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Die Katakomben
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eBook435 Seiten5 Stunden

Die Katakomben

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Über dieses E-Book

Auf dem Planeten Hera mehren sich die Anzeichen einer Katastrophe: Ozeane trocknen aus, Dürre entsteht, Trinkwasser wird knapp, dekadente Stadtstaaten beherrschen die Welt und sehen dem schleichenden Untergang tatenlos zu. Metalle sind so kostbar geworden, dass Männer für sie in den Krieg ziehen würden. In diesen unheilvollen Zeiten sucht das Böse die alte Stadt Pangaion heim. Ein untoter Zauberer schmiedet in den Tiefen der Katakomben finstere Pläne …
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum30. Okt. 2023
ISBN9783864029110
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    Buchvorschau

    Die Katakomben - Patrick J. Grieser

    I. Abschied

    Aus der Ferne wirkte die Stadt Pangaion wie das riesige Skelett einer urzeitlichen Bestie. Inmitten der kargen Landschaft bohrten sich Türme und Zikkurate in den blutroten Himmel. Im Licht der untergehenden Sonne wirkten die meisten Backsteinbauten, mit ihrem unverputzten ausgefugten Mauerwerk, eintönig und verlassen.

    Pangaion hatte schon viele Tragödien erlebt. Hungersnöte und Seuchen wüteten in den verwinkelten Gassen und hinterließen ihre Narben.

    Nur wenige Bewohner ließen sich auf den öffentlichen Plätzen blicken. Aus den Tavernen erklangen wehmütige Lieder, die an bessere und ruhmreichere Tage erinnerten. Wachposten patrouillierten vereinzelt auf den verwitterten Stadtmauern. Eine Mauer aus dunkelroten Backsteinen verlief ringförmig um die ganze Stadt. Viele Heerführer, deren Gebeine längst zu Staub zerfallen waren, hatten in der Vergangenheit erfolglos versucht, den Ringwall zu stürmen. Zwei weitere Stadtmauern teilten Pangaion in vier Bezirke auf. Die Bezirke trennten die gesellschaftlichen Klassen und Gilden voneinander und waren unter den Namen Gloria, Sinister, Deneb und Magneta bekannt. »Exulcum Gloria Magneta Deneb Sinister« lautete ein Sprichwort in der Sprache der Erbauer der Stadt, was soviel bedeutete wie: »Auch wenn die Finsternis kommt, mögest Du auf ewig leuchten, oh glorreiche Stadt!«

    Im Zentrum von Pangaion trafen sich die beiden inneren Stadtmauern. An diesem Schnittpunkt erhob sich der Palast des Triumvirates. Vielfarbige Glasfenster durchsetzten die dünnen Wände, um das Licht der Außenwelt, im Inneren des Palastes, in einen übernatürlichen Farbglanz zu verwandeln. Durch die wochenlange Dürreperiode hatte sich ein unangenehmer Geruch in den Hallen des Triumvirates festgesetzt.

    Der ehrenvolle Memnon, Mitglied des Triumvirates, eilte durch die ausgestorbenen Hallen. Seine Diener, die ihn auf Schritt und Tritt begleiteten, hielten einen respektvollen Abstand zu ihm ein. Er trug eine weiße von Goldfäden durchzogene Tunika, auf der kunstvoll das Emblem des Triumvirates eingenäht war: drei Zyklopenaugen, die ein auf dem Kopf stehendes Dreieck bildeten. Das Kraushaar des alten Mannes wirkte durch die hohen sommerlichen Temperaturen fettig und eingefallen. Der strenge Duft von Moschus umgab ihn wie eine unsichtbare Wolke.

    Seine Gesichtszüge wirkten angespannt; der abwesende Blick seiner Augen deutete darauf hin, dass das Oberhaupt von Pangaion mit seinen Gedanken ganz woanders war.

    Er durchquerte ein weiteres Portal, das sich aus zwei dunkelroten Kreisbögen zusammensetzte. Die Wachposten salutierten kurz, als das Mitglied des Triumvirates an ihnen vorbeieilte. Sie trugen Lederrüstungen, die mit kostbaren Metallstreifen versehen waren. An den Seiten hatten sie Stahlschwerter gegürtet. Die Ausrüstung der Wachen spiegelte den unglaublichen Reichtum des Triumvirates wider. Auf ganz Hera waren Metalle eine Seltenheit. Es gab kaum Erzvorräte und die meisten Waffen und Artefakte wurden aus Steinen oder Knochen hergestellt. Vor den Toren von Pangaion befand sich eine kleine Eisenmine. Doch die Förderung des wertvollen Metalls reichte gerade aus, um die Elitetruppen des Triumvirates auszurüsten.

    Eine massive Tür lag auf der anderen Seite der Halle und fesselte Memnons Aufmerksamkeit. Zielstrebig marschierte er vor das Holzportal, in dessen Oberfläche man einen wütenden Stier geschnitzt hatte. Er verharrte für einige Augenblicke in seiner Bewegung und musterte die bestialische und wütende Fratze des Stieres. Seine Diener tauschten unsichere Blicke aus. Ihr Herr kochte vor Wut, der Stier mit dem schäumenden Maul spiegelte seine gegenwärtige Gemütslage wider.

