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Killertime: Profiler Dylan Crispin ermittelt
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eBook387 Seiten5 Stunden

Killertime: Profiler Dylan Crispin ermittelt

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Über dieses E-Book

Dylan Crispin, ein Ex-Polizist, stolpert im Wald über zwei Leichen und gerät in Verdacht, selbst der Mörder zu sein. Von seinem Bruder, einem einflussreichen Politiker, erpresst, bleibt ihm keine Wahl. Er beginnt selbst zu ermitteln und gerät in ein tödliches Netz aus Intrige und Korruption. Währenddessen tötet der Serienmörder ungehindert weiter.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Nov. 2014
ISBN9783738001198
Killertime: Profiler Dylan Crispin ermittelt

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    Buchvorschau

    Killertime - Charlie Meyer

    1

    Sie schrie nicht, aus Angst ihr Versteck zu verraten. Sie lief nicht weg. Sie saß einfach nur da und umklammerte krampfhaft ihre angezogenen Beine. Ihr nackter Körper zitterte unkontrolliert. Sie hatte seitlich ihre Unterlippe durchgebissen, und ein filigraner Blutfaden teilte ihr Kinn in zwei ungleiche Hälften.

    Nebel stieg vom See auf, an dessen Ufer ihr Zelt stand. Selbst auf die Entfernung und im fahlen Licht konnte sie die zerfetzte Plane erkennen. Hinter dem See reckte sich die schwarze gezackte Silhouette der Bäume in die graue Morgendämmerung, die sich im Osten rot zu färben begann.

    Auf der Lichtung zwischen ihrem Versteck und dem Zelt lag Buran auf dem Rücken, ebenfalls nackt und mit ausgebreiteten Armen, Hände und Füße an Zeltheringe gebunden. Sie hatte die blanke Klinge des Skalpells zwischen den Fingern des Mörders aufblitzen sehen, als er sich über ihren Freund beugte, und jetzt war da diese dunkle Lache zwischen seinen gespreizten Beinen. Blut, das im Waldboden versickerte. Burans Blut, der sich unter den Händen des Mörders so schrecklich wand und aufbäumte, bevor er endlich starb. Sie hatte ihn vor Qualen gurgeln hören hinter seinem Knebel.

    Verzweifelt sah sie sich um. Vom Mörder keine Spur. Als er auftauchte und zum Zelt hinüberging, war sie schon hier gewesen, am Waldrand hinter der dicken Buche. Sie war mit praller Blase aufgewacht und aus dem Zelt gehuscht, um in ihren Flipflops nackt quer über die Lichtung zum Waldrand zu laufen. Sie glaubte, ihr Herz mit beiden Händen festhalten zu müssen, damit es vor Glück nicht zerspringe. Das erste Mal, und es war überwältigender gewesen, als sie es sich je erträumt hatte.

    Der Mörder hatte zugeschlagen, eben, als sie sich hinter die Buche hockte. Als sie aufsah, stand er neben dem Zelt und schlitze in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung die Plane auf. Erst längs, dann quer. Dann waren Kopf, Arme und Schultern im Zelt verschwunden. Nur die Art, wie er die Beine weiter auseinanderstellte und das eine Mal, als er trotzdem fast die Balance verlor, zeugten von dem Kampf im Inneren des Zeltes.

    Dreißig Sekunden lang? Eine Minute?

    Ungläubig sah sie zu, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen, während der Strahl ihres Urins aufs vermoderte Laub prasselte.

    Auch als der Mörder sich wieder aufrichtete, Kopf und Arme aus dem zerschnittenen Zelt auftauchte, hockte sie noch immer hinter der dicken Buche, unfähig zu reagieren. Sie hatte zugesehen, wie er von vorn ins Zelt hineinkroch, und dann, wie er Buran an den Füßen herauszog und in die Mitte der Lichtung schleifte. Wie er ihm Arme und Beine an Zeltheringen fesselte, die er mit einem Hammer tief in den Boden trieb. Hammer und Heringe musste er mitgebracht haben, für ihr Zelt hatten sie weder das eine noch das andere gebraucht.

    Sie hatte wie hypnotisiert zugesehen, wie der Mörder wartete, bis Buran wieder zu sich kam, um sich dann erst zwischen seine gespreizten Beine zu stellen, das Skalpell in der Hand.

