

    Sobald sie den großen Loppis betreten hatten, winkte das

    Mädchen und ging zielstrebig zu der Spielzeugabteilung des Secondhand-Marktes, die jedes Mal wieder spannende neue Abenteuer bereit hielt. Jedes Mal gab es wieder neue Sachen zu entdecken und man konnte alles in Ruhe angucken und ausprobieren, ohne dass sofort ein Erwachsener kam. »Lauf aber nicht weg!«, hörte es noch den Mann rufen, aber das hatte es sowieso nicht vor. Weder wollte es gefährden, sich etwas aussuchen zu dürfen, noch das leckere Eis, was es seiner Meinung nach eh viel zu selten gab. Es sah sich jetzt um, lief neugierig zwischen den bunt bestückten Regalen hin und her und blieb plötzlich wie angewurzelt vor einem feuerroten Kettcar stehen. Vorsichtig legte es seine kleine schwarze Hand auf das Lenkrad und ließ sie über das cremeweiße Plastik gleiten. Es fasste ein wenig fester zu und sah fasziniert, wie sich die Vorderräder leise quietschend über den blank gebohnerten Boden hin und her bewegten.

    »Na, hast du was Schönes gefunden?«, hörte es den Mann fragen. Das Mädchen drehte sich um, hatte keinen Blick für die Lampe, die der Mann im Arm trug und nickte heftig. »Das da!«, flüsterte es andächtig und zeigte auf das Kettcar. Dem Mann blieb vor Überraschung der Mund offen stehen und die Frau fing an zu lachen. »Na, da haben wir wohl jetzt ein Problem! Wir hätten mit unserm Versprechen doch etwas präziser sein müssen!« Sie lachte noch immer. »Willst du nicht lieber nach einem Pferd für deine Sammlung gucken?«, fragte der Mann zaghaft. Das Mädchen sah ihn an, als ob es nicht glauben konnte, wie man so etwas Abwegiges überhaupt fragen konnte. Energisch schüttelte es dann den Kopf. Der Mann sah die Frau ratlos an, was sie wieder lachen ließ. »Du hast ihr das doch versprochen«, sagte er leicht vorwurfsvoll. »Also bitte, mach irgendetwas!« Die Frau lachte noch immer, drehte das

    Preisschild, las 150 Kronen¹, sah kurz zu dem hoffnungsvoll blickenden Mädchen, ergriff das Kettcar am Lenkrad und ging mit ihm zur Kasse. Der Mann sah ihr kopfschüttelnd nach, kratzte sich resigniert an der Stirn, drehte sich dann dem Mädchen zu, blickte in ein überglückliches, strahlendes Kindergesicht und lächelte.

    Kaum dass sie zu Hause waren, verwuchs das Mädchen mit dem Kettcar, verließ ihn nur, wenn es Zeit war, zu Bett zu gehen oder um kurz zu essen. Es raste um Ecken, bremste schleudernd auf der Auffahrt, forderte die Nachbarskinder zu Wettfahrten und ließ sich auch von Regen nicht aufhalten. »Meine Reifen brauchen Feuchtigkeit!«, sagte es dann und suchte sich stets die größten und tiefsten Pfützen.

    *

    Viggo Henriksson, Signe Berglunds Stellvertreter und aufgrund seiner Größe, der Farbe seiner Haarpracht, seiner tiefen brummigen Stimme und seiner politischen Gesinnung intern roter Bär genannt, saß schlecht gelaunt an seinem Schreibtisch. Missmutig blätterte er durch die Fälle der letzten Wochen. Sechs Raubüberfälle auf kleinere Supermärkte in nur zehn Tagen! Jedes Mal waren kurz vor 21:00 Uhr, wenn der Kundenstrom zum Erliegen gekommen war und die kleinen Läden auf den Dörfern schlossen, drei Männer in die Läden gestürmt, hatten mit Schusswaffen das Kassenpersonal bedroht und Bargeld gefordert. Danach verschwanden sie wieder genau so schnell, wie sie gekommen waren; allerdings nicht, ohne vorher ein, zwei oder drei Warnschüsse in die Decke abgefeuert zu haben. Zwei Dinge waren auffällig: Erstens

    benutzten sie, wie die Ballistiker verwundert feststellten, stets andere Waffen, auch wenn es sich fast jedes Mal um die gleichen Fabrikate aus dem ehemaligen Ostblock handelte. Zweitens trugen die Räuber immer täuschend echt aussehende Latexmasken. Auf die Sache mit den Masken war man gekommen, als alle Augenzeugen des letzten Überfalls übereinstimmend zu Protokoll gaben, zweifelsfrei die beiden ABBA-Ikonen Benny Anderson und Björn Ulvaeus, sowie Dean Martin erkannt zu haben.

