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Tuleg: Was vom Traum übrig blieb
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eBook419 Seiten5 Stunden

Tuleg: Was vom Traum übrig blieb

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Über dieses E-Book

Weil sie hart mit dem Kopf auf den Boden aufgeschlagen ist, fällt Gerlinde in einen komaähnlichen Schlaf. Ihr Arzt Dr. Bumberniggl versucht alles, was in seiner Macht steht, um sie wieder wach zu bekommen. Aber sie lässt sich einfach nicht erwecken.
Gerlinde träumt unterdessen die Legende der Indianerin Tuleg. Das Mädchen ist auserwählt, um die Menschen vor dem Untergang und die Welt vor der Zerstörung zu retten. Zusammen mit einer kleinen Schar besonderer Tiere macht sie sich auf den Weg, um ihre Aufgaben zu erfüllen und fantastische Abenteuer zu erleben.
Ob es ihr gelingt, den Weltuntergang abzuwenden, und ob das Ganze auch für Gerlinde ein gutes Ende nimmt?

Spannende Lektüre, die gerade in Zeiten der Klimakrise den Nerv der Zeit trifft. (Marianne Glaßer, Lektorin)

„… wunderbarer Fantasy-Roman! Humorvoll wie immer, dazu tiefgründig und romantisch.“
SpracheDeutsch
HerausgeberBurg Verlag
Erscheinungsdatum4. Nov. 2019
ISBN9783944370293
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    Buchvorschau

    Tuleg - Angelika Sauer

    Inhalte

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    Angelika Sauer

    Tuleg

    Was vom Traum übrig blieb

    „Tuleg, Was vom Traum übrig blieb",

    ist bereits das fünfte Buch, das Angelika Sauer geschrieben hat. Sie bezeichnet es gerne liebevoll, als ihren ‚Heiligen Gral‘.

    Sieben lange Jahre, lag es ungeachtet in der Kommode. Sie vertraut darauf, dass gerade jetzt die Zeit dafür reif ist, es bekannt werden zu lassen.

    Angelika Sauer will es allen Umweltaktivistinnen und -aktivisten widmen, die eindrucksvolle fantastische Arbeit leisten. Unermüdlich setzen sie sich für eine friedvolle und lebenswerte Umwelt auf unserem herrlichen Heimatplaneten ein, obwohl sie manchmal, wie es scheint, aussichtslos gegen Windmühlen ankämpfen.

    In Anlehnung an ihr neues Buch bedankt sie sich hiermit bei jenen, die es schafften, die gesamte Welt mit ihren Aktionen zum Nachdenken zu bringen.

    „Die Natur wird die Sache für uns regeln. Ob dabei nur die Guten übrig bleiben, wenn sie damit fertig ist, wage ich zu bezweifeln. Unsere wunderbaren Kinder haben den Mut und die Zuversicht die geschundene Erde, in ihre eigenen zerbrechlichen Hände zu legen, um das empfindliche Mutterschiff in einen sicheren Hafen zu geleiten!

    Vielen Dank!

    Eure Angelika Sauer"

    Kapitel 1

    Gerlinde schlief eigentlich nicht wirklich. Sie wollte zwar einmal in der Nacht durchschlafen, und das schon seit mehreren Wochen, aber jede Nacht wachte sie gefühlte dreißig Mal auf.

    Ich will noch nicht die Augen aufmachen, dachte sie sich. Zu reizvoll war der Traum. In ihrer Brust meinte sie, ausgeprägte Zufriedenheit zu fühlen. Freude keimte in ihr auf.

    Er streckte kraftvoll seine Hand nach ihr aus. Sie legte zaghaft nur die Finger hinein. Er zog sie behutsam zu sich. Sie trippelte schüchtern auf ihn zu. Tiefe Sehnsucht glaubte sie in ihren Lenden zu spüren. Seine Lippen näherten sich den ihrigen und der maskuline Duft seines verschwitzten, durchtrainierten Körpers brachte sie in Ekstase. Ihr Atem wurde schneller. Einfühlsame Hände glitten an ihrer Schulter entlang bis hinunter zur Hüfte. Er knabberte gleichzeitig an ihrem linken Ohr. Sie hielt kurz die Luft an. Hoffentlich verschluckt er sich nicht an meinem Ohrring, er hat mich ein Vermögen gekostet! Im nächsten Moment fand sie sich auf einem hohen Turm wieder. Die Aussicht war herrlich. Natur, soweit man blickte. Dunst stieg über den Feldern empor. Weit entfernt meinte sie, einen Wald zu erkennen. Nur die dunklen Spitzen ragten über dem Nebel hervor. Und ziemlich weit weg, am Horizont, erkannte sie im Morgenlicht ein Gebirgsmassiv. Wird vermutlich wieder Föhn werden, dachte sie sich. Sie stützte sich auf dem Mauervorsprung ab. Um besser zu sehen, lehnte sie sich weit nach vorne.

    Aber was war das? Sie verlor das Gleichgewicht und spürte, wie eine unsichtbare Hand sie in die Tiefe zog. Kopfüber fiel sie wie ein Stein in den Schlund zur Hölle!

    Sie stürzte, wie schon so oft im Traum, wieder einmal weit, weit nach unten. Der Fall schien nie aufzuhören.