    Memnon schien aus seinen Gedanken zu erwachen, denn er schüttelte kurz den Kopf und öffnete dann hastig das schwere Portal. Dahinter lag ein kleiner Raum, der hinaus auf den Balkon des Palastes führte. Der alte Mann trat ins Freie. Die Sonne war nur noch ein winziger Streifen am Horizont. Einige Sterne zeichneten sich blass am Himmelszelt ab. Die sengende Hitze des Tages war verschwunden und hatte den kalten Nachtwinden Platz gemacht. Er fröstelte. Von dem Balkon hatte man einen großartigen Ausblick auf die Bezirke Gloria und Sinister. In den Häusern und Türmen von Gloria brannten bereits viele heimelige Lichter. Der Bezirk Sinister jedoch war in vollkommene Dunkelheit getaucht. Ein größerer Kontrast, als diese beiden Stadtdistrikte, war kaum denkbar. Während sich in Gloria der Rat der Ältesten sowie eine große Anzahl von Kanzleien und Villen befanden, war Sinister eine Zufluchtsstätte für Meuchelmörder, Diebe und Gesetzlose. Die Stadtmauer trennte, als sichtbare Linie, beide Areale voneinander. Zum Schutze gegen dieses Gesindel hatte man Fackeln auf der Stadtmauer entzündet. Niemand konnte unentdeckt die Mauern erklimmen.

    Doch Memnons Augenmerk richtete sich nicht auf den Anblick von Pangaion, sondern auf eine überdimensionale Liege mit purpurfarbenen Kissen. Der kolossale Körper eines glatzköpfigen Mannes mit aufgeschwemmtem Gesicht ruhte darauf. Wie eine fette Raupe lag Ptolos auf den Kissen und starrte hinaus auf die Stadt. In seinen fleischigen Händen hielt er einen wertvollen Zinnbecher, der randvoll mit Wein gefüllt war. Die breite Stirn des Mannes glänzte feucht.

    Er näherte sich Ptolos, der mit ihm und dem verhassten Aurelis seit fünf Jahren das Triumvirat bildete. Ein Geruch aus Schweiß und Wein wehte ihm entgegen, als er zu seinem politischen Gefährten trat. Hinter der Liege standen Ptolos’ Gespielin und sein schwarzhäutiger Leibwächter.

    Ptolos starrte ihn mit seinen kleinen Schweinsaugen an. Wie immer klebten noch Essensreste an seinem Mund.

    »Seloi! Ich grüße Euch, werter Memnon. Ihr müsst verzeihen, aber ich habe es in diesem Gemäuer nicht mehr ausgehalten. Ich schwitze schon den ganzen Tag wie ein aufgeblähtes Schwein. Nur die kühle Nacht verspricht Besserung.« Seine Stimme klang wie das aufgebrachte Schnauben eines Tieres. Kurzatmig, wie er war, musste er nach jedem längeren Satz tief Luft holen.

    »Wir müssen reden«, erwiderte Memnon forsch. Ptolos’ Lebensstil gefiel ihm nicht, doch sein Gefährte besaß ein eiskaltes politisches Kalkül, welches sie damals an die Spitze der Macht gebracht hatte. Er wusste genau, wie man durch geschickte Intrigen das wichtigste Verfassungsorgan der Stadt, den Rat der Ältesten, beeinflussen konnte.

    »Meine Güte, Ihr seid aber heute in einer ganz und gar schlechten Laune, werter Memnon!«, nuschelte Ptolos. »Also, was kann ich für Euch tun?«

    »Es geht um diesen Taugenichts Aurelis. So langsam bereue ich es, dass wir ihn nicht getötet haben.«

    Ptolos’ Miene verdüsterte sich. Aurelis gehörte als drittes Mitglied dem Triumvirat an. Sie mochten den ehemaligen Gladiator nicht, doch dieser stand bei den Gildenhäusern in hohem Ansehen.

    Nachdenklich leckte er sich seine fettigen Finger ab und versuchte sich dann von seiner Liege zu erheben. Wie auf Befehl eilte der schwarzhäutige Diener an seine Seite. Die Muskeln des Farbigen spannten sich unter dem grob gewebten Hemd, als er seinem Herrn beim Aufstehen half. Als Ptolos schließlich auf den Beinen stand, schnappte er in unregelmäßigen Zügen nach Luft.

    »Was ist es diesmal?«, hauchte er nervös, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. Unsicher wankte er zur Brüstung des Balkons.

    »Ich glaube, Aurelis plant etwas. Es muss irgendetwas vorgefallen sein. Ich weiß nicht, wie er sich Euch gegenüber verhält, aber mir geht er in der letzten Zeit ungewöhnlich oft aus dem Weg. Er grüßt nicht mehr, und wenn ich mit ihm sprechen will, dann hat er keine Zeit.«

    »Ach, Memnon, ich weiß nicht, ob …«

    »Aurelis kann uns gefährlich werden, soviel ist sicher. Er würde uns lieber tot als lebendig sehen. Wieso schließt er sich die ganze Zeit in seinen privaten Gemächern ein? Ich sage Euch, er verheimlicht uns etwas.«

    »Ich weiß nicht …«, setzte Ptolos erneut an, doch Memnon ließ ihn wiederum nicht zu Wort kommen. Sein Gesicht hatte sich jetzt in eine dämonische Fratze verwandelt.