    Als daraufhin ein blutjunger und sehr eifriger Kollege sofort losstürmen wollte, um besagte Herren notfalls auch mit polizeilichen Zwangsmaßnahmen ins Präsidium zu zerren, gelang es Viggo Henriksson nur zusammen mit seinem Kollegen Oscar Lind, den jungen Heißsporn daran zu hindern, sich und die Polizei zum Drummel, zum Trottel zu machen.

    »Signe hat’s richtig gemacht! Einfach mal eine Auszeit mit der Liebsten nehmen …«, stellte Viggo fest und überlegte, wohin er denn mit seiner Frau fahren würde. »Jedenfalls nicht nach Grönland wie die beiden!«, dachte er und fröstelte schon bei dem Gedanken. Lächelnd musste er an Signe denken, die ihm ihr Leid geklagt hatte, dass Ella sich über sie lustig machen würde, weil sie vor hatte, zwei bis drei Koffer mit Wintersachen mitzunehmen. »Ich liebe zwar die Ästhetik des ewigen Eises, aber ich friere doch nicht gern«, hatte sie gesagt und dabei wirklich bemitleidenswert ausgesehen. »Na ja«, dachte Viggo dann, »die letzten paar Wochen wird sie nun auch noch überstehen!«

    ¹ 150,- Schwedische Kronen entsprechen etwa 15,- €

    II

    »Ich geh schon mal vor! Lass dir aber ruhig Zeit!«, sagte Signe. Ella sah sie an. »Du könntest ja auch mal gucken, ob du zur Abwechslung vielleicht mal etwas Warmes und Hübsches findest!«, grinste sie und spielte auf Signes übergroßen Parka an, dessen grelles Orange jeder Warnbake zur Ehre gereicht hätte. Und dessen Schnitt keinerlei Bezug auf Körperformen nahm, dafür aber eine Komfortzone bis mindestens -20ºC garantierte und zusätzlich noch beliebig vielen Pullovern Aufnahme bot. Signe schüttelte energisch den Kopf, küsste Ella zum Abschied und verließ die kleine Boutique, um die unzähligen steilen Holzstufen in Richtung Fischmarkt hinabzusteigen.

    Ella war in ihrem Element. Neugierig und akribisch durchstöberte sie den kleinen Laden, der das gesamte Erdgeschoss eines typischen grönländischen Holzhauses einnahm. Der kleine lederne Flechtkorb, mit dem Ella nun zur Kasse ging, war gut gefüllt. Neben Figuren aus Speckstein und Rentierknochen lag auch ein Ulu, das ebenso traditionelle wie universelle Inuitmesser. Nun musste sie sich unbedingt noch ein kleines, sehr scharfes und stabiles Jagdmesser kaufen. Etwas, dass sie schon als Kind haben wollte, was ihr Vater aber mit dem Hinweis auf dessen Gefährlichkeit strikt unterbunden hatte – und später einfach in Vergessenheit geraten war. Den sündhaft teuren Pullover aus leichter und weicher Moschusochsenwolle für Ihre Liebe, der, glaubte man der Verkäuferin, viel besser wärmen würde als die feinsten Daunen, war sie froh, mit ihrer Kreditkarte bezahlen zu können – so viel Bargeld trug kein normaler Mensch mit sich herum.² Nun endlich stieg auch sie mit ihren Einkäufen die Treppe zum Fischmarkt hinab.

    *

    Signe Berglund betrat einen lang gestreckten offenen Holzbau. Auf alten, stabilen, blank gescheuerten Holztischen wurde von Fischern und Robbenjägern das feilgeboten, was sie früh morgens aus dem Eismeer angelandet und nicht an die staatliche Royal Greenland verkauft hatten, die die weite Welt mit Fisch und Schalentieren aus arktischen Gewässern belieferte. Fasziniert betrachtete Signe die Vielzahl und Größe des Meeresgetiers in den Auslagen. Wie angewurzelt blieb sie alsdann vor einer aufgebrochenen, über zwei Meter langen Robbe stehen, neben der einige tiefrote Fleischstücke lagen, die schon ob ihrer Größe und weil die Darbietung von Moschusochsenhälften auf Fischmärkten eher unwahrscheinlich ist, nur von einem Wal stammen konnten. Mit Mühe widerstand Signe dem Impuls, ihre Kamera hervorzuholen und einige Fotos zu machen. Als ihr dann lächelnd ein Stück schwarzes Fleisch auf einem Messer gereicht wurde, wollte sie spontan zugreifen. Entsetzt wehrte der Mann ab und gab ihr stattdessen das Messer. »Ulisimali«, erklärte er auf das Fleisch deutend und noch immer grinsend. Das Wort hatte Signe schon mal im Zusammenhang mit einer grönländischen Delikatesse gehört, hatte aber längst vergessen, dass

    es sich dabei um rohes, fermentiertes Robbenfleisch handelte. Beherzt zog sie das etwas streng riechende Stück Fleisch mit ihren Zähnen von der rasiermesserscharfen Klinge.