    Kam sie jetzt dem Boden gefährlich nahe und klatschte sie auf oder fing sie womöglich der bildschöne junge Mann, der sie just in diesem Moment leidenschaftlich küssen wollte, auf?

    Strampelnd versuchte sie, mit ihren Armen und Beinen zu rudern. Vergebens!

    Plötzlich riss Gerlinde die Augen auf!

    Keine Ahnung, aber irgendwie langweilte es sie doch, zum wiederholten Mal das Gleiche zu träumen. Wie schon so oft in ihren Trugbildern kam sie auch heute wieder nicht in den Genuss der Ekstase.

    Sie starrte mit fest aufeinandergepressten Lippen und geballten Fäusten an die Schlafzimmerdecke.

    Verdammt, jetzt war sie wach! Hellwach!

    „Gott sei Dank, ich lebe!"

    Sie wusste, die angsteinflößende und zugleich beglückende Illusion war in dieser Sekunde vorbei. Zu schön wäre es gewesen, sie würde ohne den blöden Sturz vom Turm zu Ende träumen dürfen. Was der Schönling wohl mit ihr gemacht hätte? Und warum fiel sie immer wieder von so weit oben irgendwo runter?

    Verdammt aber auch!

    Was hatte sie denn überhaupt aufgeweckt?

    Es musste dieser Vollidiot von einem Quadfahrer gewesen sein. Er fuhr mit seinem aufgemotzten Motorrad auf vier Rädern ziemlich oft an ihrem Haus vorbei und erschreckte sie jedes Mal bis aufs Blut. Direkt vor ihrem Schlafzimmerfenster drehte er nochmal in vollem Umfang auf, dass sie fast der Schlag traf. Geisteskrank drückte er jedes Mal den Gashebel nach unten, dass er darauf so aussah, als hockte ein Affe beim Kacken auf dem Hobel. Dabei ließ er nacheinander Fehlzündungen los.

    Macht der das extra, oder was?

    Warum fährt jemand so ein lautes Ding? Ist der zu doof, ein richtiges Motorrad auf zwei Rädern zu fahren? Hat er zu viele Pickel im Gesicht, so dass er sich mit dem ohrenbetäubenden Geräusch bei den Mädels beliebt machen will?

    Erneutes Knattern dieses abscheulichen Ungetüms ließ sie nun senkrecht im Bett stehen. Warum fuhr er ausgerechnet immer wieder an ihrem Schlafzimmerfenster vorbei?

    „Verdammte Hacke! Das nächste Mal schieße ich dich runter von deinem Hobel!", schrie sie die heruntergelassene Jalousie an.

    Wieder markerschütternde Fehlzündungen!

    Erneut war sie kurz vor einem Herzinfarkt. Gefühlt eine Million Dezibel verursachten Schmerzen in ihren strapazierten Gehörgängen. Das Trommelfell in den Ohren drohte zu platzen. Lauter als zwei, nein zehn Düsenjets ließ der Lärm sie zur Überlegung gelangen, ob sie sich einen Defibrillator zulegen sollte.

    Wenn dieser Wicht sie wieder zu Tode erschreckte, würde sie ihn bei sich selbst anwenden müssen. Vorausgesetzt, er überlebte den erneuten Lärmüberfall nicht, dann würde er ihn brauchen. Was für den Fall der Fälle eher zutreffen würde, weil sie ihn während der Fahrt herunterholen und so lange würgen würde, bis er blau anlief. Da sah sie keinen Weg dran vorbei!

    Wie dem auch sei, jetzt war sie so richtig wach!

    Der entzückende Traum war vorbei, der liebreizende Mann ihrer Fantasie ebenfalls verschwunden, aber dafür blieb der Lärm auf der Straße!

    Das ständige Vorbeifahren der Autos und das daraus resultierende nervtötende Gebrumme ging ihr schon lange gehörig auf die Nerven. Tiefe Traurigkeit und Melancholie breitete sich wie eine Wucherung eines parasitären Geflechtes in ihrem Gehirn aus. Warum überfiel sie immer wieder der gruselige Gedanke, keine andere Wahl zu haben, als zu heulen und zwingend wie wild um sich zu schlagen? Oder war es nur primär der Hass auf die gesamte Menschheit prinzipiell?

    Was gäbe sie dafür, am Strand, gleichgültig wo, Hauptsache, in der Karibik, zu liegen. Einen Cocktail in der einen und genau den liebreizenden Mann aus ihrem Traum in der anderen Hand zu halten. Oder wie wäre es, im Grand Canyon spazieren zu gehen oder in den Rocky Mountains vom Berg zu spucken?

    Es würde die Zugspitze zwar auch schon reichen, aber die war nicht so weit weg. Wie wäre es mit dem Mond? Ne, der war wiederum nicht weit genug weg.

    Gegenüber in der Nachbarschaft versuchte irgendjemand, irgendetwas verzweifelt mit einem Beil oder einem schweren Hammer zu zerstören. Auch das noch!

    Funktioniert das bitte, bescheiden ausgedrückt, leise und mit weniger Emotionen, dachte sie sich.