    »Seid Ihr wirklich so blind, Ptolos? Aurelis hat etwas vor. Wenn wir nicht handeln, werden schon bald unsere Gebeine in der Krypta des Shapir-Tempels ruhen.«

    »Wir sollten abwarten. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir ihn jetzt töten würden. Das Volk liebt ihn. Sein Tod würde ein schlechtes Licht auf das Triumvirat werfen. Versteht Ihr?«

    Wütend schüttelte Memnon den Kopf. Er empfand einen abgrundtiefen Hass auf Aurelis, den er sich selbst nicht erklären konnte. Vielleicht war er auch einfach nur eifersüchtig. Eifersüchtig auf das Ansehen, das dieser bei den Bewohnern von Pangaion genoss. Aurelis der Wohlgesonnene! Er knirschte mit den Zähnen, als ihm dieser Beiname einfiel.

    Plötzlich entstand auf der gegenüberliegenden Stadtmauer, welche die Bezirke Gloria und Sinister voneinander trennte, Leben. Die Wachen liefen ans Ende der Mauer und starrten in die Tiefe. Aufgeregte Stimmen drangen an ihre Ohren, als sie gleichgültig das Geschehen vom Balkon aus beobachteten. Einer der Wächter riss eine Fackel aus der Verankerung und ließ diese in die Tiefe fallen. Für einen kurzen Augenblick konnten sie die Umrisse eines Mannes erkennen, der die Mauer emporkletterte, um in den Distrikt von Gloria einzudringen. Durch Zeichen verständigten sich die Wachen untereinander. Einer nahm seinen Langbogen von der Schulter. Ganz langsam legte er einen Pfeil auf die Sehne und spähte über die Brüstung. Eine weitere Fackel fiel in die Tiefe. Innerhalb eines Wimpernschlages ließ der Wächter die Sehne des Bogens los. Mit irrwitziger Geschwindigkeit verschwand der Pfeil in der Dunkelheit. Ein lang gezogener Schrei zerriss die Stille, dann fiel etwas Schweres auf den gepflasterten Boden unterhalb der Mauer. Die Wächter jubelten und klopften dem Schützen anerkennend auf die Schulter.

    »Ein grauenhafter Tod! Aber einige Lebensmüde versuchen es immer wieder«, bemerkte Ptolos trocken. »Nun, werter Memnon, wir sollten nichts überstürzen und die nächsten Tage abwarten. Ich bin sicher, dass es eine Erklärung gibt.«

    »Fünf Tage. Mehr nicht. Sollte er sich dann immer noch so seltsam verhalten, werde ich handeln«, erwiderte Memnon mit düsterer Miene.

    In diesem Augenblick drängte sich Thrakus, der Magnat der Eisenminen, mit seinen Dienern und Leibeigenen auf den Balkon des Palastes. Sein drahtiger Körper wurde von einem dunkelgrauen Mantel, mit dem Wappen eines kämpfenden Zentauren auf einem Karomuster, fast vollständig bedeckt. An der Seite trug er ein Schwert aus Stahl, dessen Griff mit Smaragden besetzt war. Sein Gesicht war ungewöhnlich blass. Die azurblauen Augen hatten jeden Glanz verloren, und die dunklen Augenringe verliehen ihm ein geradezu gespenstisches Aussehen.

    »Seloi, mächtiger Memnon! Seloi, mächtiger Ptolos!«, grüßte er mit seiner wohlklingenden Stimme und verbeugte sich dabei vor den Mitgliedern des Triumvirates. Die Armbänder an seinen Handgelenken klirrten leise. Memnon verdrehte die Augen.

    »Seloi, Thrakus! Ihr seht … schlecht aus«, quiekte Ptolos und klatschte aufgeregt in seine fetten Hände.

    »Bei den Göttern, ich weiß! Die Diebesgilde wollte mich vergiften! Dank den heilenden Händen meines Priesters konnte Schlimmeres verhindert werden.«

    »Ihr habt den Schuldigen stellen können?«, erkundigte sich Ptolos mit gespielter Sorge.

    »Den Schuft habe ich vierteilen lassen und seine Eingeweide den Hunden und Aasgeiern zum Fraß vorgeworfen.« Thrakus und Ptolos lachten laut auf. Memnon blickte teilnahmslos auf die Stadt. In der Ferne glaubte er die gewaltige kuppelförmige Arena und die angrenzende Sklavengrube zu erkennen.

    »Magnat, warum seid Ihr gekommen?«, fragte er schließlich und drehte sich von der Brüstung weg. Augenblicklich verschwand Thrakus’ Lächeln aus seinen Gesichtszügen. Er räusperte sich kurz und wich Memnons fragendem Blick aus.

    »Nun, es gibt ein … Problem in den Eisenminen«, krächzte er.