    In diesem Moment hatte sie ihn rufen hören. Halblaut und lockend, und sie hatte vor Furcht zu keuchen begonnen.

    »Komm putt, putt, putt, putt. Komm Rosielein, komm zu mir Rosemarie, mein Täubchen, Rosalinde Schätzchen, komm mein Mädchen, komm zu Papa.«

    Und das war schlimmer auszuhalten gewesen als alles andere.

    Während er sie lockte, hatte er sich langsam gedreht, und mit seinen Blicken den Waldrand abgesucht. Er wusste, sie war da, aber offenbar nicht genau, wo. In diesem Moment war Buran aus der Bewusstlosigkeit nach den Faustschlägen wieder aufgewacht. Sie hatte gesehen, wie er an seinen Fesseln riss, wie er den Kopf hob, und dann, als sich der Mörder mit dem blitzenden Messer in der Hand über ihn beugte, wie er sich so furchtbar und stumm in seinen Fesseln aufgebäumt, als jage ein Defibrillator Stromstöße durch seine Brust.

    Und sie war so dankbar gewesen, dass der Killer nicht mehr nach ihr rief, dass er den Blick abwandte und mit dem, was er tat, von ihr abgelenkt war. Buran wehtun und nicht ihr. Sie glaubte vor Scham sterben zu müssen, aber sie war so ihm so schrecklich dankbar, dass ihr schwindelig wurde.

    Sie sah zu, wie der Mann, der ihr in dieser Nacht die Sterne vom Himmel geholt hatte, verstümmelt wurde. Sie sah zu, wie ihm der Mörder schließlich die Kehle durchschnitt, von einem Ohr zum anderen, und hätte jauchzen mögen vor Erleichterung, dass dieser Wahnsinnige nicht sie, sondern ihn quälte und umbrachte.

    Sie wollte leben, hundert Jahre alt werden, und den Enkeln ihrer Enkel Gutenachtgeschichten erzählen. Nette Geschichten mit Zwergen und Elfen und Kobolden, die allerlei Schabernack trieben, aber niemandem etwas Böses antaten. Keine Albtraumgeschichten.

    Nachdem all diese Gräuel vorbei waren, hatte sie die Stirn gegen die Knie gepresst, die sie noch immer mit beiden Armen umklammerte. Und während sie verzweifelt versuchte, sich eine nette, harmlose Geschichte mit Zwergen, Elfen und Kobolden auszudenken, hatte sie begonnen, sich hektisch vor und zurückzuwiegen.

    Als sie sich getraut hatte wieder hinzusehen, war er verschwunden gewesen. Er. Der Mörder. Der Wahnsinnige, und nur Buran war noch dort in der Mitte der Lichtung. Nackt und blutig und gekreuzigt. Den blutüberströmten Hals mit der klaffenden Wunde überstreckt, der weit aufgerissene Mund eine einzige Anklage gegen sie.

    Auf ihrer Internetseite kämpfte sie gegen das Abschlachten von Robben und Walen, prangerte den Völkermord in Ruanda an und forderte drakonische Strafen gegen die, die bei all dem wegsahen.

    In der Realität kämpfte sie nicht einmal für den Menschen, den sie liebte. Schlimmer noch, nicht einmal für sich selbst.

    Ein leises Wimmern entrang sich ihrer schmerzenden Kehle. Er war weg. Während sie unachtsam gewesen war, geträumt hatte, war der Verrückte irgendwo im Wald abgetaucht, sie zu suchen. Sie umzubringen. Warum war sie nicht weggelaufen, als er sich mit Buran beschäftigte? Warum versuchte sie es nicht jetzt?

    Stattdessen blieb sie sitzen, wo sie war, nackt und zitternd, und als sie in ihrem Rücken das Knacken von Zweigen hörte, umklammerte sie ihre angewinkelten Beine nur noch fester und presste erneut die Stirn gegen die Knie.

    »Hallo, mein süßes kleines Rosenblatt, Papa ist wieder da.«

    2

    »Niemals, und das ist mein letztes Wort«, entgegnete ich kategorisch und registrierte im Spiegel den Schatten und die dunklen Bartstoppeln auf meinem Kinn.