    Gleichmäßiges monotones Hacken, gepaart mit Kraftausdrücken eines offenkundig frustrierten Ehemannes, ließ Gerlinde kurz innehalten und schmunzeln. In ihrer Vorstellung hatte wohl der gestresste Hausmann keine andere Wahl und es war unverzichtbar, für den Winter Holz zu beschaffen, damit die Dame des Hauses angeben konnte. Schließlich ließ sich Eindruck schinden mit ihrem überteuerten modernen Schwedenofen, der eine wohlige Wärme ins Heim zauberte. Nicht so wie die grindige, stinkende Ölheizung der Nachbarin, deren Rauch aus dem Schornstein an verbrannte Autoreifen erinnerte.

    Was für eine verschrobene Vorstellung über konservative Zeitgenossen!

    Phantasie hatte sie ja, die Gerlinde! Die Veranlassung dazu zweifellos und ruhig eingestehen durfte sie sich gleichermaßen erst recht! Ein Sonderling war sie geworden. Zu lange lebte sie schon alleine. Oder noch nicht lange genug, das würde es wohl sein.

    Sie schaffte es nicht, anstandslos jedes Übel geschehen zu lassen, wie es halt eben so ist. Nein, sie interpretierte jede plötzliche Wahrnehmung, verwandelte sie blitzartig in eine Vorstellung der besonderen Art und machte sich halt einfach nur viel zu viele Gedanken.

    Eine kleine Verschnaufpause des Baumvernichters von schräg gegenüber unterbrach in dieser Sekunde den stechenden Schmerz in Gerlindes Kopf, der mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit vom Hackgeräusch des Nachbarn ausgelöst wurde. Vermutlich wehrte sich unterdessen der Baumstamm, der umgeschlagen werden sollte, mit vehementer Gewalt. Das Bild vor ihrem geistigen Auge, eingesperrt in ihrem Hirn, ließ Gerlinde mittlerweile instinktiv die Stirn runzeln. Es würde ihr vermutlich der Kopf platzen und das sah bescheiden ausgedrückt nicht respektabel aus, wenn sie sich im Geheimen wünschte, dass der Baum, wenn es ihm gelänge, zurückdreschen dürfte.

    Lautes Gequatsche von irgendwelchen dahergelaufenen Fußgängern hämmerte bis in die hintersten Windungen ihres gestressten Gehirns. Die erdreisteten sich doch tatsächlich auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus geräuschvoll entlangzuschlendern.

    Dazu paarte sich langweilige Musik aus den Siebzigern eines viel zu lauten Radios, das aus irgendeiner Stelle im Nirwana plärrte. Ein Riesenkrach drang durch die geschlossene, Schallschutz versprechende Fensterscheibe.

    Würde sie dieser Höllenlärm zur Massenmörderin werden lassen?

    „Kann es nicht eine Minute lang mal ruhig sein?", schrie sie die heruntergelassene Jalousie erneut an, die so gar nichts dafür konnte.

    Müde schnaubend wälzte sich Gerlinde in ihrem sonst so kuschelig warmen Bett von einer Seite auf die andere. Außer dass sie hundemüde und faktisch ebenso hungrig war, was sie vehement zu verdrängen versuchte, griff sie in Gedanken nach einem plausiblen Grund, im Bett zu bleiben.

    Kühl könnte es draußen sein, probierte sie sich einzureden. Viel zu kühl! Vielleicht sogar auch eiskalt. Gerlinde reckte ihre Nase in die Luft und schnupperte wie ein kleines Hasennäschen, wenn es etwas zu erkunden gab. Wie spät war es denn überhaupt, könnte der springende Punkt dafür sein, aufzustehen. Egal, es dürfte so gegen Mittag sein.

    Sie spähte mit einem kurzen Blick auf den Wecker. Den Kopf brauchte sie nicht zu bewegen. Sie hatte den Zeitmesser so angebracht, dass es nicht großartig erforderlich war, ihre Ruhelage zu verändern. Nur mit einem Auge war sie gewillt, ihn abzulesen. Sie möchte letzten Endes nicht ungewollt wach werden. Was aber derzeit sowieso keine Rolle mehr spielte.

    Was, so spät schon?

    Sie atmete tief durch. Oder war es ein tiefer Seufzer der Enttäuschung, gemessen daran, was sie am heutigen Tag Aufregendes verpasst hatte oder, was doch eher zutraf, Langweiliges noch geschehen würde?

    Es wird zwar in etwa sechs Stunden schon wieder dunkel werden, aber außerdem ist es, Gott sei es gedankt, bislang nicht Freitag, dachte sie sich.

    Jeden anderen Wochentag fiel es ihr nicht schwer zu verschlafen. Nur der heilige Freitag, der schlechthin letzte Arbeitstag, der nicht so schrecklich viele Stunden dauerte wie ein anderer Wochentag, der zählte in gewisser Weise zum Wochenende.

    Da wurde gefeiert, bis der Notarzt kommt!