    »Ein Problem?«, echote Ptolos. Langsam nickte der Magnat, während er sich nervös die Hände rieb, so als wollte er damit die hereinbrechende Kälte der Nacht vertreiben. Sein Blick wanderte zwischen Memnon und Ptolos hin und her. Er wusste, dass sie unangenehme Zeitgenossen waren, wenn es Probleme gab. So zögerte er kurz und schrie dann zu seiner Gefolgschaft:

    »Was steht ihr so dumm herum? Wartet in der Halle auf mich. Na los!« Verwirrt schauten sie sich an, verneigten sich eine Spur zu eifrig und drängelten sich durch die Tür. Memnon und Ptolos waren höchst verwundert. Der Magnat sog hörbar die kühle Abendluft ein.

    »Nun?«, hakte Memnon nach.

    »Ich habe, wie es der Rat der Ältesten befohlen hat, die Stollen in den Minen ausbauen lassen, doch wir sind auf keine weiteren Erzvorkommen gestoßen. Ein Gutachter ist noch in den Minen und ich erwarte demnächst seinen Bericht, aber um ehrlich zu sein, sieht die Zukunft der Minen nicht gerade vielversprechend aus.«

    »Wir können kein Roheisen mehr abbauen?«, krächzte Ptolos.

    »Ich fürchte, ja.«

    »Und jetzt?« Unsicher starrte Ptolos zu Memnon, als erwartete er von ihm eine Lösung. Doch dieser zuckte nur mit den Achseln. In seinem Gehirn arbeitete es fieberhaft. Auf Hera gab es kaum Erzvorkommen, Metalle waren eine Seltenheit. Mit dem geringen Abbau von Roheisen in den Minen hatte das Triumvirat vor einigen Wochen die Elitetruppen der Stadt mit Stahlschwertern ausrüsten können. Die Schule des Blutes im Deneb-Distrikt, die einen Großteil der Armee stellte, musste immer noch Knochen- und Steinwaffen benutzen.

    »Hat die Revolutionsbewegung von der Sache Wind bekommen?«, fragte Memnon plötzlich. Thrakus verneinte und Ptolos atmete hörbar aus. Die Revolutionsbewegung bestand aus einer Anzahl entflohener Sklaven und Ausgestoßenen, die vor Jahrzehnten aus Pangaion geflohen waren und sich in der Ruinenstadt Lyssip am Fuße des mächtigen Ildion-Gebirges niedergelassen hatten. Sie war den politischen Führern von Pangaion ein Dorn im Auge, denn die Ausgestoßenen hatten innerhalb kürzester Zeit – dem Anschein nach – einen funktionierenden Stadtstaat errichtet. Immer mehr Menschen, die nicht mehr mit dem Triumvirat und den Gilden einverstanden waren, flohen aus der Stadt nach Lyssip.

    »Worauf wollt Ihr hinaus, werter Memnon?«, erkundigte sich Ptolos. »Die ungläubigen Bastarde aus Lyssip werden niemals gegen uns in den Krieg ziehen. Dazu sind sie viel zu schlau.«

    »Der Wein und das viele Essen benebeln Euer Hirn, Ptolos», erwiderte er gereizt. Thrakus musste nach Luft schnappen, doch Ptolos lachte nur herzhaft. Dabei entblößte er seine gelblichen Zähne. Mit einer Handbewegung forderte er ihn auf, fortzufahren.

    »Ohne Roheisen können wir unsere Armee nicht mit neuen Waffen versorgen. Es kann nicht sein, dass ein Großteil unserer Streitkräfte immer noch Waffen aus Knochen benutzt. Wir müssen uns nach einer anderen Möglichkeit umsehen.«

    »An was habt Ihr da gedacht?«

    »Ich weiß, dass die Revolutionsbewegung ihre Waffen aus Obsidian anfertigt, das sie aus den Vulkanen im Ildion-Gebirge gewinnt.«

    »Obsidian?«, fragte Thrakus neugierig.

    »Dunkles, glänzendes Gestein. Obsidian ist härter und robuster als unsere Knochenwaffen. Die Revolutionsbewegung rüstet mit dem kostbaren Gestein ihre Soldaten aus. Obsidian ist somit die einzige Möglichkeit zu Roheisen«, antwortete Memnon und fuhr sich mit seinen Händen durchs krause Haar.

    »Mein lieber Memnon, Ihr überrascht mich doch immer wieder!« Aufgeregt klatschte Ptolos in die Hände, und über seine Lippen kam immer wieder das Wort Obsidian. Es hatte eine geradezu magische Wirkung auf den schwergewichtigen Herrscher.

    »Und wie kommen wir an dieses Obsidian?«, erkundigte sich Thrakus vorsichtig.

    »Krieg!« Das Wort schoss beinahe gleichzeitig aus Memnons und Ptolos’ Mund. Und zum ersten Mal seit Tagen lächelte Memnon wieder. Vergessen war das seltsame Verhalten des verhassten Aurelis.

    Ein neuer Tag dämmerte in Pangaion. Die Sonne kam nur zögernd hinter den zerklüfteten Felsen hervor. Wie gleißende Speerspitzen drangen ihre Strahlen über die vielen Türme und Zinnen.