    Es gibt Typen, die sich nur alle drei Tage rasieren mussten, es gibt Typen, die zu täglicher Rasur gezwungen waren, und es gibt mich. Wir alle stammen vom Affen ab, doch Lucy beharrt darauf, dass meine Evolutionsstufe haartechnisch noch immer nicht so ausgereift ist, um als Mensch durchzugehen.

    Die Zeiten änderten sich eben. In der guten alten Zeit galt Brustbehaarung als Zeichen von Männlichkeit, heutzutage fordert die Fernsehwerbung wachsenthaarte Machobrüste mit babypopoweicher Haut. Haare sind nur noch oberhalb des Adamsapfels erlaubt.

    Aus dem Smartphone tönte unablässig Lucys Geschnatter an mein Trommelfell, und ich mühte mich redlich, nicht den Anschluss zu verpassen.

    »Du kommst doch mit«, bettelte sie schließlich und schnurrte wie ein Kätzchen. »Ach bitte. Das Musical soll ganz allerliebst sein.«

    Allerliebst?

    »Nein!«

    Ich fuhr mir mit dem Kamm durch die braunen Locken, die mal wieder dringend einer Schere bedurften. Kam es mir nur so vor, oder schimmerte es ab und an schon silbrig durch die Fülle? Mit sechsunddreißig? Konnte das sein?

    »Ach bitte.«

    »Warum nimmst du nicht deinen Neuen mit? Diesen Rupert oder wie er heißt?«

    Ich schnitt meinem Spiegelbild eine Grimasse.

    »Ruprecht.«

    »Na dann eben Knecht Ruprecht. Das Outfit fürs Theater hat er dann ja schon. Rote Stiefel, roter Mantel, passend zu den Bühnenvorhängen.«

    Zufrieden betrachtete ich im Spiegel meine Freizeitkluft. Bermudas, ein grünes Hemd ohne Ärmel und Sandalen an den Füßen. Es war Freitag, ich hatte bis zur Charterfahrt am Abend frei, und würde das tun, was ich immer an meinen freien Tagen tue. Zumindest im Sommer: Mit dem Mountainbike an meinen Waldsee fahren, den außer mir nur eine Handvoll Leute kennt. Meine Haut atmen lassen. Nichts tun, außer möglicherweise die Enten in die Flucht zu schnarchen.

    Vor einer Woche war ich das letzte Mal dort gewesen.

    »Knecht Ruprecht und ich passen nicht wirklich zusammen«, maulte Lucy aus dem Smartphone. »Nicht mal unwirklich. Seine Libido verträgt sich nicht mit meiner …«

    »Stopp! So genau will ich das nun wirklich nicht wissen. Wenn du mitkommen willst zum Schwimmen, sag ja und pack dein Handtuch ein, ansonsten bis demnächst.«

    Sie ging zu einem wortlosen Schmollen über, das mit einem gelegentlichen theatralischen Schniefen gespickt war, geradeso, als hätte ich und nicht Ruprecht die nicht kompatible Libido. Nach einem halbherzigen Hallo? drückte ich das Gespräch schließlich weg.

    Schmollende Frauen sind mir ein Gräuel, selbst, wenn wir beste Freunde sind und sie so umwerfend aussehen wie Lucy. Groß, blond, langbeinig und mit funkelnd grünen Augen. Den überwiegenden Teil des Jahres düst sie in der Welt herum, um aus einer Jurte, einem Iglu oder Tipi die nächste Miss World herauszuzerren und den weltbesten Agenturen für eine dicke Provision anzubieten. Sie gilt als eine der Erfolgreichsten der Branche.

    Die übrigen Tage und Wochen treibt sie mich mit ihren Beziehungskisten zur Verzweiflung.

    Bis zu ihrem Autounfall im vorletzten Jahr hat sie selbst gemodelt, aber einbeinige Frauen mit Prothese sind auf dem Laufsteg, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht gerade der Renner, obgleich Lucy mit ihrer Unterschenkelprothese komischerweise weniger über ihre eigenen Füße stolpert als vorher. Im Übrigen tun Prothesen höllisch weh, wenn einem damit vors Schienbein getreten wird. Die lange Genesung und ihr Frust haben Lucy in der Verteilung ihrer Liebesgaben nicht eben zimperlich gemacht, und wenn ich eins schmerzvoll lernen musste in den letzten vierundzwanzig Monaten, dann das: Mitleid macht sie noch wütender, und ich habe nur zwei Schienbeine.