    Heute war Dienstag und dieser Tag beinhaltete die Ausrede, dass es der besagte leidige, erst zweite Tag der Woche war, um nicht aufstehen zu brauchen. Das müsste vermutlich in kurzer und konsequenter Weise reichen! Erneut kuschelte sie sich ein. Ihre Gedanken konzentrierten sich auf das wohlige Gefühl, im gegebenen Moment noch einmal einen wonnigen Traum der Extraklasse erleben zu dürfen. Heute hatte sie sich freigenommen. Sie durfte das einfach so. Da gehörte nicht viel dazu. Wer nicht kommt, hat frei, sagte sie immer. Ihr Vorgesetzter hatte sie ohnehin schon auf dem Kieker. In der Folge machte es da nichts, wenn heute der Tag war, an dem sie eine Magenverstimmung der übelsten Art vorgaukelte. Sie gedachte letzten Endes niemanden zu infizieren, hatte sie weinerlich am Telefon gesagt. Möglicherweise ist es Ebola, schwindelte sie. Oder vielleicht eine höchst ansteckende Virusgrippe mit Brechdurchfall, meinte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Worauf ihr Chef nur gute Besserung wünschte und mit lautem Geschepper den Hörer auf die Gabel warf.

    Der hatte wohl Angst, dass er sich jetzt durch die Leitung ansteckte?

    Extra zu ihrem selbst ernannten Jahrestag, am fünften Januar, hatte sie sich das kuschelige Bettlaken gekauft, in das sie sich nun schonungslos einwalzte. Es fühlte sich wie ein seidig weiches Chinchilla-Fell an. Das alleine schon war ein Grund, im Bett zu bleiben. Jedes kommende Jahr zur gleichen Zeit, nach dem Exodus-Desaster der eigentümlichen Art, hatte sie beschlossen, sich selbst ein Geschenk zu bereiten.

    Die Trennung von ihrem Ex-Loser, wie sie ihn aus dem tiefsten Herzen bezeichnete, und der Rauswurf aus der damals mittelschlecht bezahlten Arbeitsstelle rief in ihr jedes Mal, wenn sie nur ansatzweise daran dachte, eine allergische Schüttelattacke der heftigsten Art hervor.

    Jetzt gab sie es zu!

    Das war zwar eine Zeit, die sie um keinen Preis der Welt zu wiederholen anstrebte, aber es hatte doch etwas Gutes. Jetzt wusste sie endlich, wer sie war und wo die Reise weiter hingehen würde.

    Sei’s drum! So genau sah sie darüber hinaus den Weg auch wieder nicht, aber daran arbeitete sie mit Nachdruck.

    Um das unerquickliche Thema zu verarbeiten, war sie seinerzeit zu abgestumpft gewesen, um darüber zu sprechen und sich helfen zu lassen. So eine leidige selbsttäuschende Lebensphase, die sie arg beutelte, brauchte wahrhaft kein Mensch! Wie so vieles im Leben.

    Sie hatte im Laufe der Jahre gelernt, Probleme mit sich selbst auszumachen, was ihr nur bedingt half.

    Leiden musste sie viel leiden!

    Selbstzweifel packten sie. Und sogar der Wunsch war da, aus dem Leben zu scheiden. Es dürstete sie danach, was, Gott sei es gedankt, Buddha behütete. Ihre dann doch größere innere Stärke, die das Schreckliche zu verhindern wusste, ließ sie zur Besinnung kommen. Eine beachtliche Anzahl von Jahren war sie damit liiert gewesen, mit dem scheiß Job und dem scheiß Loser.

    Enorm viele Jahre!

    Und weil es nicht reichte, brach sie sich damals zuerst das Bein beim Treppensteigen und dann sogar letzten Endes die Nase, als sie eine schwere Schachtel aus dem total zugemüllten Kleiderschrank zu heben anvisierte. Um ein Haar wäre sie damals in ihrem Zorn und Wahn nach Vergeltung zur ersten Massenmörderin in ihrem Kaff geworden.

    Konsequenterweise nur bildlich gesehen, versteht sich. Aber wer weiß? Irgendjemand zur falschen Zeit am falschen Ort, und rums, dann hätte es geknallt!

    Der Quadfahrer vor ihrem Fenster stand gerade auf dünnem Eis! Schon wieder raste er vorbei wie ein Irrer!

    Damals war es für sie eine schwere Zeit der Prüfung und des Aufarbeitens aggressiver Gefühle gewesen, die sie bis dato nicht kannte. Jeder Mensch, der ihren Weg kreuzte und sie nur in irgendeiner Weise klitzeklein ärgerte, sollte postwendend den Kragen umgedreht und den dabei abgerissenen Kopf in sein eigenes Maul gestopft bekommen. In ihrer Phantasie sah sie sich auf den Widersacher mit fletschenden Zähnen und tiefrot unterlaufenen Augen wie eine wild gewordene Bestie mit spitzen Krallen losgehen.

    Wieder nur bildlich gesehen, versteht sich.

    Aber grundlegend war sie der friedfertigste Mensch auf der ganzen Welt. Was zu viel war, war halt manchmal zu viel. Und da durfte sie schon mal ausrasten und zur fuchsteufelswilden Furie werden.

    Oder wie gesagt, gedanklich eben mal schnell zur Massenmörderin.

    Jetzt war alles lange vorbei.

    Aber gelegentliche Erinnerungen keimten wie ein Geschwür, das sich auszubreiten versuchte, immer wieder auf. Musste wohl so sein, weil mal ein Psychiater im Fernsehen sagte, dass die Verarbeitungszeit genauso lange dauert, wie man dem Schrecklichen verfallen war.