    Die ersten Bewohner verließen ihre Backsteinbauten und gingen ihren Alltagsbeschäftigungen nach. Langsam, aber sicher füllten sich in den frühen Morgenstunden die Straßen und Gassen mit Leben.

    Der Stadtteil Sinister war in ein trügerisches Zwielicht getaucht. Die Sklavengrube hatte ihre Tore weit geöffnet. Eine Schar von Söldnern, die schwere Brustpanzer und Beinschützer aus fein verarbeiteten Knochen trug, trieb die Sklaven, wie Vieh, zu den außerhalb liegenden Eisenminen. Die Männer unterstanden dem Befehl des Magnaten Thrakus. Auf ihren Rundschildern war das Wappen des Edelmannes in Form eines kämpfenden Zentauren zu sehen. Sie galten als überheblich und grausam. Nichts taten sie lieber, als ihre Macht über die Sklaven zu missbrauchen. Und so schlugen sie immer wieder mit ihren Peitschen auf die ausgemergelten Körper ein.

    Angewidert wandte sich die zierliche Anthea von dem Geschehen ab und warf ihr langes kastanienbraunes Haar über die Schulter. Drohend ballte sie ihre Fäuste und hob sie in die Höhe, so als wollte sie einen gewaltigen Feuerball vom Himmel beschwören, der Thrakus’ Männer in einem lodernden Inferno verschlänge.

    Obwohl die Sonne gerade erst aufgegangen war, schwitzte sie in ihren Gewändern. Einst hatte sie die weiße Robe des Shapir-Tempels getragen, doch diese Zeit war vorbei. Ihr Gesicht wirkte nachdenklich. Sie konnte sich noch gut an ihre priesterliche Weihe vor vielen Jahren erinnern. In ihrer Aufregung hatte sie nichts essen können. Niemals in ihrem Leben würde sie den feierlichen Moment vergessen, als sie vor den strengen Augen der Erleuchteten ihren Schwur auf den Reliquien des Tempels ablegte. Diese Bilder tauchten immer wieder täuschend echt vor ihrem inneren Auge auf.

    »Was hast du vor, meine Schöne? Man könnte meinen, du wolltest einen Zauber beschwören«, erklang hinter ihrem Rücken die lachende Stimme ihres Geliebten Timon. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihre Fäuste noch immer gen Himmel gestreckt hatte. Ganz langsam senkte sie ihre schlanken Arme. Sie errötete ein wenig, doch ließ sie sich von ihrer Verlegenheit nichts anmerken. Energisch wirbelte sie herum, und ihre mandelförmigen Augen blitzten.

    »Sei still!«, fauchte sie wütend. Doch schon einen Augenblick später strahlte sie über das ganze Gesicht. Timon zog sie in seine Arme, strich ihr übers Haar, schob es mit einer Hand hoch und fuhr mit der Fingerspitze ihren Nacken entlang. Sie erschauderte. Anthea roch nach ätherischen Ölen, die sie selbst aus Blüten, Wurzeln und Früchten herstellte. Der verführerische Duft weckte in Timon Erinnerungen an die gestrige Nacht, die sie zusammen verbracht hatten.

    »Bei den Göttern! Wenn ich dich nicht kennen gelernt hätte, dann würde mein Leben wohl anders verlaufen«, flüsterte er ihr ins Ohr.

    »Bereust du es, Timon? Wenn ja, dann musst du es sagen. Ich mache mir sonst große Vorwürfe.« Anthea löste sich aus seiner Umarmung und betrachtete ihn ängstlich. Timon überragte sie um mehrere Köpfe. Sie liebte seine schlanke, fast drahtige Gestalt und seine langen, schwarzen Haare, die er zu einem dicken Zopf gebunden hatte.

    Noch vor wenigen Tagen lebte er als Schriftgelehrter im Stadtbezirk Magneta, in dem sich auch der imposante Shapir-Tempel befand. Die Gildenhäuser begegneten den Schriftgelehrten äußerst misstrauisch, da diese in der Gunst des Triumvirates ganz oben standen. Nur diesem Zirkel war es gestattet, in Pangaion Magie auszuüben. Die Ausbildungszeit war hart, und viele Anwärter mussten bereits im ersten Jahr ihr Hab und Gut packen.

    Das magische Wirken der Schriftgelehrten hatte jedoch einen entscheidenen Nachteil: Auch die mächtigsten unter ihnen konnten nach Sonnenuntergang keinen Zauber mehr sprechen. Einige weise Männer munkelten, dass jeder Magier die Sonne, als Fixpunkt für seine Zaubersprüche benötigte. Übe niemals deine magischen Fähigkeiten bei Nacht aus! Timon wusste nicht, wie oft er diese Worte schon gehört hatte. Der Legende nach hatte Phrenir, der Gott der Weisheiten, den Menschen den Umgang mit der Magie in der Dunkelheit verboten. Wer sich nicht an das Gesetz des Gottes hielt und bei Nacht einen Zauberspruch sprach, alterte auf geradezu magische Weise. Während seiner Ausbildungszeit hatte er viele Männer gesehen, die beim Einsetzen der Dunkelheit ihre Zauberkräfte beschworen und sich innerhalb eines einzigen Wimpernschlages in geistig verwirrte Greise verwandelten. Er runzelte die Stirn und versuchte am Horizont die Sonne als strahlenden Feuerball auszumachen.