    Ich hatte von dem Crash nur ein paar Narben zurückbehalten. Gebrochene Rippen verheilten, Schnittwunden ebenfalls, und mit nur einer Niere zu leben ist kein Problem, solange die Zweite funktioniert. Der Geisterfahrer hatte uns mit seinem SUV frontal erwischt. Die Feuerwehr musste uns aus dem Wrack schneiden, aber Lucys zerquetschter Unterschenkel war nicht mehr zu retten gewesen. Meine Niere, in der nach dem Crash bis zum Heft mein Bowiemesser steckte, mit dem ich eben noch an einem Seepferdchen geschnitzt hatte, ebenfalls nicht mehr.

    Shit happens nun mal. Die Schicksalsgöttinnen pokern. Gewinnt Klotho, erwischt es deinen Nachbarn, bei Lachesis‘ Full House muss der Hund von gegenüber dran glauben, und sobald Atropos einen Royal Flash auf den Tisch legt, bist du an der Reihe.

    Grell leuchtende Scheinwerfer, die aus der Dunkelheit auf dich zurasen. Keine Chance mehr auszuweichen. Lucys Finger mussten sie einzeln vom Lenkrad lösen, so fest umklammerte sie es selbst noch in ihrer tiefen Bewusstlosigkeit.

    Der Geisterfahrer, ein übermüdeter Familienvater von zwei kleinen Kindern, starb noch am Unfallort.

    3

    Hollerbeck ist eine fünfzehntausend Seelen Stadt an der Oberweser zwischen Hannoversch Münden - wo laut Weserstein Fulda sich und Werra küssen - und Bad Karlshafen. Ein kleiner Touristenort zwischen Weser-Radweg und den bewaldeten Hügeln des Reinhardswaldes. Im Schatten der Sababurg.

    An dreihundertvierundsechzig Tagen ist der Reinhardswald ein Paradies für Mountainbiker, Wanderer und alle, die Ruhe und Entspannung suchen. An diesem Tag nicht. Als ich den Waldweg zu meinem Badesee hinunterbretterte, hörte ich diesmal die schrillen Schreie einer Frau. Alarmiert trat ich schneller in die Pedalen. In einem früheren Leben bin ich mal Polizist gewesen, und irgendwo steckte mir offenbar die Pflicht, helfend einzugreifen zu müssen noch immer im Blut. Möglicherweise habe ich aber auch von meinen Urvätern, den Höhlenmenschen, einfach nur ein Gen geerbt, das bei Frauengeschrei automatisch Halte durch, ich komme brüllt.

    Während ich in halsbrecherischem Tempo über Baumwurzeln und Steine holperte, analysierte mein Gehirn die Schreie als hysterisch und existenziell. Mal davon abgesehen, dass außer mir kaum jemand in dem Teich schwamm, hörten sie sich auch nicht so an, als wäre die Frau am Ertrinken. Oder über eine Baumwurzel gestolpert. Eher, als sei ihr der Sensenmann persönlich begegnet.

    Je länger sie schrie, desto steiler richteten sich meine Nackenhaare auf.

    Als ich die Lichtung vor dem See endlich erreichte, wusste ich auch warum und bremste so abrupt, dass das Hinterrad des Mountainbikes herumschleuderte und eine Wolke vermodertes Laub in die Luft schleuderte.

    Etwa im Mittelpunkt der Lichtung lagen nebeneinander zwei nackte Gestalten mit ausgebreiteten Armen und weit gespreizten Beinen. Auf den ersten Blick sah es aus, als wären sie gekreuzigt worden, aber dann sah ich die Stricke, mit denen Handgelenke und Fußknöchel an etwas Metallenem gefesselt waren, das aus dem Waldboden ragte. Zeltheringe möglicherweise. Am Ufer des Sees stand zumindest ein Zelt, und wer immer die beiden getötet hatte, hatte sich mit einem Messer Zutritt verschafft. Die Zeltplane war aufgeschlitzt. Geradezu zerfetzt.