    Na, sauber!

    Aus Angst, sie würde das Verkehrte bewirken, wenn sie Mann und Job hinschmiss, erlegte sie sich damals selbst Entbehrungen auf. Da war der Mann zwangsläufig fein raus. Es war ja ihre Entscheidung.

    Weil sie Ersteren anschließend davonzujagen gedachte, schmerzte es sie damals zutiefst, ihn womöglich emotional zu verletzen. Sie war ein gutherziger Mensch, aber traurigerweise in gleicher Form zu keinerlei konsequenter Handlung fähig. Sie ängstigte sich sehr, später einmal zu den verzweifelten einsamsten, Katzen besitzenden Deckchen-Klöpplerinnen der Welt zu gehören. Dazu war ihre Phantasie sehr ausgeprägt. Was auch kein Wunder war, genügend Zeit zum Nachdenken hatte sie.

    Aber das waren nur noch fahle Gespenster, die in ihrem Hirn höchstens einmal im Jahr erschienen, wie zu Halloween oder am Valentinstag.

    Hätte sie das Verkehrte doch mal weitaus früher getan, dann wäre die Verarbeitungszeit schon längst vorbei und alles vergessen.

    Selbstkasteiung nannte man so was offenkundig. Oder Masochismus, keine Ahnung!

    Sie merkte damals naturgemäß nicht, dass sie manipuliert wurde, weil sie blind war vor Verliebtheit. Dass Gehirnwäsche nicht nur beim Geheimdienst der CIA oder einer anderen Untergrundgesellschaft existierte, verstand sich jetzt von selbst. Und sie schnallte es nicht, dass sie sich vehement und unbewusst einreden ließ, dass es daheim in den eigenen vier Wänden doch viel behaglicher sei als an irgendeinem anderen Ort. Beispielsweise im sonnigen Süden chillend am Pool liegend oder so. Goldener Käfig lässt grüßen!

    Nein! Gehirnwäsche eines eifersüchtigen Ehemannes fand mehr, um nicht zu sagen, ausschließlich, in den eigenen vier Wänden statt. Und folgerichtig glaubte man ebenso alles, was einem eingebläut wurde.

    Liebe machte bekanntlich blind und dämlich!

    Der Gespensterspruch, der täglich von ihm zelebriert wurde und über ihr hing wie ein Damoklesschwert, war: „Für was willst du rausgehen, Spatzi, wenn du daheim doch auch Spaß haben kannst? Zu Hause kannst du alles tun, und außerdem ist es doch sooo gemütlich!"

    Ja, ja!

    Sie beabsichtigte, sich damit anzufreunden. Ehrlich, ohne Witz!

    Aber eine Sache brannte sich vehement in ihr Gehirn ein. Nämlich, sich bewusst einreden zu lassen, dass alle Menschen einen doch nur ausnutzten und mies waren.

    Dass alle Typen um sie herum, die angaben, ihre Freunde zu sein, ihr sprichwörtlich auf den Kopf kackten, wiederholte er immer und immer wieder wie ein Mantra.

    Da war das Horrorbild schon wieder!

    Wenn er diesen Spruch vervollständigte, spürte sie seine raue Hand in ihrem Antlitz, um damit die Worte zu verstärken. Er sagte, dass sie das Gekackte auf ihrem Kopf sich selbst im Gesicht verteilen würde. Sollte heißen, dass sie sich so ausnutzen ließ, dass sie es erstens nicht einmal merkte und zweitens dadurch Erfüllung fand, anderen etwas Gutes dabei getan zu haben.

    Das war dann Genugtuung der vornehmlichen Art von seiner Seite. Und schon gab Gerlinde Ruhe.

    Die gelegentlichen Kaffeekränzchen, die eine Frau dringend benötigte, um über andere überzeugend herzuziehen, war sie angehalten damals ebenfalls tunlichst zu vermeiden. Dieser Spaß war ihr schlicht und einfach nicht vergönnt.

    Sich mit Menschen eingelassen zu haben, die ihr auf lange Sicht gesehen effektiv nicht guttaten, ließ sie jedes Mal bei dieser ekeligen Vorstellung aufs Neue bereuen.

    So oder so hatte er wohl Recht behalten, der Loser mit dem Kopfgekacke!

    Ausnutzen hatte sich Gerlinde schon lassen, aber von denen, die sie vermeintlich als wichtig in ihrem Leben erachtete.

    Jetzt hatte sie die Kurve gekriegt, und ohne falsche Freunde flutschte es bis zum Abwinken noch viel besser!

    Man kam nicht umhin, es rauszulassen, was unverzichtbar gesagt werden musste. Da hatte man keine Wahl, ansonsten gab es Verstopfung.

    „Was raus muss, muss raus, sonst setzt es Schimmel an und verdirbt dir den Magen oder den Verstand. Weil sonst hängt das gruselige Gespenst ständig über einem und das nervt tierisch", sagte Oma Hilde immer. Und die musste es wissen. Sie hatte vier ihrer fünf Männer überlebt!

    Gerlindes Magen grummelte.