    »He, träumst du?«

    Antheas besorgtes Gesicht tauchte vor ihm auf. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und küsste ihn liebevoll.

    »Du weißt doch, dass ich dir bis ans Ende der Welt folge. Wenn du dich der Revolutionsbewegung in Lyssip anschließen möchtest, dann werde ich mit dir gehen«, wisperte er ihr ins Ohr.

    »Timon … ich liebe dich. Ich verlange so viel von dir. Wir werden als Verräter gebrandmarkt sein. Deine Gilde wird dich verleumden. Du wirst niemals wieder ein Schriftgelehrter sein.«

    »Ich werde meine magischen Fähigkeiten in den Dienst der Revolutionsbewegung stellen«, erwiderte Timon tröstend und drückte sie fest an sich.

    »Timon, du wirst nur ein Rebell sein. Wird dir das genügen? Du warst immer so ehrgeizig! Du wolltest Erfolg haben. Ich habe Angst, dass du mich einmal hassen wirst.«

    »Bei den Göttern! Wie oft haben wir schon darüber gesprochen? Ich werde dir nach Lyssip folgen. Ich kann es nicht mehr hören.« Er wandte sich von ihr ab und blickte zum Horizont. »Außerdem können wir an unserer Entscheidung nichts mehr ändern. Seit fünf Tagen sind wir in Sinister untergetaucht. Man hat bestimmt schon Verdacht geschöpft und wird uns suchen. Vielleicht rechnen sie damit, dass wir uns längst außerhalb der Stadt befinden«, sagte er nachdenklich, während sein Blick über die bunten Hausdächer wanderte.

    »Du hast Zweifel. Ich höre es an deiner Stimme«, flüsterte Anthea leise. Timon schien ihre Worte nicht zu hören. Sein Blick war auf einen imaginären Punkt außerhalb der Stadt gerichtet. Schließlich drehte er sich ganz langsam zu ihr um. Ihre Blicke trafen sich, und sie war sich für einen kurzen Augenblick sicher, dass er große Zweifel an ihrem Vorhaben hegte. Er interessierte sich nicht für das Wohlergehen der Bürger von Pangaion. In seinen Augen handelte das Triumvirat nicht wirklich schlecht. Und trotzdem war er ihr aus Liebe gefolgt.

    »Da irrst du dich, meine Schöne. Lass uns von etwas anderem reden.«

    »Wann verlassen wir die Stadt?«, fragte sie schließlich. Sie versuchte ihre Zweifel und Sorgen zu vertreiben, doch es gelang ihr nicht.

    »Die Schule des Blutes wird uns bestimmt schon suchen. Wenn heute Abend die Sklaven aus den Minen zurückkehren, werden wir Pangaion durch das Tor in Sinister verlassen. Das ist unsere Chance.«

    Es stimmte sie nachdenklich, dass er sich der Revolutionsbewegung nicht aus politischer Überzeugung anschloss, sondern nur aus Liebe zu ihr. Als Magier hätte er einen festen Sitz im Rat der Ältesten, dem maßgebenden Verfassungsorgan, haben können. Irgendwo in ihrem Inneren spürte sie, dass er seinen Entschluss, sein bisheriges Leben fortzuwerfen, irgendwann einmal bereuen würde. Und dafür würde er sie hassen. Sie hätte weinen können.

    »Es ist soweit! Die Sklaven kehren in einer halben Stunde zurück.« Die zarte Stimme riss Timon aus einem traumlosen Schlaf. Benommen richtete er sich auf und versuchte gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Anthea kniete neben ihm. Sie trug bereits ihren schweren Rucksack mit den Lebensmitteln, die sie bei einem der zwielichtigen Händler auf dem Platz der Tausend Schatten gekauft hatten. Wortlos stand er auf und ergriff seinen Sack. Sie hatten in einer verlassenen Hütte, die sich in einem kloakenähnlichen Zustand befand, auf die einsetzende Dunkelheit gewartet. Nun waren sie froh, dass sie diese wieder verlassen konnten. Die hohen Temperaturen waren deutlich zurückgegangen. Vorsichtig schlichen sie durch die Straßen. Das Stimmengewirr der Menschen vermischte sich mit dem monotonen Zirpen der Heuschrecken. Antheas Blick huschte von einer Seite zur anderen. Timon hatte gesagt, dass man sie bereits suchen würde. Hoffentlich fielen sie nicht in die Hände der Schule des Blutes.

    Timon führte seine Gefährtin durch ein wahres Labyrinth von Straßen – und obwohl die Dunkelheit sie schützte, war es gefährlich durch Sinister zu gehen. Zwielichtige Gestalten waren hier allgegenwärtig.