    Ich lehnte das Mountainbike gegen einen umgestürzten Baum und ging langsam näher, obgleich sich alles in mir dagegen sträubte. Es waren nicht die ersten Leichen, die ich sah, schließlich hatte ich mit fünfzehn auf einem Frachtschiff angeheuert und war seitdem mit mehr als nur einer Wasserleiche konfrontiert worden, von den übel zugerichteten Verkehrstoten und Selbstmördern meiner Polizistenlaufbahn mal abgesehen.

    Dies hier war etwas anderes. Die beiden dort auf der Lichtung waren nackt, gefesselt, und die Schwärme dicker fetter Schweißfliegen, die vor allem ihre Köpfe und Lenden umsummten, deuteten auf Verletzungen hin, die ich eigentlich gar nicht sehen wollte. Es stank nach Verwesung, und wenn ich die Tierspuren am Boden richtig deutete, hatte sich schon der eine oder andere vierbeinige Waldbewohner an den Leichen gütlich getan.

    So ist es eben, das Gesetz der Natur. Fressen und gefressen werden. Nur sehen musste ich es nicht unbedingt.

    Helfen konnte den beiden ohnehin niemand mehr.

    Um den Tatort nicht zu verunreinigen, ging ich am Rand der Lichtung zu der Frau hinüber, die noch immer wie am Spieß schrie und sich in den Armen eines leichenblassen Jünglings wand. Ihr Sohn? Sie trug einen wadenlangen bunten Rock und eine rote Bluse, er Baggys und ein schmuddeliges T-Shirt. So wie es aussah, hatten sie Beeren gesucht, als sie unversehens über den Tod stolperten. Auf dem Waldboden lag ein umgekipptes Körbchen, aus dem der Inhalt gekullert war.

    Gegen das schrille Schreien versuchte ich den Jungen anzusprechen und herauszufinden, ob er schon die Polizei gerufen hatte, aber was er zurückbrüllte, hörte sich rumänisch oder albanisch und ziemlich aggressiv an. Ganz offensichtlich brachte er mich und die Leichen in einen kausalen Zusammenhang. Die schwarzen Haare hingen ihm in seine schwarzen blitzenden Augen, und sein Körper zuckte, als stünde er unmittelbar davor, sich auf mich zu stürzen. Oder wegzulaufen, so ganz konnte ich es nicht deuten.

    Also wanderte ich am Waldrand wieder ein Stück zurück, aus dem Wind und dem Verwesungsgestank heraus, und tippte die 110 in mein Smartphone. Ich beschrieb die Situation und den Weg und versprach zu warten. Für die schreiende Frau bat ich um einen Krankenwagen. Ihr Schreien klang zwar bereits heiserer, und irgendwann hätte sich das Problem von selbst gelöst, aber eine Beruhigungsspritze würde ihre Stimmbänder und unsere Ohren schonen.

    Ich versuchte dem Jungen begreiflich zu machen, dass er seine Mutter auf einen Baumstumpf setzen und ihr den Kopf zwischen die Knie pressen sollte, weil sie zunehmend zu hyperventilieren begann. Ich machte es ihnen pantomimisch sogar vor, wobei ich mir wie ein Idiot vorkam, drang aber zu keinem von beiden durch. Er blickte nur finster drohend zu mir hinüber, und als ich einen zweiten Versuch wagte, mich ihnen zu nähern, warf seine Mutter den Kopf zurück und kreischte panisch. Das Kopftuch über den schwarzen Haaren, die ihr lang und strähnig den Rücken hinunter hingen, rutschte ihr bei der Gelegenheit in den Nacken. Sie kreischte noch lauter.

    So wie es aussah, hielten mich beide tatsächlich für den Mörder.

    Es dauerte eine Weile, bis die Polizei, zwei Mann stark, in ihrem altersschwachen Streifenwagen den Forstweg hinuntergeholpert kam, gefolgt von einem Rettungswagen mit zwei Sanitätern. Es gibt noch einen zweiten Streifenwagen in unserer kleinen Stadt, aber der steht mit einem Kolbenfresser auf dem Hof der Polizeiwache. Mit dem früheren Dienststellenleiter war ich locker befreundet gewesen. Nach der Bürgermeisterwahl hatte er gehen müssen, und zur Neubesetzung hatte ich nie Kontakt aufgenommen.