    Die gelegentlichen Erinnerungen und ihr daraus resultierendes Kopf-Kino mit dem Gemälde des Verreibens der selbstauferlegten Exkremente brachte sie rundweg nicht mehr aus ihren fantasiereichen Gedanken heraus.

    Aber wie hatten andere das Recht dazu, sie so schrecklich zu beeinflussen, wenn sie mit niemandem soziale Kontakte pflegen durfte? Lange hatte sie gebraucht zu erkennen, dass es wahrhaft nur diese eine Person war, die manipulierte.

    Da hatte seine Gehirnwäsche ein Loch, über das nachträglich nachgedacht werden musste.

    Was für eine perverse Weltanschauung sie immer wieder zu hören bekam. Ihr Schicksal sollte es sein, sich in den eigenen vier Wänden zu verbarrikadieren, um nicht mit fremden Individuen, egal welcher Art, in Kontakt treten zu müssen. Was aber schlechthin unverzichtbar war, denn sie musste doch in der Arbeit unweigerlich mit Menschen kommunizieren.

    „Die sind doch alle blöd und scheiße!", waren genau seine Worte.

    Um nicht enttäuscht zu werden, weil doch alle ringsherum nur niederträchtig und gemein waren und einem nur Böses wollten, brach man halt jeglichen Kontakt zur Außenwelt ab.

    Armer, naiver, unterbelichteter Kleingeist und so im Allgemeinen!

    So wurde man im weiteren Fortgang zum Männerhasser oder, wenn alles nichts mehr half, alternativ schwuppdiwupp zur Lesbe.

    Lang ist’s her und endlich Schluss damit.

    Und der Teufel weiß, warum man mit dem überaus blödsinnigen Gefühl in der Brust herumlaufen sollte. Dieses Empfinden kannte wohl jeder, der als kleines Kind etwas ausgefressen hatte und über dem die Angst als Gespenst hing, die Eltern könnten dahinterkommen.

    Aber als Belohnung ihres kühnen Mutes, ihn endgültig verlassen zu haben oder, besser gesagt, ihn aus der Wohnung hinauskatapultiert zu haben wie eine nasse Katze, gönnte sie sich jedes Jahr eine Kleinigkeit zum besagten Jubeltag.

    Letztes Jahr war es eine schicke schwarze Lederjacke, die rattenscharf an ihr aussah. Und dieses Jahr war es eben jenes kuschelige rosa Plüschlaken, in dem sie am liebsten beerdigt werden wollte.

    Auf ihrem monströs großen schwarzen Kuschelbett, verziert mit gefühlt hundert Kissen, das sie alles endlich nur für sich alleine beanspruchte, fühlte sie sich pudelwohl.

    Die dazugehörige schmuseweiche Bettwäsche würde sie sich zum nächsten Geburtstag im Februar von ihrer Mutter wünschen. Das war schon beschlossene Sache. War ja nicht mehr so lange hin.

    Sie lag bäuchlings auf dem seidig weichen Bett und strich gedankenverloren mit ihren Armen und Beinen gleichzeitig über die Unterlage. So wie ein Schneeengel, nur ohne Schnee und verkehrt herum. Als hätte sie neben sich eine kuschelige, herzige kleine Katze liegen, die sie liebkoste und mit der Handinnenfläche immer wieder verzückt streichelte, kraulte sie die fellähnliche Struktur. Von dieser Sekunde an versuchte sie sich dabei mit erfreulicheren Gedanken abzulenken und einzuschlafen.

    „Verdammte Hacke, ist da draußen endlich Ruhe!", plärrte sie plötzlich die Tapeten an.

    Abrupt wie ein Kleinkind, das von der Mama nicht bekam, was es wollte, warf sie sich auf den Rücken und strampelte mit ihren Händen und Füßen in der Luft herum wie eine wildgewordene Tarantel.

    Ein in die Jahre gekommenes Mofa mühte sich mit lautem Knattern und gelegentlichen Fehlzündungen den Berg vor ihrem Haus hinauf.

    Noch einer, der es knallen ließ!

    Gerlinde wurde es jetzt zu bunt.

    Angespannt und alle Viere von sich gestreckt, lag sie erschöpft vom Strampeln in ihrem geliebten Single-Doppelbett. Sie riss die Augen auf und gleichzeitig starrte sie mit geballten Fäusten an die Decke. In Gedanken stellte sie sich vor, wie sie meuchelnd durch die Straße lief und mit blutunterlaufenen Augen und Monsterkrallen jeden erledigte, der nur den kleinsten Pups machte.

    Mit dem Schlafen war es jetzt endgültig vorbei.

    Angesichts der ständigen Lärmbelästigung fasste sie eigentlich eines Abends bei einem oder zwei Glas Rotwein den Entschluss, dass sie sich in Wirklichkeit nicht mehr beeinflussen ließ. Aber es tauchten schon wieder neblige Erinnerungsfetzen auf.

    Zu lange hatte sie deswegen die ständige Nörgelei ihres verflossenen Ehemannes angehört. Immer mehr wurde es bei ihr zu einem nervtötenden und übertriebenen Getue. Aber Gott sei’s gedankt, jetzt war sie ihn los!

    Aber der Lärm vor ihrer Wohnung war geblieben. Verdammte Hacke!