    In der Ferne zeichnete sich schließlich der mächtige Torbogen ab. Bunte Flaggen mit dem Emblem des Triumvirates hingen von den Zinnen der Stadtmauer. Nur wenige Krieger patrouillierten vor dem Tor. Anthea atmete erleichtert auf. Verstohlen sahen sie sich um und bogen dann in eine Seitenstraße ein, um dem Verlauf der Stadtmauer zu folgen, die sich zu ihrer Linken abzeichnete. Nach etwa dreihundert Metern blieben sie stehen. Nur ein einziger Wächter war in nächster Nähe auf der Stadtmauer postiert. Noch immer konnten sie die schemenhaften Umrisse des Stadttores ausmachen.

    »Und jetzt?«, flüsterte Anthea.

    »Wir warten, bis die armen Teufel aus der Mine zurückkehren und durch das Tor marschieren. Wenn uns die Götter gnädig sind, werden die Wachen ihre volle Aufmerksamkeit den Sklaven schenken.«

    In der Ferne ertönte der dumpfe Laut eines Hornes. Gebannt starrten sie auf das Stadttor. Die Sklaven würden jeden Moment von ihrer Schufterei zurückkehren. Aus einem der Wachhäuser am Rande der Stadtmauer drängelte sich eine Hand voll Soldaten und nahm Stellung vor dem mächtigen Portal. Einer der Männer schien seinen Kameraden etwas zuzuflüstern. Dann hob er wie zum Gruße die Hand in die Höhe und Thrakus’ Männer marschierten durch das Tor. Selbst aus dieser Entfernung konnte man noch den kämpfenden Zentaur auf den Rüstungen der Soldaten erkennen. Kurze Zeit später erschienen die Sklaven am Eingang. Unzählige ausgemergelte Gestalten, die nicht mehr als ein einfaches Leinentuch auf dem Leibe trugen, folgten Thrakus’ Männern zurück in die fauligen Gruben. Anthea knirschte wütend mit den Zähnen, als die Soldaten mit ihren Peitschen und Stöcken willkürlich auf die Sklaven einschlugen. Die wenigen Torwächter verließen ihren Posten, eilten zum Stadttor und beugten sich über die Zinnen, von wo aus sie die eintreffenden Menschen bespuckten. Offenbar war dieses Ritual der Demütigung der Höhepunkt eines jeden Tages. Ihr lautes Gelächter dröhnte von den Mauern.

    »Los jetzt!«, wisperte Timon. Mit bebenden Händen öffnete er seinen Rucksack und entnahm ihm eine ebenholzfarbene Armbrust. Auf dem Steg der Waffe ruhte ein Enterhaken mit einem Kletterseil. Anthea musste schlucken, als sie den kunstvoll geschmiedeten Eisenhaken betrachtete. Sie hatten im Händlerviertel von Deneb, Timons Spruchrollen für die kostbare Waffe eingetauscht. Er nickte ihr kurz zu und hob dann die Armbrust in die Höhe. Nur mit Mühe konnte er die schwere Waffe aufrecht halten. Seine Arme zitterten. Antheas Blick wanderte zum Stadttor. Ein Großteil der Sklaven war bereits durch das Portal geschritten. Timon musste sich beeilen, wenn ihr Vorhaben gelingen sollte.

    »Timon, mach schnell!« Der Schriftgelehrte schien die Worte nicht zu hören. Sein Blick war auf die höchsten Zinnen der Stadtmauer gerichtet. Ganz langsam betätigte er den Abzug. Mit einem leisen Zischen wurde der Enterhaken in die Höhe katapultiert. In rasanter Geschwindigkeit folgte das Kletterseil wie eine zum Leben erwachte Giftschlange. Die Wachen am Stadttor schienen nichts zu bemerken, denn sie schenkten ihre Aufmerksamkeit immer noch den Sklaven. Mit einem dumpfen Geräusch landete der Enterhaken auf dem Steg der Stadtmauer. Ein kurzer Ruck an dem Seil, und augenblicklich bohrten sich die Spitzen des Enterhakens in das poröse Gestein der Zinnen. Erneut zog er daran, um sich zu überzeugen, dass es auch fest verankert war. Zufrieden gab er Anthea ein Zeichen. Nun nahm er das Seil in seine kalten Hände und begann sich mit einem leisen Ächzen daran hochzuziehen. Plötzlich überkam ihn die Angst und sein Selbstvertrauen verschwand. Er zog sich viel zu hastig nach oben. Das Seil schaukelte wie wild.