    Ich weiß nicht, wer tiefer durchatmete, als die schreiende Frau von den Rettungssanitätern mit sanfter Gewalt in den Wagen geschoben wurde und die Türen zuklappten: ihr Sohn oder ich. Innen kreischte sie zwar noch eine Weile heiser weiter, aber doch sehr gedämpft. Dann, plötzlich, trat Ruhe ein. Die Spritze wirkte.

    Die beiden Polizisten näherten sich den Leichen ebenfalls nur auf einige Meter, bevor einer zum Funkgerät griff und Verstärkung anforderte. Der Ranghöhere, den ich für unseren neuen Dienststellenleiter hielt, war ein südländisch aussehender Typ. Klein, untersetzt und mit stechendem Blick. Sein Gehilfe, den Schulterklappen nach ein Polizeimeisteranwärter, war groß, schlaksig, mit roten Haaren. Pat und Patachon.

    Ab und an warfen sie misstrauische Blicke in meine Richtung.

    Dem kleinen Rumänen oder Albaner hatte offenbar allein der Anblick ihrer Uniformen den Schneid abgekauft. Wahrscheinlich hätte er längst die Beine unter die Arme genommen, wenn da nicht seine Mutter im Rettungswagen gewesen wäre. Ich hoffte für ihn, dass seine Papiere in Ordnung waren.

    Nach und nach traf Verstärkung ein, von wo auch immer. Die Spurensicherung rumpelte in einem weißen Sprinter über den Weg, Polizisten aus Hofgeismar hatten sich einen Jeep Cherokee besorgt. Befehle hallten durch den Reinhardswald.

    Ein Frischling mit nur einem Streifen auf den Schulterstücken stapfte mutig zu den Leichen hinüber und starrte sie an. Er schaffte es gerade noch, sich umzudrehen, bevor er sein Frühstück ins Laub spuckte. Einer von der Spurensicherung brüllte vor Wut die Eichhörnchen von den Bäumen, während der Frischling schlotternd von der Lichtung wankte.

    Während die Leichen höchstwahrscheinlich noch ein paar Stunden dort ausharren mussten, wurden der Junge, seine Mutter und ich zügig abtransportiert. Gott sei Dank kannte ich einen der zur Verstärkung angerückten Beamten aus meiner aktiven Zeit und überredete ihn, mein Mountainbike hinten in seine Grüne Minna zu packen und mit runter nach Hollerbeck zu nehmen. Ein Freundschaftsdienst von Bulle zu Bulle, auch wenn ich nur ein Ex war und er unwillig in seinen Bart grummelte.

    Sollte der Spurensicherer davon erfahren, der eben noch dem armen Frischling die Hölle heißgemacht hatte, traf ihn mit Sicherheit der Schlag.

    4

    Da Mörder nicht ungern an den Tatort zurückkehren, um die Aktionen der Polizei aus allernächster Nähe zu beobachten oder gleich dableiben, um diese sogar selbst rufen, hätte es mich nicht wundern dürfen, den Rest des Tages auf einer Polizeistation zu verbringen. Sie konfiszierten Handy und Ausweis und nahmen mir die Fingerabdrücke ab, während meine Daten wohl durch alle verfügbaren Datenbanken gejagt wurden.

    Währenddessen wurde ich in ein karges Verhörzimmer gebracht und vor einen laufenden Rekorder gesetzt. Sie nannten es eine Zeugenbefragung, aber den Fragen nach war es ein ausgewachsenes Verhör, obgleich mein Verhörteam lediglich aus den beiden bestand, die zuerst am Tatort aufgetaucht waren. Dem neuen Dienststellenleiter und seinem Gehilfen. Der kleine untersetzte Polizeihauptmeister, Pat, hieß Santos, der lange schlaksige Polizeianwärter mit den roten Haaren und den weit aufgerissenen Augen nicht Patachon, sondern Bremersson.

    Santos war derjenige, der mich befragte, und wenn sein Stammbaum tatsächlich spanische Wurzeln aufwies, lagen die mit Sicherheit schon ein bis drei Generationen zurück. Er sprach absolut akzentfrei, doch mit der deutlichen Warnung, dass ich auf der Liste seiner Verdächtigen ganz weit oben rangierte. Zumindest so lange, bis ich ihm das Gegenteil bewies, was unmöglich war, weil keiner von uns die genaue Tatzeit kannte.