    „Dann schlaf ich halt nicht. Ist sowieso überbewertet. Dann schau ich halt blöd, während ich mich in der Arbeit abplage. Schauen andere auch blöd, dann kann ich das auch!", redete sie in einem gefrustet ironischen Unterton mit sich selbst und beschloss, dem Graus ein Ende zu bereiten.

    Als wenn es ein Klacks wäre und nicht der Rede wert, wischte sie die leidige Angelegenheit mit aller Selbstverständlichkeit in der Luft weg.

    Faktisch war es jetzt helllichter Nachmittag. Ein kleines Nickerchen nach dem ausgiebigen Schlaf am Morgen hätte gegenwärtig nicht geschadet, aber die netten Mitmenschen hatten da eine andere Meinung dazu. Rücksicht zu nehmen auf eine stressgeplagte Bewohnerin einer kleinen Ortschaft, die am Arsch der Welt lag, kam in deren Wortschatz nicht vor.

    Gerlinde setzte sich auf.

    Etwas schwindelig war ihr und der Schweiß drückte sich langsam durch die Poren.

    Musste vermutlich am Kreislauf liegen, dachte sie sich, während sie sich schwerfällig aufstützte. Sie hatte vor, doch aufzustehen. Hilft ja nix!

    Ihre Zunge klebte am Gaumen fest. Schleunigst war es erforderlich, etwas zum Essen und Trinken herzuschaffen.

    Vorher holte sie sich aber noch eine Prise Frischluft. Sie zog die Jalousie hoch, öffnete das Fenster zur Glückseligkeit und starrte gelangweilt mit zerzauster Lockenpracht und ausdruckslosem Gesichtsausdruck ins gelobte Nirwana. Solange sie in das Nirwana auch blickte, die Erleuchtung kam ums Verrecken nicht!

    Wenn sie die Wanderschaft der Blechlawine genauer beobachtete, diese Schrulle hatte sie ebenfalls von ihrem Verflossenen als Andenken mit auf den Weg bekommen, dann entdeckte sie auf der engen Ortsdurchgangsstraße von Zeit zu Zeit immer wieder die gleichen Gesichter rauf und runter fahren. Diese Straße erinnerte im Grunde genommen an eine Autobahn mit Tempolimit jenseits der Vernunft.

    Bekanntermaßen waren es die exorbitant fürsorglichen Mamas, die ihre Bälger nach Strich und Faden verwöhnten. Jedes einzelne Lebensmittel, egal welcher Beschaffenheit, bedurfte es extra aus dem gar nicht so weit entfernten Lebensmittelladen zu holen. Sie flitzten den Berg hinab, als wenn der Leibhaftige hinter ihnen her wäre.

    Da könnten doch die rotzfrechen, verantwortungsresistenten Gören, die sie gerne als „Zecken" bezeichnete, selbst hinlaufen oder mit dem Rad hinfahren. War denen doch eh den ganzen Tag langweilig.

    Aber nein!

    Die Mama wurde angehalten, raus aus der Höhle zu fahren und für die Rasselbande „Kräuter und Beeren" zu sammeln. Diese trieben sich derweil im Kinderzimmer-Internet-Café mit den eigens dafür gezüchteten Wanzen und Flöhen herum.

    Erfahrungen sammeln fürs Leben oder die frische Luft mit all ihren Eindrücken genießen überließen sie dann später, wenn sie denn mal erwachsen würden, den stressgeplagten Arbeitern der Unterschicht. Weil die „Zecken" der Neuzeit sofort Manager oder Banker als Beruf anvisierten oder am besten gleich irgendwo in Nizza oder so Hotelbesitzer eines Fünf-Sterne-Nobelschuppens werden würden, ließen sie sich Zeit mit der Selbständigkeit.

    Ihre Zukunft sähe so aus, dass sie dann mit Sonnenbrille und Designeranzug in ihrem Ferrari säßen, wo sie ihre Schlampen nach Nizza zum Abendessen einluden, um sie anschließend von dort mit dem Privatjet nach New York zu fliegen. Sie kreisten hoch oben mit Kaviar und Schampus, um nachfolgend ausgiebig in teuren Läden zu shoppen, damit sie willig wieder zurückflögen, um zufrieden und ohne Gemaule den Sonnenuntergang zu genießen.

    Ja genau, träumt doch weiter vom nackten Leberkäs!

    Mama kutschierte derweil versnobt den Hausfrauenpanzer, das schicke Geländewagen-Erst-Auto, das Sprit fraß, wie eine Kuh Wasser soff, von einem Lebensmittelgeschäft ins nächste. Gefühlte hundert Stunden lang schlich sie durch die überschaubare Zweihundertachtzig-Seelen-Metropole von einem Geschäft ins nächste, um dem Stress der Kindererziehung zu entfliehen.

    Der ausnehmend pflichtbewusste Papa unterdessen hatte das erheblich kleinere Zweitauto zu seiner Verfügung.

    Faustgroße Rostlöcher zierten den Unterboden, wo die Spatzen gelegentlich ihre Nester darin bauten, um ihre Jungen großzuziehen. Erst war es erforderlich, damit kilometerweit zur Arbeit hin und dann naturgemäß wieder stundenlang heimzufahren.