    Obwohl Signe sich nicht entsinnen konnte, jemals auf einer Schuhsohle oder einem Dichtungsring herumgekaut zu haben, war sie sicher, dass das Stück Fleisch in ihrem Mund genau deren Konsistenz entsprach. Mühsam kaute sie das zähe Fleisch und plötzlich schossen explosionsartig scharfe Gase in all ihre Nebenhöhlen und bliesen diese schlagartig frei. Im selben Moment wurden in ihrem Körper unzählige Feuer entfacht, sie bekam heftige Schweißausbrüche und ihr Blick wurde von einem Schwall Tränen getrübt. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich comicgleich mit abstehenden Haaren, qualmenden Ohren und weit aufgerissenen, aus den Höhlen tretenden Augen. »Good?«, fragte der Mann lachend in einem harten, kehligen Englisch. »Das ist Medizin – gegen Kälte!« Signe nickte mit Tränen in den Augen. Der Fischer hielt ihr auffordernd ein weiteres Stück hin, aber Signe wehrte dankend ab und verließ schnellen Schrittes den Holzbau durch eine kleine Seitentür.

    Signe Berglund setzte sich auf einen Stapel flacher Fischsteigen, die überall auf dem kleinen Hofplatz herumstanden, und japste nach Luft. Langsam normalisierte sich ihre gefühlte innere Temperatur. Sie stand auf, streckte sich und ließ die klare und kalte Luft in ihre Lungen strömen. »Puh, so ähnlich muss das Fegefeuer sein!«, dachte sie etwas gequält und setzte sich wieder. Dabei verrutschte die obere Kiste.

    Sie bückte sich, wollte sie wieder gerade rücken und stutzte. Im Schotter vor ihren Füßen lag ein kleiner schwarzer USB-Stick. Sie hob ihn auf, rieb ihn trocken und betrachtete ihn. Dabei streifte ihr Blick die verrutschte Kiste. Sie erkannte irgendwelche kyrillisch anmutenden Schriftzeichen, aber was sie noch sah, ließ alles andere in den Hintergrund treten. Sie ließ den USB-Stick achtlos in eine ihrer vielen Parkataschen gleiten und hob die obere Steige ab. Darunter fand sie, in handelsübliche Gefrierbeutel verpackt, verschiedene Pistolen. Auf Anhieb erkannte sie russische Makarows, tschechische CZ75 und ukrainische Fort 12. Die nächste Steige enthielt ausschließlich alte Zastava aus jugoslawischer Produktion. Signe Berglund zählte insgesamt vierundzwanzig Pistolen. Sie blickte sich um. Den horizontal auf sie zurasenden Knüppel realisierte sie nur schemenhaft, hatte keine Chance zu reagieren und klappte schwer getroffen zusammen.

    *

    Ella war bereits etwa die Hälfte der Treppe herabgestiegen, als sie sah, wie zwei Männer jemanden in einem riesigen orangefarbenen Parka auf einen silbernen Pick-up schmissen. Anschließend zerrten sie eine Plane über die Ladefläche, öffneten die mit großen grün-roten Emblemen versehenen Wagentüren und starteten den Motor. Ella war wie erstarrt. Dann setzte sie sich in Bewegung.

    Natürlich war der Pick-up längst verschwunden, als Ella den kleinen Innenhof erreichte; war gerade noch als daumenbreiter bewegter Fleck am Ende der Küstenstraße auszumachen. Hektisch sah sich Ella um und hatte Glück: Weil hier nicht nur das Nationalmuseum und das Tourismusbüro lagen, sondern auch die ausgebooteten Ausflügler der auf Reede liegenden Kreuzfahrtschiffe an Land gingen, warteten in der Nähe immer einige Taxis auf Fahrgäste. »Schnell, folge dem silbernen Pick-up da vorne!«, stieß Ella atemlos aus, als sie sich auf den Beifahrersitz eines der schwarzen Taxis schwang. Der Fahrer sah sie daraufhin geradezu verklärt lächelnd an. In seinem ganzen Leben hatte er nicht erwartet, diesen geheimsten aller seiner Wünsche – eben genau diese Aufforderung – hier in Nuuk einmal ernst gemeint zu Gehör zu bekommen! Während in irgendwelchen Filmen Verfolgungsfahrten mindestens kreuz und quer durch riesige Metropolen, manchmal durch das ganze Land führten, gab es für die knapp 18.000 Seelen in Nuuk auf ihren knapp 12 qkm Stadtfläche ja nur ein paar armselige Straßenkilometer. Und die meisten davon lagen auch noch in kleinen Wohn- und Siedlungsstraßen – und wie überall in Grönland war kein Ort mit einem anderen über eine auch noch so traurige Straße verbunden. Insgesamt also wirklich keine guten Rahmenbedingungen für eine rasante Verfolgungsjagd! Immerhin gab es in Nuuk jedoch zwei Ampeln, die man in halsbrecherischer Fahrt bei Rot überfahren konnte, um den Anschluss an sein Zielfahrzeug nicht zu verlieren.