    Als sein iPhone das erste Mal klingelte und er das Ergebnis des Abgleichs meiner Fingerabdrücke erfuhr – Achtung Ex-Bulle – schien er geneigt, die Angelegenheit etwas gelassener anzugehen. Allerdings nur vorübergehend.

    Eine halbe Stunde später dudelte sein iPhone erneut, und wer immer ihn da anrief, bewirkte, dass er sich unwillkürlich von dem Stuhl erhob, auf dem er verkehrt herum gesessen hatte. Er hörte stumm und ungläubig zu. Als das Telefonat zu Ende war, ließ er sich auf seinen Stuhl zurückfallen und starrte eine ganze Weile auf den Boden hinter der Stuhllehne, auf der er sich abstürzte. Der Polizeianwärter an der Wand sah aus, als würde er im nächsten Moment vor Neugier tot umfallen.

    Als sich Santos wieder soweit gefasst hatte, das Verhör weiterzuführen, ging er zu einem Angriff über, der mich vollkommen verblüffte und in Überlegungen stürzte, woher ich auf die Schnelle einen Anwalt bekam. So wie es aussah, würde ich lebenslänglich bekommen, mit der Option auf eine anschließende Sicherheitsverwahrung. Während mir noch von seiner ersten Angriffswelle der Schweiß auf der Stirn stand, startete er auch schon die nächste.

    Außer meiner Wenigkeit schien es auf der ganzen Welt keine weiteren Mörderkandidaten zu geben: Komm schon mein Junge, gib die Morde einfach zu, dann hast du es hinter dir und die nächsten zwanzig Jahre endlich deine Ruhe.

    Santos Deal für mein Geständnis: keine Arschficker, keine arische Brüderschaft, nur ich und meine sichere Zelle.

    Eine Vorstellung, die mir nach zweistündigem Dauerbeschuss ziemlich verlockend erschien. Wozu sich quälen lassen, wenn ein Rundum-Sorglos-Paket mit Vollverpflegung lockte? Doch dann streifte mich durch das vorhanglose kleine Fenster des Verhörraums ein flüchtiger Sonnenstrahl, ich dachte an mein Mountainbike und an mein Schiff und sagte laut und deutlich: »Nein, tut mir leid, Jungs, ihr habt den Falschen erwischt.«

    Storys wie diese beginnen in der Regel mit Es war ein schöner warmer Sommertag, als …, und dann nimmt ein Unheil seinen Lauf, das man sein Lebtag nicht mehr vergisst. In meinem Fall allerdings nahm dieses Unheil gegen siebzehn Uhr ein abruptes Ende, allerdings nur, um gegen ein neues Unheil eingetauscht zu werden.

    Ohne Vorwarnung wurde die Tür zum Verhörraum aufgerissen, worauf ein hochgewachsener Mann mit finsterer Miene hereinspazierte. Maik Willem Crispin, mein Bruder, das ehrenwerte Mitglied des Bundestages und Staatssekretär im Innenministerium. Seit unserem letzten Kontakt vor zwei Jahren mochte er um den Bauch herum ein paar Biere zugelegt haben, sah ansonsten aber aus wie immer. Groß, breit, mit schütteren Haaren. Der schwarze Anzug kombiniert mit einem diagonal gestreiften Schlips in Deutschlandfarben: schwarz, rot, gold. Sein Markenzeichen und eins der beliebtesten Kameramotive im Fernsehen.

    Der Schlips war lächerlich, hatte Maik Willems Wiedererkennungswert jedoch rapide gesteigert.

    »Gehen wir«, war alles, was er sagte, während er dem Polizeihauptmeister einen Ausweis unter die Nase hielt. Da mich Santos mit einem Protest ziehen ließ, der so halbherzig war, dass er niemanden hinters Licht führen konnte, ging ich davon aus, dass er im Vorfeld über diese Befreiungsaktion informiert worden war. Schätzungsweise bei seinem zweiten Handygespräch, warum auch immer. Jedenfalls war er ein lausiger Schauspieler, noch schlechter als ich selbst.

    Polizeianwärter Bremersson hingegen schien nicht eingeweiht. Ihm quollen vor gerechter Empörung beinahe die Augen aus dem Kopf. Einen Moment lang sah es so aus, als wolle er sich tatsächlich auf meinen Bruder stürzen, um ihm die Beute wieder zu entreißen.