    »Langsam! Du stürzt sonst noch ab«, flüsterte Anthea angstvoll zu ihm hinauf. Er versuchte sich zu halten, und plötzlich fiel die Angst von ihm ab. Langsam arbeitete er sich nach oben. Mit jedem Meter wich seine Beklommenheit. In seinen schwarzen Gewändern glich er einer Vogelscheuche. Er atmete schwer, als er den Steg der Mauer erreicht hatte und sich mit einem lauten Ächzen hochzog. Nun ergriff Anthea das Seil. Langsam begann sie sich daran hochzuarbeiten. Höher und immer höher. Ihr Blick wanderte zum Stadttor. Die letzten Sklaven waren durch das Portal geschritten. Thrakus’ Männer gaben den Wachen ein Zeichen. Erneut erschallte irgendwo in der Ferne der lang gezogene Laut eines Hornes. Wie von Geisterhand schloss sich das Fallgitter und versperrte den Weg nach draußen. Die Wachen kehrten auf ihre alten Posten zurück. Es gab kein Entrinnen. Das machte ihr Angst und ihr Mut verschwand. Immer schneller kletterte sie nach oben, und das Seil schwang wie ein überdimensionales Pendel hin und her. Timons Augen weiteten sich, und er raunte ihr etwas Unverständliches zu. Jetzt überkam ihn auch wieder die Angst. Das Seil entglitt Antheas Händen, und sie begann zu fallen. Der Himmel über ihr verwandelte sich in einen Farbkreisel, der immer wieder neue Formen annahm. Sie versuchte zu schreien, doch ein unsichtbarer Druck lastete auf ihrer Brust, der ihr den Atem nahm. Sie prallte an das alte Mauerwerk. Voller Todesangst versuchte sie sich an irgendetwas festzuhalten. Der Boden raste unaufhaltsam auf sie zu. Mit letzter Kraft bekam sie das Seil zu fassen, das tief in ihre Hände schnitt. Ein brennender Schmerz breitete sich in ihren Armen aus, so dass sie beinahe das Seil wieder losgelassen hätte. Doch sie biss die Zähne zusammen und zog sich nach oben. Ihre blutenden Hände fühlten sich seltsam warm an. Aufgeregte Schreie drangen nun an ihr Ohr. Hatte man sie entdeckt? Das war ihr Todesurteil! Sie fühlte Bitterkeit und Verzweiflung. Ihr Blick wanderte zu Timon, der seltsam ruhig wirkte. Verwirrt folgte sie seinem Blick und erkannte, dass nicht ihr die Schreie galten. In der Nähe des Stadttores war einer der Sklaven ausgebrochen. Verzweifelt versuchte er den Wachmännern zu entkommen. Thrakus’ durchtrainierte Recken nahmen sofort die Verfolgung auf. Wie Raubtiere schwärmten sie aus und versuchten den armen Teufel in die Enge zu treiben. Anthea zwang sich, weiter nach oben zu klettern. Dankbar ergriff sie Timons helfende Hand, die sie auf den rettenden Steg zog.

    Sie mussten diesen Zwischenfall nutzen. So schnell sie konnten, befestigten sie das Seil auf der anderen Seite. Timon stieg über die Zinnen und rutschte das lange Seil hinunter. Er schnitt sich dabei in die Hände, und das Seil färbte sich im letzten Drittel der Strecke dunkelrot. Als Anthea das Seil ergriff, hatten Thrakus’ Männer offenbar den schreienden Sklaven eingeholt. Die Wachen jubelten und grölten. Das Schreien des Mannes erstarb. Anthea war kreideweiß und zitterte. Hastig rutschte sie nach unten. Ihre schlanken Hände schmerzten, so als hätte sie diese in ein loderndes Feuer gehalten.

    »Schnell weg von hier! Die Wachen kehren auf ihre Posten zurück und werden das Seil entdecken«, stieß Timon hervor. Ein letztes Mal richtete sie ihren Blick auf die Stadt. Die Stunde des Abschiedes war gekommen. Würden sie jemals wieder nach Pangaion zurückkehren? Mit letzter Kraft ließen sie die riesige Stadt hinter sich.

    Pontares war einer der wenigen Menschen, die eine schriftliche Erlaubnis des Rats der Ältesten besaßen außerhalb der Stadt zu leben. Seit fünfzehn Jahren führte er im Auftrag eines Aristokraten eine kleine Getreidefarm, die ihm und seiner Familie ein festes Einkommen sicherte. Pontares war alt; ein Netzwerk aus Falten überzog seine braungebrannte Haut. Die staubige Luft bereitete ihm in den letzten Wochen große Probleme. Der Staub hatte sich auf seiner Lunge festgesetzt, und ständig war die Nase entzündet. Um die Zukunft der Farm machte er sich jedoch keine Sorgen. In wenigen Monden würden seine zwei Söhne diese übernehmen und in seinem Sinne weiterführen. Er saß auf einer kleinen Bank außerhalb seines Anwesens und blickte gedankenverloren auf die weite Ebene. Eine unüberschaubare Anzahl dunkelgrauer Vögel hatte sich auf den vielen Felsen niedergelassen, um dort ungestört die einbrechende Nacht zu verbringen.

    Pontares erwachte ruckartig aus seinen Träumen, als er die zwei Gestalten in einigen hundert Metern Entfernung erblickte. Sie kamen aus Richtung Pangaion und schlugen eine nördliche Route ein. Der buckelige Mann bemerkte, dass sie es sehr eilig hatten; sie schienen im wahrsten Sinne des Wortes um ihr Leben zu rennen. Er erhob sich, nahm seinen abgenutzten Stock, an dessen Spitze die türkisfarbenen Federn eines Warii-Vogels baumelten und trat einige Schritte nach vorne. Er kniff die Augen zusammen. Eine der Personen war von kleiner Statur und bildete einen starken Kontrast zu der anderen. Die untergehende Sonne machte es ihm nicht gerade leicht, weitere Einzelheiten zu erkennen – er war sich aber sicher, dass es ein Mann und eine Frau sein mussten. Vielleicht waren

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