    Noch immer starrte der Fahrer glücklich, aber regungslos zu Ella. Ungeduldig sah diese ihn an und machte eine auffordernde Handbewegung. Mit laut quietschenden Reifen nahm das Taxi abrupt Fahrt auf. Rücksichtslos und materialschindend peitschte der Fahrer den kalten Motor zu schwindelerregenden Drehzahlen und bretterte durch die Straßen. So etwas hatte er bisher nur einmal aus Frust gemacht – als seine Frau ihm vor wenigen Wochen die Tür gewiesen hatte, nachdem er sich alkoholschwanger vor schadenfreudig feixenden Kumpanen gebrüstet hatte, sie betrogen zu haben. Das war für den scheuen Blick und das eher linkische Lächeln, mit dem er eine junge Kreuzfahrerin bedacht hatte eine maßlose Aufschneiderei, was seine die ganze Zeit neben ihm stehende Frau aber natürlich nicht wusste. Aber all das kannte er eh nur aus Erzählungen, viel zu viel hochprozentiger Schneehuhnschnaps³ war an diesem unglückseligen Abend unverdünnt durch seine Kehle geflossen.

    Nun folgte das Taxi dem staubigen Asphaltband, bog unter Missachtung der Vorfahrt, dafür mehrfach hupend, auf die Hauptstraße und fuhr kurz darauf an dem modernen schicken Einkaufscenter vorbei. Vor ihnen tauchte eine Ampel auf, die zum großen Bedauern des Fahrers Grün zeigte. Sie konnten einfach völlig unspektakulär und im Einklang mit den Verkehrsregeln abbiegen. Aber der Fahrer wusste natürlich auch, dass sich ihm gleich noch eine zweite Chance bot: Nur einige Hundert Meter weiter stand seit einiger Zeit ja die zweite Ampel Grönlands! Als auch diese auf Grün stand, bremste der Fahrer den Wagen hart ab, was dazu führte, dass in den nachfolgenden Autos mal mehr, mal weniger schimpfend

    über seinen Geisteszustand spekuliert wurde. Ungeachtet dessen kam das Taxi nun fast zum Stehen, schlich im Schritttempo auf die Ampel zu, was Ella jetzt bewog, lautstark die Frage nach seinem Geisteszustand aufzugreifen. Stoisch ließ sich der Taxifahrer von den nachfolgenden Fahrern mal kopfschüttelnd, mal unmissverständlich gestikulierend überholen.

    Als die Ampel endlich auf Gelb sprang, beschleunigte das Taxi wieder. Penetrant hupend überfuhr es dann zügig die längst auf Rot umgeschaltete Lichtzeichenanlage und scheuchte einige Fußgänger zurück auf den rettenden Gehsteig. »Das war doch Anarteq«, kam es aus dem Pulk der dem davonrasenden Taxi kopfschüttelnd hinterherblickenden Menschen. »Der Jäger ist halt nur das, was seine Frau aus ihm macht«, kam es von jemandem aus der Menge. – »Der fährt heute wieder wie ein Tupilaq⁴«, bemerkte ein anderer. Jetzt nickten die Menschen. Einige lachten. Man kannte sich halt. Und seine Geschichten.

    Das Taxi hatte mit seiner halsbrecherischen Fahrt gegenüber dem Pick-up Strecke gut gemacht. Der Fahrer ließ es, um nicht entdeckt zu werden, nun geruhsamer angehen. Sie beobachteten, wie der Pick-up an einem Verkehrskreisel rechts hinausfuhr, und folgten ihm. Als dann ein älterer Mann am Straßenrand

    winkte, hielt der Taxifahrer erfreut an und ließ das Fenster hinunter. Ebenso laut wie gestenreich erzählte er dem Mann irgendetwas und da Ella kein Wort verstand, sprachen sie wohl grönländisch miteinander. Da aber immer wieder auf sie und auch auf den Pick-up gezeigt wurde,

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