    5

    Normalerweise ziehe ich es vor, meinen Schicksalswagen selbst zu lenken, und der Letzte, dem ich die Zügel in die Hand gegen würde, wäre Maik Willem, doch in diesem Fall wollte ich nur eins: raus hier. Ich saß seit über acht Stunden auf diesem verdammten Polizeirevier fest, und man hatte mir nicht einmal gestattet, meinem Boss Max zu sagen, dass er sich für die Charterfahrt am Abend höchstwahrscheinlich einen anderen Schiffsführer würde suchen müssen. Möglicherweise hatte ich nun keinen Job mehr, was ich Max nicht einmal würde verdenken können. Noch im Flur des Reviers rief ich ihn kurz an, ließ widerspruchslos seinen Frust über mich ergehen, und versprach, so schnell wie möglich zum Anleger zu fahren.

    Maik Willem hörte mir mit skeptischer Miene zu.

    »Oder willst du mich nur in ein Hochsicherheitsgefängnis überführen?«, frotzelte ich, als ich das Handy wegsteckte und mich ihm zuwandte.

    »Sehr witzig. Kommst du nun mit oder willst du hier Asyl beantragen? Wir müssen reden, und zwar gleich.«

    Bei Licht besehen, hat Maik Willem viel von einem Psychopathen. Erfolgsorientiert, skrupellos, narzisstisch. Seine Schwester Lily und er sind meine Halbgeschwister und entstammen der ersten Ehe meines Vaters mit einer Texanerin, die unmittelbar nach Lilys Geburt in die Heimat zurück verschwand, was meinen Vater, einen überbeschäftigten Landarzt, bewog, sich umgehend nach Ersatz umzusehen.

    Er fand meine Mutter, die ihm ein drittes Kind schenkte: mich.

    Während Maik Willem Karriere machte und ich meine aufgab, spritzte sich Lily auf den Toiletten des Frankfurter Hauptbahnhofs Heroin. Anfangs ließ Maik Willem sie regelmäßig einfangen und zum Entzug in irgendeine noble Klinik einweisen, aber nachdem sie ihren Nachnahmen in Miller änderte - nach ihrer leiblichen Mutter, von der sie nicht einmal ein Foto besaß - und zumindest namentlich niemand die Drogensüchtige mit dem Karrierepolitiker in Verbindung bringen konnte, lässt er sie zufrieden.

    Zweimal stand sie vor meiner Tür und zweimal war sie am nächsten Morgen mit meiner Brieftasche verschwunden. Seitdem herrscht Schweigen im Walde. Schwierig, jemandem zu helfen, der nur vortäuscht, Hilfe zu wollen.

    Zum Reden setzten mein Halbbruder und ich uns auf eine Bank am Rande der Grünanlage, keine fünf Meter von der Bundesstraße entfernt, auf der sich die Lkws Stoßstange an Stoßstange durch die kleine Stadt schieben. Wir kämpfen seit Jahren für eine Umgehungsstraße, aber Maik Willem kam der Krach gerade recht. Seit dem NSA-Lauschangriff traut er handelsüblichen Handys und geschlossenen Räumen nicht mehr, und was er zu sagen hatte, schien für fremde Ohren nicht geeignet.

    Einer unserer wenigen gemeinsamen Charakterzüge ist der Mangel an diplomatischem Geschick, und so ging mein Bruder dann auch gleich zu einem Frontalangriff über.

    »Hast du was mit den Morden zu tun?« Ohne mich anzusehen, wickelte er ein Hustenbonbon aus und schob es sich zwischen die Zähne.

    Ich schwankte zwischen zwei Reaktionen. Ich konnte ihm in die Fresse hauen und hoffen, dass er an einem verschluckten Hustenbonbon erstickte, oder ich konnte ihn von der Bank zerren und unter die Räder des Sattelschleppers schubsen, der gerade um die Ecke bog.

    »Ich nicht. Du?«

    Er warf mir einen seltsamen Blick zu und überging meine Gegenfrage. »Ich werte das als ein Nein?«

    »Was willst du, Maik Willem? Wie du weißt, fange ich morgens zum Frühstück schon an, meine Mitmenschen umzubringen.«

    Er sah mich an, als wollte er erwidern, von mir sei alles zu erwarten, überlegte es sich dann aber und

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