    Und es war ohnedies egal, wie weit der besagte Rost sich schon durchgefressen hatte. Sah letztendlich in der Nacht eh keiner.

    Wenn der Ernährer nach Stunden wieder total erledigt heimkam, ins Bett fiel und von Mama intravenös versorgt werden musste mit liebevoll selbstgestampftem Kartoffelbrei, stundenlang gebratenem Schmorbraten und einem vorzüglich schmeckenden Rotweinchen, dann waren alle wieder glücklich und zufrieden.

    Obs draußen stürmte oder schneite, die Sonne herunterbrannte und Papa kilometerlange Staus als seine Pflicht ansah, die Klimaanlage und zwei gemütliche Schalensitze mit Sitzheizung, integriertes Anwärmen des Lenkrades inklusive, hatte Mama in der Erstlimousine.

    Und die undankbare Brut zu Hause kümmerte das alles einen Dreck!

    Das künstlich aromatisierte Wassereis und die zuckersüße Cola mit den scharfen Paprika-Chips oblag letzten Endes der Mutter zu besorgen, damit alles wohltemperiert beim Sprössling ankam, der einmal für unsere Zukunft verantwortlich sein würde.

    Gerlinde entließ aus den Lungen die verbrauchte angestaute Atemluft in den kühlen Nachmittagshimmel.

    Und weil ihr der ständig erhöhte Geräuschpegel nicht eh schon reichte, unterhielten sich zu allem Überfluss zwei oder wer weiß wie viele Rentner und Arbeitslose gegenüber von Fenster zu Fenster.

    Aber nicht in der gleichen Häuserzeile, nein! Das wäre zu intim gewesen.

    Drei monströse Wohnblöcke wurden von einem unsäglich inkompetenten Architekten so angeordnet, dass sich der Schall genau an sämtlichen Hauswänden brach.

    Gerlinde konnte den Namen, Herkunftsland und Geburtsort eines jeden hustenden Flohs, der einen stinkenden Furz ließ, zweifelsfrei identifizieren.

    Jeden Tag war es ihr gegeben, von den Nichtsnutzigen des Landes deren Meinung über die politische Lage oder sonst eine Lage, die sie in keiner Weise auch nur annähernd interessierte, entgegenzunehmen. Außerdem beklagten sie, während sie die güllebehaftete Landluft wegatmeten, wie schwer sie es doch hätten. Ihr kleines Rentengeld und jenes Arbeitslosengeld, das dem fleißigen Bürger aus dem Kreuz geschlagen wurde, reichte ihnen ums Verrecken hinten und vorne nicht. Was sehr bedauerlich war, weil für Zigaretten und Alkohol verfügten sie schon darüber, so sicher wie das Amen in der Kirche!

    Was durchaus nachvollziehbar war, dass sie jammerten.

    Zigaretten wurden immer teurer und der Schnaps wuchs nicht auf Bäumen.

    Dicker blauer Qualm suchte sich an zwei gegenüberliegenden Fenstern den Weg ins Firmament.

    Vorzugsweise wurde er in die abgasgeschwängerte Luft gehaucht und nicht in die karg eingerichtete Zweiraum-Wohnung.

    Man wurde nicht müde zu betonen, dass letztendlich jeder was davon haben sollte. Und das gegenseitige heroische Zuprosten billigen Fusels und das Klimpern der Bierflaschen, wenn sie in den Träger plumpsten, der gleich neben dem Fenster stand, die Portemonnaies ohne jeden Zweifel genauso wenig voller machten.

    Gerlinde fand es aber nicht angenehmer, auf der besseren Hälfte der Straßenseite zu wohnen. Der Lärm blieb gleich. Egal, ob mehr Flöhe im Geldbeutel hausten als Klimpergeld oder nicht.

    Gemütlich und erholsam schlafen konnte sie in ihrer Dreiraum-Wohnung schon lange nicht mehr. Und erst recht nicht zwischen Rentnern und Hartz-IV-Empfängern. Gleichfalls ebenso nicht, wenn sie sich dazu entschloss, eine von denen zu werden.

    „Ich glaube, ich wandere aus! Aber wohin sollte ich denn wandern? Nach Timbuktu vielleicht? Oder zu Alice ins Wunderland, die mit der Grinsekatze?"

    Schmunzelnd setzte sie sich auf das Bett zurück und hatte schon wieder Erinnerungsfetzen im Kopf.

    Ihr Blick wanderte zu dem einen Meter achtzig großen goldenen Buddha, den sie sich unlängst ins Schlafzimmer geholt hatte. Schmunzelnd sah sie ihn sich immer wieder gerne an. Er war für sie das Symbol wiedergewonnener Freiheit. An ihn hängte sie all die kleinen Erinnerungsstücke, die sie während der Wiedergeburt vor fast drei Jahren gesammelt hatte.

    Einen kleinen roten Porzellanengel mit Glöckchen unter dem Röckchen kaufte sie auf dem Weihnachtsmarkt in Altötting. Die lange Halbedelsteinkette aus braunem Jaspis mit der Quaste aus reiner Seide legte sie dem Buddha andächtig um den Hals, als sie aus Thailand heimkam. Wie hieß noch

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